Fünfzig Kinder können sehr laut sein. Diese einfache Erkenntnis steht am Anfang eines Besuchs im Kindergarten. Mit den eigenen Erinnerungen aus dieser Zeit, als es noch um Singen, Basteln und vor allem das Still-sitzen-Üben für die Schule ging, hat die Pädagogik heute nur noch wenig gemein. Die Kinder sollen sich frei entwickeln, spielerisch lernen, was nicht immer ganz reibungslos geht. Deshalb gehören zu den wichtigsten Utensilien in diesen Räumen, neben neuen Methoden der Erziehung: kleine Kältekissen. Denn frühkindliche Prägung hat auch was mit Beulen und blauen Flecken zu tun.
Die Kita am Roter-Turm-Platz, die für Drei- bis Sechsjährige eine
Ganztagesbetreuung anbietet, erstreckt sich über Garten, Erdgeschoss und ersten Stock eines Neubaus im Münchner Stadtteil Untersendling. Sie liegt in einem Viertel, das weder als reich oder schick noch als sozial schwach bezeichnet werden kann, in dem sich junge Familien, alteingesessene Münchner und Migranten mischen. Manche der Kinder hier leben in Großfamilien und haben noch nie eine Gutenachtgeschichte erzählt bekommen, andere mögen keine Fischstäbchen, weil sie von zu Hause nur frischen Fisch und Biokost kennen. Die eine Mutter arbeitet in einem Mini-Job für 400 Euro, die andere hat viel Zeit für sich und Yoga. Beim Mittagessen erzählt ein Junge: »Wir bauen ein Haus in Italien, das ist so groß bis nach Amerika.« Ein anderer, der zur Brotzeit nur einen trockenen Sesamring mitbekommen hat, sagt: »Ich war noch nie am Meer.« Max hat wieder geschubst und geboxt, Rebecca denkt, dass Gurkensalat dick macht; ein indischer Junge hält eine kleine Schmuck-Paillette für eine CD, die nur noch wachsen muss. Eine vietnamesische Mutter ist aufgebracht, denn der Sohn einer türkischen Familie hat ihre Tochter geküsst. Das sind nur ein paar kleine Anekdoten am Rande des Alltags in der Kita, in der sich den fünf Erzieherinnen aber noch ganz andere Aufgaben stellen: Wie schaffen so unterschiedliche Kinder den Schritt vom Elternhaus in die kleine Gesellschaft des Kindergartens und in die Welt?
»Die Bedeutung der frühen Jahre für die Entwicklung eines Kindes wurde lange vernachlässigt«, sagt der Erziehungswissenschaft-ler Wolfgang Tietze. Das zeigte etwa die PISA-Studie, in der die Bildung in Deutschland bis zum fünften Lebensjahr besonders schlecht abschnitt. Als im Jahr 2004 die OECD-Kommission deutsche Kindergärten besuchte, galten diese im europäischen Vergleich noch als »anspruchslos«. Daraufhin gaben die meisten Länder erstmals einen ausführlichen Bildungs- und Entwicklungsplan für städtische Kitas in Auftrag. Aber Erzieherinnen wie die am Roter-Turm-Platz haben sich ohnehin längst an soziale Veränderungen anpassen müssen, ohne dabei mehr Personal, Geld oder gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen. Nach einer vierjährigen Ausbildung erhält eine Erzieherin ein Anfangsgehalt von etwa 1200 Euro netto, Gehaltserhöhungen und Aufstiegschancen sind mäßig. »Gleichzeitig wird die Bildung der Kinder mit Erwartungen aufgeladen, als sei sie der Hebel zur Beseitigung aller Ungleichheit«, sagt Donata Elschenbroich, Kinderforscherin am Deutschen Jugendinstitut.
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Als Andrea mit drei Jahren in den Kindergarten kam, sprach sie nur Serbisch. Sie rannte durchs Haus, wollte weg, nach Hause zu ihrer Mutter, bis sie nach Tagen nur noch heulend im Sandkasten saß. Sechs Monate später hatte Andrea im Kindergarten so gut Deutsch gelernt, als sei es ihre Muttersprache. Heute, im Alter von sechs Jahren, kann sie sich an diese Zeit nicht mehr erinnern. »Ich liebe den Kindergarten, ich kann gar nicht genug davon bekommen. Am liebsten möchte ich mal Kindergärtnerin werden«, sagt sie und setzt sich auf dem kleinen Sofa vor dem Glastisch ganz aufrecht hin. Heute hat sie zwar ein Junge geärgert, der zu ihr sagte, sie sei doch »nur Marmelade«. Aber Andrea lacht strahlend und erzählt, was sie im Kindergarten alles gelernt hat, dass sie sich für Ägypten interessiert und sich gerne umzieht und verkleidet. Ihre Mutter, Jelena Stevcic, schneidet in der Küche der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung einen Fertigkuchen an und kocht serbischen Kaffee. Dann sagt Andrea: Sie würde ja nie weinen, aber manchmal weint Mama.
Jelena Stevcic holt ihre Tochter nachmittags gegen fünf Uhr aus dem Kindergarten ab, nachdem sie in einer Hallhuber-Filiale ausgewählten Kunden Kleider vorgeführt hat und noch kurz einkaufen war. Andreas Vater, der als Chauffeur für Prominente arbeitet, kommt oft erst spät nach Hause. Andrea zieht sich nach dem Kindergarten meist in ihr kleines Zimmer zurück, in dem nur ein Fernseher und eine Schlafcouch stehen. Auch jetzt hört man den Fernseher, während Jelena Stevcic erzählt, dass sie sich in Deutschland einsam und fremd fühle, auch der Modeljob sei ihr fremd. Bevor sie wegen ihres Mannes nach München kam, studierte sie Jura in Belgrad. In diesem Herbst schreibt sie die letzten Prüfungen, für die sie abends lernt, die aber hier nicht anerkannt werden. Sie ist nur froh, dass Andrea einen guten Start in Deutschland hatte. »Ich hatte Glück mit dem Kindergarten.«
Im Jahr bekommt die Kita 150 Anmeldungen, aber nur zwanzig Kinder können aufgenommen werden. Die meisten Eltern melden sich vorsichtshalber in zwei bis drei Kindergärten zugleich an, und manche Mütter haben zuvor schon zwanzig angesehen. Die Erfahrungen klingen bizarr: »In einem Kindergartewar nur selbst gebasteltes Spielzeug aus natürlichen Materialien erlaubt, Bilderbücher waren verboten«, erzählt eine Mutter; eine andere sagt: »In einer privaten Initiative musste man sich dem Elternrat vorstellen, dann wurde abgestimmt, ob man ins Konzept passt.« Einen Platz zu bekommen sei nicht schwer, heißt es immer wieder; schwer sei nur, eine gute Einrichtung zu finden. Städtische und private Kindergärten sowie freie Elterninitiativen decken in München den Bedarf bei der Betreuung der Drei- bis Sechsjährigen ab. Für die Unter-Dreijährigen sind die Betreuungsmöglichkeiten bekanntlich unzureichend.
»Bei uns ist jeder Tag anders«, sagt Anke Richter, »denn mit den Kindern lernen wir jeden Tag dazu.« Wenn sie nach ihrem morgendlichen Jogging und einer Autofahrt von dreißig Kilometern gegen acht Uhr im Kindergarten ankommt, gibt es zwar ein Konzept, wie der Tag im Wechsel zwischen Bewegung, Lernen, Ruhephasen verläuft, aber das kann sich auch jederzeit ändern. Ein Kind fragt: »Sind im Kopf Knochen?«, schon wird in einer spontanen Lernstunde das anatomische Modell des Menschen erklärt. »Wenn diese Kinder groß sind, werden sie nicht mehr in einer Gesellschaft leben, in der man vierzig Jahre in einem Job arbeitet. Wenn sie früh gelernt haben, offen für neue Situationen zu sein, wird ihnen das helfen.«
Als Anke Richter vor acht Jahren die Leitung der Kita übernahm, herrschte noch das starre System von zwei Gruppen mit jeweils 25 Kindern nach Stundenplan, das den Erzieherinnen die Arbeit erleichterte. Sie führte mit ihrem vierköpfigen Team die pädagogische Idee des »offenen Hauses« ein, in dem die Kinder entscheiden, ob sie nun lieber turnen oder basteln, mit wem, wo oder was sie spielen wollen. Die Räume heißen »Sonnenzimmer« oder »Regenbogenland«; es gibt ein Experimentierzimmer, eine Werkstatt. An den Stufen zum Turnraum kleben Zahlen, so lernen die Kinder ganz nebenbei das Zählen, ein Wasserplanschbecken vermittelt Grundkenntnisse der Physik.
Die vitale 40-Jährige wundert sich selbst, mit welchem Engagement ihr Team arbeitet, das nur manchmal ein lautes Wort verliert sie sind Erzieherinnen aus Leidenschaft. Dabei wollte Anke Richter, als sie 1989 aus der ehemaligen DDR über Ungarn auswanderte, nie wieder in einem Kindergarten arbeiten. Die Erziehung nach Plan und Staats-ideologie hatte ihr die Freude am Beruf genommen. In Westdeutschland dagegen herrschte damals in Abgrenzung zur sozialistischen Kollektiverziehung eher die Vorstellung, Kindererziehung sei die private Sache der Eltern, vor allem der Mütter. Kindergärten hatten lange den Ruf von »Verwahranstalten« für Kinder, deren Mütter arbeiten gehen mussten, was sich nur in den Großstädten langsam änderte. Erst mit dem Mauerfall kam Bewegung in die gesamtdeutsche Kindererziehung; Kitas etablierten sich als pädagogisch und sozial sinnvolle Einrichtungen, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern.
Wenn Julia Zernial andere Kinder in Olivias Alter sieht, »die sich, am
Daumen lutschend, hinter der Mutter verstecken«, weiß sie, dass es kein Fehler war, Olivia schon vor der Kita in einer Kinderkrippe anzumelden. Olivia ist jetzt drei Jahre alt, selbstbewusst und offen. Im Kindergarten blieb sie von Anfang an gern, was bei Gleichaltrigen oft zwei Wochen lang dauert und mit viel Händchenhalten und Notfallanrufen bei den Eltern verbunden ist. Olivia hat ihren eigenen Kopf; nicht jeder darf ihr den Zopf binden oder die Schaufel wegnehmen. Nach einer rosa Kleidungsphase ist ihre Lieblingsfarbe nun Türkis. Was aber nicht nur daran liegt, dass die Eltern Modedesigner sind. »Olivia hat einige Spleens«, sagt ihre Mutter, »momentan verpackt sie alles in Tüten, Beutel und Taschen.« Olivias Puppenwagen sehe aus, als hätte ein Obdachloser sein ganzes Hab und Gut dabei.
Olivia ist vorsichtig. Wenn größere Kinder Trampolin springen, dann
beobachtet sie die Situation erst, bevor sie es selbst wagt. Und wenn es im Kindergarten mal wieder »Zickenstress« zwischen den gleichaltrigen Mädchen gibt, dann wartet Olivia, streicht sich die selbst geschnittenen Haare aus dem Gesicht und isst ganz ruhig ihren Joghurt, denn sie weiß, dass sich die Wogen schon wieder glätten werden. Kinderpsychologen würden das soziale Kompetenz nennen. Vielleicht ist es aber nur eine einfache Kindergarten-Erfahrung: dass in einer Stunde wieder alles ganz anders sein kann.
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Es gibt allerdings Eltern, die dem Lernprozess im Kindergarten nicht
vertrauen. Sie karren schon ihre Kleinkinder im Buggy zum Englischkurs oder zur »Physikgruppe für Vierjährige«. Denn die frühkindliche Bildung ist wie nie zuvor in den gesellschaftlichen und politischen Fokus gerückt. Und schon scheinen freies Spielen und etwas Bullerbü-Idylle viel zu einfach und überholt. Lernen von Sprachen und Naturwissenschaften soll jetzt das Beste für das Kind sein. Statt auf frühe Sozialisation im Kindergarten, die angesichts der urbanen Kleinfamilien ohne kindgerechte Nachbarschaft
notwendig erschien, setzt man nun auf die Erkenntnisse der Hirnforschung. Aber wie viel effektives Training braucht ein Kind, und was soll von der Kindheit übrig bleiben? Diese Debatte werden wohl bald auch wirtschaftliche Fachkräfte wie die Unternehmensberater von McKinsey führen, die bereits eine Kindergartenpflicht gefordert haben.
Inzwischen gibt es zwar in fast allen Bundesländern ein gesetzliches Recht auf einen Kita-Platz. Aber die Gebühren schwanken je nach Gegend und Einkommen, so eine Studie der Zeitschrift Eltern, zwischen 0 und 4000 Euro für einen jährlichen Halbtagesplatz. Und wenn die Gebühren bei einem geringen Einkommen zu hoch sind, bleiben manche Kinder einfach zu Hause. David hat um 16 Uhr einen langen Tag hinter sich: Im Turnraum Hula-Hoop, dann malen, eine Erzieherin liest eine Segelschiffgeschichte vor und fragt schwierige Wörter nach (»Navigation« ist natürlich ein Gerät im Auto!). Zum Essen Lasagne und Wackelpudding, nachmittags etwas Zählen und Geografie, im Garten spielen und rennen. Der Sechsjährige freut sich nun schon auf die Schule: »Da lernt man Minus, Plus-Rechnen kann ich schon!« Was er später einmal werden will? Fußballer oder Detektiv!
Als die Mutter ihn und seinen kleineren Bruder Leon abholt, ist David noch lange nicht müde; außerdem ist der Vater heute dabei. Seitdem die Eltern getrennt leben, sieht er ihn nur selten. David rast um den Spielplatz, sein Vater zählt die Runden. Leon klettert. Und Silke Dirksen hat Zeit zu erzählen, von dem »Abendwahnsinn«, wie sie es nennt: David sei im Kindergarten anders als zu Hause. Dort gelte er als offen, aufgeweckt, und natürlich ist er schlau. Aber abends werde er dann hyperaktiv und streite oft mit seinem Bruder. »Nicht einfach, wenn man ständig alles allein machen muss«; das war schon in der Beziehung so und auch einer der Trennungsgründe. Momentan arbeitet sie als Kurierfahrerin auf 400-Euro-Basis, in dem Job ist sie wenigstens zeitlich flexibel, kann ihre Kinder pünktlich abholen und hat noch etwas Zeit. Die Aufmerksamkeit, die David im Kindergarten bekam, hat sie sehr entlastet. Aber wie wird das nun in der Schule werden?
Nach einer Zeit in einem ganz normalen städtischen Kindergarten ist eine Erkenntnis neben vielen: Man kann Anke Richter und ihr Team nur bewundern. Oder wie der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tietze es formuliert: »Ein Kindergarten ist nur so gut wie die Erzieherinnen.« Als Anke Richter kürzlich einen Kommentar im Radio hörte, dass die »Basteltanten« nun mehr Geld wollen, wurde sie wütend. »Vielleicht werden sich viele Kinder nicht bewusst daran erinnern, was sie hier gelernt haben. Aber vielleicht erinnern sie sich irgendwann an etwas anderes: an einige glückliche Momente in ihrer
Kindheit.«
Stephanie Fuessenich und Urban Zintel (Fotos)