In diesem Duell geht es nicht um gut und böse, denn weder ein kranker Mann noch ein kleines Mädchen eignen sich für die Schurkenrolle. Da wäre zum einen der Schauspieler Michael J. Fox, der seine Auftritte im Fernsehen nutzt, um der Öffentlichkeit zu zeigen, was die Parkinson-Krankheit aus ihm gemacht hat. Schwankend und zitternd wirbt Fox für die Stammzellforschung mit menschlichen Embryos, die eines Tages Therapien hervorbringen soll, auch für Parkinsonkranke.
Seine Gegenspielerin heißt Mikayla und ist fünf Jahre alt. Bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus wurde sie amerikanischen Abgeordneten präsentiert, die argumentierten, Embryos seien noch keine Menschen, man könne sie getrost für die Forschung nutzen. Mikayla überreichte den Politikern ein Bild. Darauf waren ein paar Blasen zu sehen, die zusammen eine Kugel formen – ein Klumpen aus Zellen, die Urform menschlichen Lebens. »Das bin ich«, sagte das Mädchen. Die große Kontroverse rankt sich nur vordergründig um Mikayla und Michael J. Fox, im Kern geht es um rund 400000 Embryos, die bei minus 196 Grad Celsius in den Kühleinrichtungen amerikanischer Fruchtbarkeitskliniken lagern: Sie sind übrig geblieben bei künstlichen Befruchtungen im ganzen Land – verwaiste Zellklumpen, deren leibliche Eltern keine Kinder mehr wollen. Was soll mit ihnen geschehen? Die einen sagen: Die Embryos sind nun einmal da und werden nie im Bauch ihrer Mütter zu Babys reifen. Also dürfen Wissenschaftler mit ihnen forschen. Die anderen meinen: Wenn die leiblichen Eltern die Embryos nicht haben wollen, müssen wir andere Eltern finden, um die tiefgefrorene menschliche Saat zum Leben zu erwecken.
So kam Mikayla Tesdall zur Welt. Das kleine Mädchen steht im Garten seines Elternhauses. Mikayla schneidet Grimassen, dann reitet sie auf einem Hexenbesen über den Rasen. Sie ist ein Adoptivkind und dennoch im Bauch ihrer Adoptivmutter zum Baby gewachsen. Zehn Jahre lang hatten Sharon und Larry Tesdall aus Tustin, einem Vorort von Los Angeles, vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Dann adoptierte das Ehepaar einen Jungen; er heißt Ian und ist heute neun. Aber Sharon wollte nicht nur Mutter sein, sondern auch schwanger. Deshalb adoptierten sie und ihr Mann jenen Embryo, der zu Mikayla heranwuchs.
Die Non-Profit-Agentur Nightlight ist auf solche Adoptionen spezialisiert. Sie brachte die Tesdalls mit einer Familie von der Ostküste zusammen, per Post wurden deren gefrorene Embryos nach Kalifornien geliefert. Die Ärzte tauten die Zellklumpen auf und setzten sie Sharon ein; mit einem Embryo wurde sie schwanger. »Seitdem fühle ich mich nicht mehr unfruchtbar«, sagt sie.
Bei der Adoption ging es den Tesdalls aber nicht allein um die Erfüllung des Kinderwunschs, sondern vor allem um Politik. Sharon und Larry sind gläubige Christen und unterstützen die Republikaner. Das menschliche Leben beginnt für sie mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. »Als wir Mikayla als Embryo bekamen, war sie schon vollkommen«, sagt Sharon Tesdall. »Alles, was sie brauchte, war ein warmer Ort, an dem sie wachsen konnte.«
Zellen oder Menschen? An dieser Unterscheidung hängen Emotionen, und die werden in der politischen Kontroverse instrumentalisiert. Die Agentur Nightlight ver-kündet auf ihrer Homepage: »Wir erkennen den Personenstatus von Embryos an und behandeln diese als wertvolle, noch nicht geborene Kinder.« Am liebsten würden die Mitarbeiter alle gefrorenen Embryos in Familien unterbringen – »auch wenn wir dann keine Arbeit mehr hätten«, sagt Ron Stoddart, der Geschäftsführer der Agentur. Er lacht, weil er weiß, wie utopisch das ist. Durch Vermittlung von Nightlight sind bisher 130 Babys geboren worden. Nicht viel bei 400000 verwaisten Embryos.
Die Arbeit der Agentur besteht vor allem darin, Spenderfamilien und Adoptiveltern zu suchen, die zusammenpassen, denn beide Seiten dürfen Sonderwünsche angeben. Die leiblichen Eltern der Embryos legen oft Wert darauf, dass ihr Kind bei einem verheirateten Paar aufwächst. Umgekehrt haben die Adoptiveltern die Möglichkeit, die Hautfarbe ihres Kindes auszusuchen. Außerdem bekommen sie Informationen über die Gesundheit der leiblichen Eltern, bevor sie sich für deren Embryo entscheiden. Kinder von weißen und gesunden Erzeugern sind bei den Kunden besonders gefragt. Dieses selektive Verfahren passt zwar nicht zum Grundsatz der Agentur, dass alle Embryos gleich wertvoll seien. Aber das oberste Ziel von Nightlight lautet nun einmal, möglichst viele Schwangerschaften zu vermitteln. Und das lässt sich am besten erreichen, wenn die Kunden wählen dürfen.
Kaum überraschend lehnt Nightlight die Stammzellforschung mit Embryos ab. Ron Stoddart sagt: »Jeder von uns war doch mal eine Zelle. Niemand darf Leben zerstören, um zu forschen oder irgendeinen anderen Nutzen zu verfolgen.« Das ist seine Botschaft und er weiß, dass man politischen Botschaften »ein Gesicht geben muss, um sie zu vermitteln«. Mikayla ist das perfekte Gesicht dafür. Nachdem sie auf dem Wohnzimmersessel Handstand geübt und auf dem Boden mit dem Hund gekuschelt hat, läuft sie aus dem Zimmer und kommt mit einem Zettel zurück. Darauf sind vier Fotos abgebildet. Mikayla zeigt auf das erste: ein Embryo, der aus wenigen Zellen besteht. Ihre Augen strahlen, dann sagt sie dasselbe wie schon im Weißen Haus: »Das bin ich.« Die beiden nächsten Bilder sind Ultraschall-Aufnahmen von einem Fötus im Mutterleib. »Da lutsche ich am Daumen, das mache ich immer noch.« Das letzte Foto in der Reihe zeigt das Mädchen als Zweijährige.
So unterstützte Mikayla die Politik des US-Präsidenten. George W. Bush lehnt die Stammzellforschung ab und sorgte wiederum dafür, dass die Werbekampagne von Nightlight mit einer Million Dollar Steuergeldern unterstützt wird. Und er lud die Familien ins Weiße Haus ein, um den liberal eingestellten Abgeordneten zu zeigen, dass es neben Vernichten und Forschen einen dritten Weg gibt: Adoption. Sharon Tesdall sagt: »Die Politiker sollten einmal das Gesicht eines Embryos sehen, deshalb sind wir ins Weiße Haus gefahren.«
Die Tesdalls waren im vergangenen Sommer erst wieder bei einem Treffen mit Bush, inzwischen haben sie ihn dreimal besucht. Dabei begegneten sie auch Mikaylas leiblichen Eltern und deren Kindern. Wenn Sharon von Washington erzählt, klingt das nicht nach Politik, sondern nach Familienausflug. Gern erinnert sie sich an die Band aus Marinesoldaten, die bei Sonnenuntergang so schön musizierte. Und an die Glühwürmchen, die über dem Rasen schwirrten.
Auf jenem Rasen vor dem Weißen Haus spielten damals die Kinder der Spender- und der Adoptivfamilien miteinander. Eine kuriose Mischung aus genetischen Geschwistern, die sich zum ersten Mal begegneten, und Kindern, die bei denselben Eltern aufwachsen, aber nicht genetisch verwandt sind. Ian zum Beispiel, den die Tesdalls als Baby adoptiert hatten, freundete sich mit den Zwillingen an, die als Embryos zusammen mit Mikaylas Embryo in der Petrischale gelegen hatten. Die Zwillinge sind schon acht, Mikaylas Embryo blieb aber noch drei Jahre lang gefroren, sodass sie jetzt erst fünf ist. Die Eltern der Zwillinge, also Mikaylas leibliche Eltern, bekamen danach überraschend auf natürlichem Weg noch ein Kind, danach wollten sie ihre restlichen Embryos nicht mehr selbst austragen. Die natürlich gezeugte Tochter ist ein halbes Jahr älter als Mikayla und deren genetische Schwester. Auf Fotos sehen die beiden sich ähnlich, mit ihren dunkelblonden Haaren und den neugierigen Augen. Aber Mikayla hat noch nicht verstanden, dass dieses Mädchen ihre Schwester ist: »Lauren mag ich, sie ist eine meiner besten Freundinnen«, sagt sie.
So idyllisch es auf dem Rasen war, so heftig ging es vor den Toren des Weißen Hauses zu. Auch die politischen Gegner hatten ihrer Botschaft nämlich ein Gesicht gegeben: Eltern fuhren ihre Kinder in Rollstühlen vor. Auf Schildern fragten sie: »Wollt ihr unseren Kindern die Therapien verweigern?«
Der parkinsonkranke Michael J. Fox trat vor den Kongresswahlen im vergangenen Jahr in einem Fernsehspot auf und empfahl den Zuschauern, den Demokraten die Stimme zu geben, weil diese Partei die Wissenschaftler unterstützt. Die ehemalige First Lady Nancy Reagan kämpft für eine staatliche Förderung der Stammzellforschung, seit ihr Mann an Alzheimer erkrankt und gestorben ist. Damit nimmt sie allerdings eine Außenseiterposition unter den Republikanern ein. Der Superman-Darsteller Christopher Reeve, der nach einem Reitunfall gelähmt war und vor drei Jahren starb, verklagte sogar die Regierung, weil sie lebensrettende Therapien verhindere.
Die Mitarbeiter der Agentur Nightlight beeindruckt diese Kampagne wenig. »Selbst wenn es heute eine Therapie gäbe, für die embryonale Stammzellen nötig sind, würde ich diese hundertprozentig ablehnen«, sagt Ron Stoddart von Nightlight, der seine Agentur als christliche Organisation bezeichnet.
In Deutschland ist es nicht möglich, sich den Embryo eines anderen Elternpaars einpflanzen zu lassen. Das Embryonenschutzgesetz gibt für die künstliche Befruchtung strenge Regeln vor, moralische Konflikte, wie sie in den USA aufgebrochen sind, werden so vermieden: Ärzte dürfen nur so viele Embryos erzeugen, wie sie der Frau in ihrem aktuellen Zyklus einsetzen wollen, keinesfalls mehr als drei. Embryos auf Vorrat zu kultivieren wie in den USA, für den Fall, dass die Frau beim ersten Versuch nicht schwanger wird, ist in Deutschland illegal.
Deshalb lagern in deutschen Kliniken auch nicht Hunderttausende Embryos, sondern nur etwa einhundert. Deutsche Reproduktionsmediziner frieren übrig gebliebene Samen- und Eizellen im sogenannten Vorkernstadium ein. Die Zellen von Mann und Frau sind in diesem Stadium noch nicht miteinander verschmolzen, es handelt sich also noch nicht um Embryos.
Diese Vorschriften machen die künstliche Befruchtung moralisch unbedenklich, schmälern aber auch die Erfolgsaussichten. »Wenn ich den Embryos ansehe, dass sie keine Chance haben, muss ich der Frau trotzdem alle übertragen«, kritisiert Klaus Bühler vom Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands. Inzwischen haben deutsche Frauen Wege gefunden, die Gesetze zu umgehen, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen: So wie Frauen früher ins liberalere Holland fuhren, um dort Babys abtreiben zu lassen, reisen sie jetzt nach Belgien, Spanien oder Polen, um schwanger zu werden. Um diesen Fruchtbarkeitstourismus zu bremsen, schlägt Bühler vor: »In Einzelfällen sollten wir die Möglichkeit haben, mehr als drei Embryos zu kultivieren und der Frau dann nur die mit dem besten Entwicklungspotenzial zu übertragen.«
In den USA hat der Senat ein Gesetz verabschiedet, das die staatliche Förderung der Stammzellforschung vorsieht. Ob es in Kraft tritt, ist aber fraglich. Denn zu den schärfsten Gegnern zählt Präsident George W. Bush.Natürlich könnte man den Befürwortern der Embryo-Adoption vorwerfen, dass sie ihre Kinder instrumentalisieren: Wer weiß, ob Mikayla als mündige Bürgerin zur selben Überzeugung kommen wird, die sie jetzt mit ihren fünf Jahren in der öffentlichen Debatte vertritt. Andererseits machen längst nicht alle Eltern ihre Kinder zum Sprachrohr politischer Ansichten, wie es die Tesdalls tun.
Beth und Ken Dean etwa adoptierten vor anderthalb Jahren einen gefrorenen Embryo. »Als wir zum ersten Mal davon hörten, fanden wir die Vorstellung ziemlich seltsam«, sagt Ken Dean. Aber weil er und seine Frau endlich ein Kind wollten, dachten sie trotzdem darüber nach. Um Politik ging es ihnen anfangs nicht. Die Deans sind gläubige Christen, nahmen die Kontroverse über die Embryos aber erst wahr, als sie versuchten, doch noch ein Baby zu bekommen. »Da wurde uns klar, dass es dort draußen viele Kinder gibt, die auf ein Zuhause warten«, sagt Beth Dean. Nach einer Weile gewöhnte sie sich an den Gedanken, mit dem Embryo fremder Leute schwanger zu werden.
Dass ein Kind ihre Gene hat, war den Deans nie wichtig, sie hatten auch schon über eine traditionelle Adoption nachgedacht. Trotzdem freuen sie sich jetzt, wenn die Nachbarn sich über den Kinderwagen beu-gen und sagen, wie ähnlich Elisa ihrem Vater sehe. »Wenn Elisa einmal fragt, wie sie entstanden ist, wollen wir ihr erzählen, dass uns jemand Samen geschenkt hat, den wir bei Mami eingepflanzt haben«, sagt Ken Dean. »Wir haben ja noch etwas Zeit, uns eine richtig gute Geschichte auszudenken.«
Die Deans sind glücklich mit der Entscheidung, dass sie den Embryo adoptiert haben, der zuvor neun Jahre eingefroren in der Klinik lag. In ihrem Haus in Garden Grove bei Los Angeles hängen überall Bilder von dem Baby, Elisa als Neugeborene, Elisa als Säugling, Elisa als Heilige – auf einem Foto rahmt ein rosafarbenes Tuch ihr Gesicht ein. Der Faltenwurf ist dramatisch ausgeleuchtet wie bei einem Madonnenbild. »Wir waren dazu bestimmt, ein Leben zu retten, und das haben wir getan«, sagt Beth Dean. Von der Spenderfamilie bekamen sie fünf Embryos. Drei ließ sich Beth Dean einsetzen, zwei sind noch übrig. Sie liegen im Tank der Klinik. Nächstes Jahr wollen Beth und Ken Dean es noch einmal versuchen. Sie wünschen sich noch mehr Kinder und wollen noch mehr Leben retten, sagen sie.
Diese spektakuläre Aufnahme des schwedischen Fotografen Lennart Nilsson wurde erstmals 1976 veröffentlicht.