Es sind die Augen des Großvaters, die einen anspringen. Ihr Blau sticht intensiv aus der zerklüfteten Physiognomie des 86-jährigen Enkels hervor, der mit seinem Gehstock ruhelos durchs Labyrinth des Festspielhauses stapft. Der Gesichtsausdruck des Erbherrschers von Bayreuth, in dem Leutseligkeit und Argwohn konkurrieren, erhält durch die blitzenden Augen Richard Wagners eine Frische aus dem Brunnen der Vergangenheit. Richard, Siegfried, Wolfgang – drei Generationen, die zwei Jahrhunderte umspannen. Wer kann schon im Jahr 2006, wie der Festspielleiter Wolfgang Wagner, mit einem Opa aus so ferner Zeit aufwarten? Richard Wagner hing 1813 in Leipzig an der Mutterbrust, als draußen Napoleon in der Völkerschlacht besiegt wurde.
Im mächtigen Festspielbau, auch »die Scheune« genannt, ist Wolfgang schon als kleiner Junge herumgeklettert. Hier kennt er jeden Winkel, und seinem Wotansblick entgeht keine Kleinigkeit. Aus vierzig Metern Entfernung verfolgt er einen Neuankömmling: einen verdächtigen Reporter, dem er großmütig erlaubt hat, den Musikproben zu lauschen. Der hockt da nun mit seinem Notizblock auf der Empore des Restaurants und schaut gebannt hinunter: Das legendäre, wegen der Bullenhitze nur dürftig bekleidete Orchester erzeugt unter Christian Thielemann die beschwörenden und verzaubernden Akkorde aus dem dritten Aufzug der Götterdämmerung.
Plötzlich erhebt sich, mit weißer Mähne weithin sichtbar, Wolfgang Wagner aus dem Sessel. Auch sein Gehstock und seine Stimme erheben sich, und sichtlich irritiert schreitet er auf den ahnungslosen, doch bald alarmierten Reporter zu. Der hatte sich, um die Pauken und das schwere Blech besser im Auge zu behalten, etwas weit über die Brüstung gebeugt. Jetzt zügelt der Chronist schleunigst seine Neugier und lehnt sich wieder brav zurück – worauf Wolfgang Wagners Missbilligung sich ein neues Objekt suchen muss: Ein bedauernswerter Tontechniker bekommt seinen Ärger ab.
Kurz vor der Premiere scheint in Bayreuth die Nervenkraft vieler Beteiligter aufgebraucht. Unter Wolfgangs Gesamtverantwortung wird ab nächster Woche ein neuer Ring des Nibelungen gestemmt: an die sechzehn Stunden Wagner, in ungleichen Portionen verteilt auf vier Abende, wobei Rheingold nicht viel länger ist als ein Spielfilm, Götterdämmerung aber über fünf Stunden währt – ausgiebige Pausen mit kühlender Labung und fränkischen Würsten nicht mitgerechnet. Bei einem Bayreuther Ring handelt es sich schließlich um den anspruchsvollsten, aufwändigsten und wagemutigsten Kraftakt, den das Welttheater zu bieten hat. Nur hier wird in einem Wurf die Neuinszenierung der ganzen Tetralogie geboten. (Die New Yorker Met oder das Münchner Nationaltheater staffeln so etwas über Jahre.) Kritiker, Kulturgewaltige, Wagner-Fans aus aller Welt, die Spitzen der Gesellschaft, Angela Merkel, sogar Edmund Stoiber – alle werden darüber richten, ob die Bayreuther Mammutleistung die Anreise wert war. Ob ein kulturelles Ereignis stattgefunden hat oder nur eine windige Provokation – wenn nicht gar, schlimmer noch, ein mediokrer, öder, sich vier Abende hinziehender Flop.
Da eine Neuinszenierung der Tetralogie erst wieder 2012 fällig ist, gilt dieser Ring des Nibelungen als der letzte der Ära Wolfgang Wagner, die vor vierzig Jahren mit dem frühen Tod seines bekannteren Bruders Wieland begann. Nächstes Jahr wird Wagners einziges Kind aus der zweiten Ehe mit Gudrun Mack, wird seine jüngste Tochter Katharina – bis dahin noch keine dreißig – mit den Meistersingern von Nürnberg ihre Bayreuther Gesellenprüfung ablegen: nicht zufällig Wolfgangs Lieblingsoper.
Das wird die gewünschte Wachablösung symbolisieren, den Stabwechsel von Wotan zur Tochter. Sein langer Abschied jedoch setzt bereits nächste Woche mit der Walküre ein – wenn Bassbariton Falk Struckmann, ehe er den schützenden Feuerkreis um Brünnhilde schließt, der geliebten Tochter zuruft: »Leb wohl, du kühnes, herrliches Kind!« Worauf Wolfgang vor sich hinmurmeln dürfte: … und übernehme den ganzen Laden in Treu’.
Der Sippe Geheul lässt nicht auf sich warten. Oft genug haben Mitglieder des Wagner-Klans am Gitter des Festspielhauses gerüttelt. Doch Wolfgangs Nachkommenschaft aus erster Ehe und Wielands Kinder sind wegen nicht hinreichender Nibelungentreue verbannt. Von jeher machen die genetisch Berufenen Ansprüche geltend, die Wotan routiniert abschmettert: Nicht auf die Herkunft, aufs Können komme es an! Allerdings bliebe die neidige Brut ungehört ohne ihre widrigen Verbündeten in der Presse. Nichte Nike, die geistreich giftelnde, treibt es dort am ärgsten – neuerdings mit Anstiftung zur Finanzsabotage: Im Politikmagazin Cicero postuliert Wielands Tochter, dem Onkel die öffentlichen Subventionen von 4,4 Millionen Euro zu streichen.
Überhaupt, die Presse. Wolfgang Wagners aus Sussex stammende Mutter hatte ihr gegenüber eine nüchterne Einstellung: »Man muss sie einspannen, wenn man sie braucht, aber nicht ernst nehmen, wenn sie indiskret wird«, schrieb Winifred Wagner, Siegfrieds junge Witwe, 1931 an ihren baldigen Hauptspielleiter und notorisch untreuen Liebhaber Heinz Tietjen. Ihr Sohn ist da heute empfindlicher: Wolfgang sieht sich ständig von einer »Sudelküche der Verdrehungen, Fälschungen, Lügen und Entstellungen« verfolgt und wettert in seinen Memoiren gegen jene »trübe Flut«, auf die er nur nicht reagiere, um die »nahe Berührung mit dem Unflat« zu vermeiden; bei der Erledigung seiner Korrespondenz möchte er »auf eine Atemschutzmaske verzichten können«.
Auch wenn Wolfgang Wagner ein paar Jahrzehnte weniger auf dem Buckel hätte, wäre seine Wepsigkeit begreiflich. Die alljährliche Torschlusspanik im Festspielhaus und der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit sind sogar von ortsfremden Laien mühelos zu erspüren – obwohl Mitwirkende einem vertraglichen Schweigegebot unterliegen und Journalisten der Einblick in das Bühnengeschehen ebenso verwehrt wird wie der Zutritt zur Nachrichtenzentrale: der Kantine.
Selbst ein wohlwollender Insider wie der Buchautor Hermann Schreiber (Werkstatt Bayreuth) sieht den Grünen Hügel neuerdings in eine »Festung« verwandelt, die von Verbotsschildern starrt. Der Regie-Wüstling Christoph Schlingensief, der vor zwei Jahren den Parsifal machte, hat Bayreuth als ein »Kraftfeld der Angst« in Erinnerung. Jürgen Flimm, der den Ring 2000 mit Aktentasche, Campingsessel und elektronischem Büroschrott ins Heute zu holen glaubte, blickt zurück im Zorn: »Seltsam aus der Zeit gefallen« sei man dort oben, »die Wagners« – Vater Wolfgang, Mutter Gudrun, Tochter Katharina – »besserwisserisch und hochfahrend, ohne Kenntnis der ästhetischen Erscheinungsformen, die die deutschen Bühnen in den vergangenen Jahrzehnten so reich und schön gemacht haben …«
Der Dramatiker Tankred Dorst, Schmied des diesjährigen Rings, würde sich – Maulkorbverträge hin oder her – zu solchen Tiraden kaum hinreißen lassen. Dazu ist er zu wohlerzogen und frei von Größenwahn. Im Gartenrestaurant »Bürgerreuth« über dem Hügel, wo Richard Wagner mit seiner Cosima zu speisen pflegte, gibt sich der 80-jährige Dramatiker beim Carpaccio einsilbig, wenn’s ums Eingemachte geht – um das Riesendrama, das im Festspielhaus bis zur letzten Minute tobt, bevor das Publikum sich am Premierentag ausgeräuspert hat und die Kontrabässe fast unhörbar das tiefe Es im Rheingold-Vorspiel zu grummeln beginnen.
Kein Wort über jenes Drama: Da gleicht Dorst dem Lohengrin (»Nie sollst du mich befragen!«). Kein Geheimhaltungsparagraf aber kann verschleiern, dass der Regisseur des ersten im 21. Jahrhundert geschaffenen Bayreuther Rings – gefährlich nahe am Premierentermin – erschöpft und terrorisiert aufs Stundenglas stiert, durch das die letzten Sandkörner rinnen.
Was ist passiert? Vor anderthalb Jahren, beim Italiener unter seiner Berliner Wohnung, war der Dichter Dorst noch erfüllt von jungenhafter Vorfreude auf die gewaltige Aufgabe, die Wolfgang Wagner ihm angetragen hatte. Es schien keine Rolle zu spielen, dass er bisher nur eigene Stücke – und noch nie eine Oper – auf die Bühne gebracht hatte. Vor allem entwickelte Dorst schon bald eine persönliche, magische Vision vom Ring des Nibelungen, die jeden Tag reicher wurde. Die Natur, in der Richard Wagner seine Lebensgleichnisse action packed abrollen lässt, sollte Natur bleiben – eine heutige, beschädigte, mit Autowracks am Grunde des Rheins, Überresten eines Open-Air-Spektakels, einem Abstellplatz für obsolete Denkmäler. Und die Götter, die Helden und die Riesen (nicht zu vergessen die Zwerge) sollten nicht wie Filialleiter, Mafiosi oder SS-Schergen daherkommen, sondern Sagenfiguren bleiben – Fasolt und Fafner so groß wie King Kong in Manhattan und echte Götter mit übernatürlichen Kräften, die, wenn es ihnen beliebt, auch durch steinerne Wände gehen können. Kurz: kein Wotan mit Aktentasche, kein Alberich mit Aldi-Tüte, sondern elementare Gestalten, die aus Feuer und Wasser, Wind und Fels erwachsen.
Wie viel, oder wie wenig, von seiner Vision übrig geblieben ist – Tankred Dorst will es nicht verraten. Für den tiefen Gram in seiner Miene liefert stellvertretend sein unmittelbarer Vorgänger als Ring-Regisseur einleuchtende Erklärungen. Jürgen Flimm, Intendant der Ruhr-Triennale, hat die Tortur einer Bayreuther Ring-Produktion sechs Jahre vor Dorst durchlitten. Von der ständigen Präsenz des Prinzipals Wolfgang und seiner aktuellen Kleinfamilie abgesehen, war es das »schamlos schnelle« Probentempo, das selbst einen Routinier wie Flimm ausflippen ließ. Für die Inszenierung der vier Ring-Abende hatte er in Bayreuth so viel Zeit wie ein Kollege in Stuttgart für die Götterdämmerung allein. »Kreuz und quer im Schweinsgalopp« gehe es zu im Festspielhaus, »kein Tag Pause, oft drei bis vier Proben am Tag, endlos, nervtötend«.
Christian Thielemann, der Dirigent, macht einen der Gründe anschaulich, indem er bei den Proben immer wieder selbst singt. Oft muss er mit vergleichsweise dünner Stimme einspringen, um den düsteren Mörder Hagen oder eine andere Gestalt zu ersetzen, deren Darsteller gerade abwesend ist. Alles muss im Fluss bleiben, keine Minute darf vergeudet werden, die Zeit drängt. Das liegt an den Existenzbedingungen Bayreuths. Damit teure Sänger zu relativ niedrigen Gagen zur Verfügung stehen, muss auf ihre weltweiten Verpflichtungen größtmögliche Rücksicht genommen werden. Das bedeutet Probenarbeit à la Hollywood: Wie beim Drehen eines Films werden jeweils jene Szenen durchgenommen, deren Protagonisten und wichtigste Requisiten gerade zur Verfügung stehen. Das spart Zeit und Geld, aber im Kopf des Regisseurs können in diesem Puzzle Zusammenhänge verloren gehen – besonders bei einem, der nicht in der Oper zu Hause ist. Als Dorst vor einer halben Ewigkeit Selbstzweifel anmeldete, hatte Wolfgang sie vom Tisch gefegt: »Das schaffen Sie schon!«
Mit Filmmethoden hätte einer wohl kein Problem gehabt. Erst hatte Wolfgang Wagner ja – Sensation! – Lars von Trier für den Ring 2006 gewonnen. Wie der dänische Filmregisseur (Breaking the Waves; Dancer in the Dark) die Nibelungen-Saga in seine eigenen Abgründe gerissen hätte, wäre sehenswert gewesen. Warum daraus trotz langwieriger, ernsthafter Versuche nichts wurde, lastet Wolfgang heute persönlichen Problemen des Filmemachers an. Zunächst aber hatte der Festspielchef mit dieser Nominierung seinen Kritikern wieder einmal die Pfeile aus der Hand geschlagen. Für Progressive ist Wolfgang ja seit langem ein Ärgernis. Einmal wegen des Hausfreunds Adolf Hitler, dem er zwischen seinem vierten und 21. Lebensjahr unzählige Male begegnet ist, ohne am insgesamt freundlichen Erinnerungsbild rückwirkende Korrekturen vornehmen zu wollen. Und zweitens als Regisseur, dem der Stempel des fantasielosen und konservativen Handwerkers aufgedrückt wurde.
Unter Kritikern gilt als ausgemacht, dass der Erbhofbauer Wolfgang an der »künstlerischen Stagnation« Bayreuths schuld sei. Dabei ist kaum zu bestreiten, dass der Festspielleiter in vorauseilender Anpassung an den Zeitgeist so gut wie alle Regisseure durchprobiert hat, die je mit dem Etikett des Revolutionärs oder Avantgardisten herumliefen – darunter ein paar seltene musikdramatische Schwergewichte. Götz Friedrich und Harry Kupfer, Jean-Pierre Ponnelle und Dieter Dorn, Patrice Chéreau und Heiner Müller, Alfred Kirchner und Jürgen Flimm, Claus Guth und Christoph Schlingensief und Christoph Marthaler: Mühelos ließe sich belegen, dass Wolfgang Wagner nichts unversucht gelassen hat, um seine musikalisch meist erstklassig belebte Spielwiese für das deutsche Regietheater zu öffnen.
Der Taktstock vollführt knappe, sparsamste Bewegungen. Die Linke modelliert dämpfend den Klang. Es sind mehr die Augen und die Mimik, mit denen Christian Thielemann dieses Elite-Orchester zu führen sucht. Im Festspielrestaurant muss er bei der Trauermusik die Instrumente bremsen, damit das Blech nicht zu faschistisch scheppert. Gottlob hat Siegfried – der Amerikaner Steve Gould – silberne Strahlkraft und eine attraktive Erscheinung: Der Trauermarsch kann dumpf und leer wirken, wenn Siegfrieds Tod dem Publikum schnurz ist. Thielemann wechselt dauernd die Polohemden, so schweißtreibend ist diese Arbeit. Im verdeckten Orchestergraben – Bayreuths »mystischem Abgrund« – reichen jetzt zwei Plastikschläuche zum Dirigentenpult hinauf, aus denen ihm frische Luft zugepumpt wird.
Wenn Wolfgang mit diesem Ring seinen Abschied einleitet, richten sich die Blicke auf Christian Thielemann: Der Chef der Münchner Philharmoniker, ein Preuße aus Potsdam, sieht sich als deutschen Kapellmeister alter Schule, auch wenn er in Wien und Paris und New York als Pultstar geschätzt wird. In einer Zeit des Umbruchs könnte ihm, der nicht zu den genetisch Berufenen zählt, an Katharina Wagners Seite eine stabilisierende, für Niveau sorgende Rolle zufallen. Zwar gilt Thielemann nicht gerade als Freund der Bühnenrevolutionäre, doch solange seine Schmerzgrenze – »Pornografie oder Nazi-Symbolik« -– nicht touchiert wird, schmeißt er den Taktstock nicht hin.
Es blitzt über dem Grünen Hügel. Ein bloßes Sommergewitter, oder das Wetterleuchten der Hysterie? Je näher der Tag der Premiere rückt, desto unheilschwangerer klingen die Kloakengerüchte aus der Kantine. Alle Beteiligten sind auf alles gefasst. Mag kommen, was will, eines hat Bayreuth mit dem Broadway gemein – den unerbittlichen Imperativ The show must go on.