Mitten im Wald, neben einem grauschwarzen Baum, steht ein Esel. Das Gebiss ragt aus dem Schädel, kein Härchen ist dem Tier geblieben. Esel flüchten nicht, wenn sie die Panik packt, sie bleiben einfach stehen. Auch wenn sie bei lebendigem Leib verbrennen. In den letzten Tagen des Augusts brannte eine 60 Kilometer breite Feuerfront den Süden Griechenlands nieder. 75 Menschen starben, mehr als 40 davon in den Dörfern rings um die Stadt Zacharo. Die Menschen hier sprechen von der größten Katastrophe seit dem 2. Weltkrieg. Von Zacharo führt eine Bergstraße ins Dorf Artemida im Westen des Peloponnes. Noch immer brennen von den Flammen ausgehöhlte Bäume, in der Luft liegt der stechende Geruch von verbranntem Holz und Fleisch. Kurz vor Artemida stehen mehrere Autoskelette am Straßenrand. Und nur ein paar Meter den Hügel hinauf liegen frische Blumen. Hier verbrannte Athanasia Paraskevopoulos, 35, – ihre vier Kinder umarmend – unter einem Olivenbaum. Die Nachricht von Athanasias Tod ging um die Welt. CNN und BBC World berichteten live vom Dorfplatz. Noch heute stehen dort Übertragungswagen griechischer Fernsehkanäle und interviewen herbeigeeilte Politiker.
Am Sonntag wählt Griechenland ein neues Parlament. In Umfragen liegen die Regierungspartei Nea Dimokratia und die sozialistische
Pasok Kopf an Kopf. Aber im Moment will jeder in Griechenland nur wissen, wie es Georgios Paraskevopoulos geht, Athanasias Ehemann. Angeblich hat ein Privatsender 100 000 Euro für ein Gespräch mit ihm geboten. Manche sagen sogar, dass er mit einem Interview die Wahl entscheiden könnte. Je nachdem, wem er die Schuld an der Brandkatastrophe gibt. Aber Georgios Paraskevopoulos schweigt. »Er will mit niemandem reden«, sagt Spilios Kartos, Athanasias Bruder. Spilios ist ein stämmiger Kerl mit breiten, stark behaarten Unterarmen. Manchmal antwortet er mehrere Minuten auf eine Frage, manchmal antwortet er mehrere Minuten gar nicht. Er wohnt zurzeit abgeschottet bei Verwandten, jetzt sitzt er ausnahmsweise in einer kleinen Fischtaverne am Meer. »Einen Tag bevor das Feuer ausbrach, haben wir noch eine Party mit den Kindern gefeiert. Wenn du zu ihrem Haus ins Dorf gehst, wirst du ihre Dreiräder und Puppen im Hof finden. Mein Haus ist völlig zerstört. Aber Athanasias Haus hat nicht den kleinsten Schaden genommen. Wenn sie zu Hause geblieben wären …« Spilios beendet den Satz nicht.
Hören Sie hier "Verbrannte Seelen", vorgelesen von Alexandros Stefanidis.
Niemand weiß genau, was am 24. August auf der Straße zwischen Zacharo und Artemida geschehen ist. Sicher ist nur: 20 der etwa 50 Dorfbewohner von Artemida wollten mit ihren Autos zum etwa zehn Kilometer entfernten Strand ans Meer flüchten. Dabei wurden sie auf halbem Weg vom Feuer eingeschlossen. Der bis zu 90 Stundenkilometer starke Wind wechselte jede Sekunde und peitschte die Flammen in alle Richtungen. Panik brach aus. Spilios erzählt, dass Athanasia ihren Ehemann Georgios noch anrufen konnte: »›Versteckt euch in einer Mulde oder versuch ein Loch für die Kinder zu graben‹, schrie er ihr noch ins Telefon«, sagt Spilios. Dann brach die Leitung ab. Athanasia stieg mit ihren Kindern, die zwischen vier und 15 Jahren alt waren, aus dem Auto und lief den einzigen Hügel hinauf, der noch nicht brannte. An der Stelle, an der sie starb, ist der Boden steinhart. Seit Mai hat es hier nicht mehr geregnet. Kratzspuren weisen darauf hin, dass sie versucht hat, ein Loch zu graben. Aber eine reelle Chance hatte sie nicht. »Keiner, der dort war, hat überlebt«, sagt Spilios und bestellt Wasser und einen doppelten Ouzo. Das Wasserglas wird er an diesem Nachmittag nicht ein einziges Mal anrühren.
Eigentlich lebte die Familie Paraskevopoulos in Athen und war nur ans Meer gefahren, weil sie ihr Haus in der Hauptstadt renovieren ließ. Athanasia hatte die Maler bestellt und bei Ikea Bettchen und andere Kinderzimmermöbel gekauft. »Sie wollten am nächsten Tag abreisen!«, sagt Spilios und greift nach meinem Arm. »Verstehst du das? Warum musste das alles passieren? Warum?« Spilios wiederholt diese letzte Frage ein Dutzend Mal und würgt die letzten Silben aus seinem Hals, als müsste er sich übergeben. Dann weint er hemmungslos.
Athanasia und ihre Kinder werden dieser Tage in Artemida begraben. Der Termin soll geheim bleiben. Spilios sagt, dass er jetzt jedes Wochenende von Athen die vier Stunden ins Dorf fahren wird, weil er sich um das Grab kümmern will. »Georgios braucht mich jetzt.« Ob sich sein Schwager vor den Wahlen am Sonntag doch noch zu einem Interview entschließen wird? Spilios schaut aufs Meer. »Nein, sicher nicht. Er hat noch nicht einmal begriffen, was eigentlich passiert ist.«
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