Als meine neue junge Kollegin letzte Woche zum Nachtdienst kam, machten wir wie üblich eine Übergabe. Ich beschrieb ihr, welche Vorkommnisse es gab, wer so da war, und sagte schließlich »In der 3 liegt Frau C., die ist gerade in der Eröffnungsphase...« Sie sah mich ungläubig an. »Frau C.? Die war doch erst vor zwei Monaten hier, wie kann die schon wieder schwanger sein?« Ich lachte. »Man merkt, dass du noch nicht lange bei uns bist. Die C's sind unsere Stammkunden.«
In unserer Stadt gibt es zwei große ausländische Clans. Die T's und die C's. Nennen wir sie hier, der Einfachheit halber, die Montagues und die Capulets. Im Computer finden sich zu beiden Familien bestimmt 50 Patientinnen, und allein bei den Capulets war ich bestimmt schon bei zwanzig Geburten dabei.
»Kennst du mich nicht mehr?«, rufen die Frauen immer, wenn sie mich auf dem Gang erspähen, und umarmen mich herzlich. »Du hast das zweite Kind meiner Cousine geholt« – »Äh. Echt? Ja, stimmt!« Es kommen immer alle mit ins Krankenhaus, von der Uroma bis zum Kleinkind. Unser Wartebereich hat dann was von einem Kino, und es ist immer ausverkauft, egal ob nachmittags oder die Spätvorstellung.
Die Capulets sind Gebär-Profis, denen muss man nichts mehr erklären. Die wissen, wo die Kreißsäle sind, wo es zur Station geht, auf welchem Stockwerk man nachts um 3 noch was zu essen bekommt, und dass wir – sorry sorry – den Schrank mit den Windeln nicht mehr bis oben hin vollmachen, sondern Windeln nur im 5er Set ausgeben, weil sich viele werdende Eltern früher gern mit den Gratis-Windeln für zuhause eingedeckt haben.
Wenn es darum geht, wer die jeweilige Schwangere mit in den Kreißsaal begleiten darf, melden sich immer mindestens fünf, obwohl wir eigentlich ein Limit von zwei Personen haben. »Aber ich bin doch die Großcousine!«, flehen sie dann. Na gut. Wie die sieben Zwerge umsorgen die Frauen das schwangere Schneewittchen: Da wird getupft, Wasser geholt. So muss das früher gewesen sein – alle für einen, einer für alle.
Einmal hatten wir im Kreißsaal 2 eine promovierte Richterin liegen, sie war offensichtlich genervt von dem Halligalli nebenan und grummelte, ob das denn erlaubt sei, dass so viele hier wären... ich versuchte ihr zu erklären, dass es eben kulturelle Unterschiede gebe, was die Privatheit einer Geburt angehe. Intim bleibt bei den Capulets tatsächlich nichts: Sobald das Baby abgenabelt ist, wird es der Mutter von der Schwester, der Oma, der Großcousine – »darf ich schnell zeigen?« – aus der Hand genommen und König-der-Löwen-artig dem Rest im Wartebereich präsentiert. Da ist nix mit Bonding und Ruhe, undenkbar, einen Tag, ach was, eine Stunde zu warten, bevor man tränenreich gratuliert. Diese Kompromisslosigkeit, dieser unbedingte Wille, das neue Familienmitglied zu feiern als wäre es das allererste, ist etwas sehr besonderes.
Eine Episode mit den Capulets ist aber unvergesslich: Die Schwester von der Frau neulich bekam wenige Monate zuvor ein Kind. Das Kind hatte sich noch im Bauch mehrmals gedreht, und als sie kurz vor Termin bei uns war, lag das Baby quer im Bauch. Das ist nicht so cool. Bei einer Querlage ist der Geburtskanal frei - wenn dann ein Arm, Fuß oder die Nabelschnur dorthin rutscht und eingeklemmt wird, kann das gefährlich werden. Wir behielten die Frau vorsichtshalber da.
Sie sollte sich in einem Stationszimmer ausruhen, aber auf jeden Fall sofort Bescheid sagen, wenn sie Wehen bekäme. Später am Tag kam ein Anruf von der Schwangerenstation. Frau Capulet hat ihr Kind bekommen! Allein! What? Die Krankenschwester am Telefon war völlig aufgelöst, wir rasten nach oben. »Ich, ich ..... kann nichts dafür. Sie hat erst das Knöpfchen gedrückt, als das Kind schon da war«, empfing sie uns hyperventilierend.
Im Zimmer dann Frau Capulet, mit ihrer Schwester, selig grinsend, Baby im Arm, Riesensauerei im Bett. Dem Baby fehlte zum Glück nix, die Mutter musste leicht genäht werden, war aber nicht tragisch.. »Sie sollten doch Bescheid sagen, damit sie nicht allein sind.« – »Aber ich war ja nicht allein! Meine Schwester war doch da.« – »Klar, und deswegen sind sie mit einer Querlage ins Krankenhaus gegangen, damit sich dann ihre Schwester um sie kümmert«, schimpfte ich im Spaß mit ihr. »Wie haben Sie das überhaupt hingekriegt?«, fragte meine Kollegin fassungslos.
»Na, das Baby lag auf einmal in der Hose!« – Ich lachte. »Nach dem Niesen oder?« Eine Welle der Erleichterung erfasste den Raum, das hätte auch anders ausgehen können.
Ich weiß nicht genau über die Lebensumstände der Capulets Bescheid, aber sie sind bettelarm, zumindest ein Teil von ihnen lebt auf der Straße: Einmal hat mir eine der Frauen als Adresse »Hauptbahnhof« genannt. Vielleicht war eine Geburt in einem weichen, warmen Bett tatsächlich schon mehr als die Frau erwartet hatte.
Unser Chef fand die Geschichte naturgemäß nicht so lustig.
Ein paar Wochen später erreichte uns ein Süßigkeiten-Korb-Zellophan-Wahnsinn. So arm diese Menschen sind, wenn es um den Nachwuchs geht, wird noch der letzte Cent investiert, nur um sich zu bedanken. Wie rührend. Im Korb steckte eine Karte mit einem Foto des Babys. Es trug noch den Klinikstrampler, anscheinend hatten sie sich ein Souvenir mitgenommen. Noch viel kurioser war aber das Motiv: Das Baby hatte eine grotesk große Panzer-Goldkette um, an der ein Schnuller hing.
Saluma Princess Chanel C. hieß der kleine Querkopf und ihm stand bestimmt eine große Karriere als Rapperin bevor.