»Let’s go home«, sagt Ta Ju und steigt in den grünen Kleinbus, auf dem hinten mit weißen Lettern steht: Mr. Bush, please help us to free Birma. Die warme Oktobersonne hängt schief über Wheatfield im US-Bundesstaat New York, und die anderen acht Birmanen rauchen auf dem Parkplatz erst mal in Ruhe ihre Feierabendzigaretten zu Ende. Hinter ihnen stehen drei Treibhäuser, da pflücken sie Hydrokulturtomaten, neun Stunden pro Schicht in feuchtwarmer Luft. »Good job«, sagt Ta Ju, er lehnt sich zurück im Autositz, Tarnhose und zerknittertes Hemd kleben an seinem krumm geschufteten Körper.
Die Birmanin vom Asian Market – sie fährt die Landsleute für 120 Dollar pro Mann und Monat zur Arbeit – ruft die anderen energisch zur Abfahrt. Die Frau steuert den Bus auf die Landstraße Richtung Buffalo, eine halbe Autostunde ist es bis in die Stadt, die Ta Ju jetzt Heimat nennt. Hinten im Wagen wird es still, Ta Ju starrt stumm in die leere Landschaft. In seinem neuen Leben ist er immer nur Passagier. Er hat sich dran gewöhnt. Rechts glitzert der Eriesee, im Auto ist es stickig. Ta Ju, 47, sechs Kinder, ein Enkel, seit einem Jahr in Amerika, hat seit Ende Juli Arbeit. Endlich. Neun Monate lang war er jeden Tag nur zum Englischunterricht gefahren, eine quälende Zeit. Vor dem Autofenster gleiten jetzt die Außenbezirke von Buffalo vorbei, Supermärkte, Tankstellen, Schnellrestaurants. Ta Ju reibt sich den linken Unterarm, er hat ihn sich im Dschungel, wo es keine Ärzte gibt, gebrochen und der Knochen ist schief wieder zusammengewachsen. Eigentlich ist der Arm kaum mehr zu gebrauchen, aber Ta Ju hat gelernt, das zu kaschieren.
Arbeit ist wichtig, sagt Ta Ju, er hat sich immer durchgeboxt, immer für seine Familie gesorgt, egal, was war. Den Stolz darauf konnte ihm keiner nehmen, nicht mal die verfluchten Generäle, die Birma beherrschen. Als er zwölf war, sind seine Eltern gestorben, woran, weiß er bis heute nicht. Danach zog er im Süden Birmas von Dorf zu Dorf, immer auf der Flucht vor dem Militär, das seit mehr als einem halben Jahrhundert sein Volk unterdrückt und verfolgt – die Karen, die ihren eigenen Staat haben wollen, unabhängig von Myanmar, wie die Generäle das Land nennen.
Ta Ju, der Waisenjunge, war Bergarbeiter, Straßenbauer, Tagelöhner, Holzfäller, Handlanger, Herumtreiber. Bis er She She traf und mit 25 endlich sesshaft wurde, im Dorf Kle Thue, drei Tagesmärsche von der thailändischen Grenze entfernt im birmanischen Regenwald. She She war die Dorfschönheit, Ta Ju war der Fremde, der sie eroberte. Er wurde Reisbauer, sie bekam die drei ersten Kinder, es hätte alles gut werden können.
Die Frau vom Asian Market hält den Kleinbus an, Ta Ju klettert hinaus. Riverside, eine triste Wohngegend, kleine Grundstücke, holzverblendete Fertighäuser. Ta Ju, schleichender Gang, den Blick starr nach vorn gerichtet, ist der einzige Fußgänger, niemand läuft in Amerika, das hat er als Erstes gemerkt. Ta Ju hat den Weg nach Hause auswendig gelernt, so wie er jeden Weg auswendig lernen musste in seinem neuen Leben, die vielen Straßen verwirren ihn noch immer, auch nach einem Jahr.
Sein Haus, dunkelgrün, kleine Veranda, liegt in der East Street, unten wohnt er mit seiner Familie, oben wohnen die Vermieter, ein amerikanisches Paar mit einer pubertierenden Tochter. Ta Ju klopft, sein Zweitjüngster öffnet. Dunkel ist es drinnen, ein langer Wohnschlauch, dahinter die Küche, rechts die zwei Schlafzimmer, durchgelaufener Teppich, durchgesessene Sofas, abgeschabter Tisch, Spendenmöbel. Stumm läuft der Fernseher, davor die beiden jüngsten Töchter. Ta Jus Frau She She, dürr und ausgemergelt, sitzt in der Ecke und liest wie so oft in ihrer Karen-Bibel; die meisten Karen sind Christen. In der Wohnung ist es still.
Ta Ju verschwindet in einem der Schlafzimmer, und als er wieder herauskommt, hat er statt der Tarnhose seinen Longyi an, den traditionellen Wickelrock der Birmanen. Unter dem Arm trägt er ein Fotoalbum. Er setzt sich aufs Sofa, öffnet das Album und zeigt auf ein ausgebleichtes Bild: Ta Ju, damals noch ohne Bauchansatz, vor einer zweistöckigen Hütte, lachend. Das war seine Hütte, die er ganz allein für seine Familie gebaut hatte. Fast zehn Jahre haben sie alle darin gewohnt, im Lager – bis zum 30. Oktober 2006.
Der Tag, an dem Ta Ju das Flüchtlingslager Tham Hin in Thailand für immer verlässt, ist ein schöner Oktobertag, schon am frühen Morgen ist es brütend heiß. Ta Ju steht in der Hütte, fein säuberlich legt er seine paar Kleidungsstücke in eine Plastiktasche, zuletzt packt er den Longyi ein und seine Machete obenauf. Als sie hergekommen sind, im Frühjahr 1997, auf der Flucht vor einer Groß-offensive der birmanischen Armee, war hier unberührtes Land, eine sieben Hektar große Senke mit nichts darin als hellbrauner Erde, grünen Büschen und Bäumen. Zehntausend Karen-Flüchtlinge hatten sich in der Gegend gesammelt, da wiesen ihnen die thailändischen Behörden diesen Ort zu, zehn Kilometer von der Grenze entfernt.
Hilfsorganisationen schafften Baumaterial her, Ta Ju bekam einen großen Stoß Bambusholz und viel Seil und baute daraus innerhalb von zwei Tagen eine Behausung. Möbel gibt es keine, nur eine Kochstelle, es gibt kein fließendes Wasser, keine Kanalisation, keinen Strom.Für Ta Ju und seine Familie aber ist Tham Hin das geringste aller Übel gewesen. Vor der birmanischen Armee waren sie in Sicherheit, dafür waren sie nun von den Entscheidungen der Thais abhängig. Doch die entschieden nichts. Also tat Ta Ju, was alle anderen auch taten, die zehntausend Flüchtlinge in Tham Hin und die anderen zweihunderttausend in acht ähnlichen Lagern entlang der thailändisch-birmanischen Grenze. Ta Ju begann zu warten.
Arbeiten durfte er nicht, das hatten die Thais verboten. Ta Ju tat es trotzdem, illegal, außerhalb des Lagers, so wie fast alle anderen Männer, sie mussten schließlich ihre Familien versorgen, die Lieferungen der Hilfsorganisationen reichten kaum zum Überleben. Die Karen-Männer mussten allerdings das Glück haben, einen Arbeitgeber zu finden, der auch bezahlte. Ta Ju hatte selten Glück. Als er im Frühjahr 2006 wieder mal ohne einen einzigen Baht Lohn fortgejagt wurde von einem thailändischen Holzhändler, für den er ein halbes Jahr lang Bambus geschlagen hatte, da wusste er: Es musste sich etwas ändern. Noch einmal wollte er nicht mit leeren Taschen zu seiner Familie zurückkommen.
Und weil die Lage in Birma weiter hoffnungslos war, unterschrieb er schließlich den sogenannten Weiterwanderungsantrag, den die Vertreter der amerikanischen Einwanderungsbehörde ihm vorlegten. Im Sommer 2006 waren sie ins Lager gekommen, nachdem sich die USA zur Aufnahme vieler birmanischer Flüchtlinge bereit erklärt hatten; auch neun andere Staaten lassen die Verfolgten ins Land. Es ist ein langsamer, stetig anwachsender Exodus: Täglich verlassen regelrechte Reisegruppen die Lager in Thailand, werden zum Flughafen in Bangkok gebracht und von dort in alle Welt. In diesem Jahr sind bislang knapp 13000 Birmanen in die USA umgesiedelt wurden, 2008 sollen es 20000 Menschen werden. Seit dem Ende des Vietnamkriegs nehmen die USA Flüchtlinge aus der Region auf, erst waren es vor allem Vietnamesen, dann Kambodschaner, heute sind es Birmanen; die Kriege und Konflikte in Südostasien haben in den letzten dreißig Jahren ständig neue Flüchtlingsströme produziert.
Ta Ju wusste nichts von Amerika, aber er hatte einen Traum: Seine Kinder, die jüngsten zwei waren im Lager geboren worden und hatten nie etwas anderes gesehen, sollten nicht das gleiche Leben haben wie ihr Vater. Sie sollten es besser haben. Und seine Frau She She war wieder schwanger.
Als Ta Ju das Gepäck seiner Familie in den Stauraum des klimatisierten Busses hievt, der in der Mittagshitze des 30. Oktober 2006 auf die Karen-Reisegruppe wartet, bleibt seine Tochter zurück. Sie hat im Lager vor einigen Monaten einen aufgeweckten jungen Mann namens Yan kennengelernt, die beiden haben geheiratet, im Sommer wurde ihr erstes Kind geboren. Die drei sind jetzt eine eigene Familie, sie mussten einen eigenen Weiterwanderungsantrag stellen, über den noch nicht entschieden ist. Sher Paw und Yan haben die Familie am Morgen bis zum Lagertor gebracht, alle haben sich ein letztes Mal umarmt, womöglich ein allerletztes Mal, dann sind die beiden jungen Leute zurück zur Hütte gegangen. Sie haben auf einmal sehr viel Platz.Als der Bus losfährt, füllen sich Ta Jus Augen mit Tränen. Draußen hebt sein bester Freund die Hand zum Lebewohl, sie werden sich nie wiedersehen, der Antrag des Freundes ist abgelehnt worden. In der Nacht haben sie ein letztes Mal zusammen getrunken, fast jeden Abend haben sie das getan und dabei Geschichten erzählt von früher, vom Dschungel. Sie haben immer viel gelacht, und Ta Ju wurde dann später manchmal sehr laut in seiner Hütte. Nun verschwindet die Silhouette des Freundes im flirrenden Mittagslicht, und Ta Ju wischt sich die Tränen aus dem Augenwinkel.
Der Weg des Busses führt noch eine Weile durch leeres, weites Land, bald aber werden die Häuser am Straßenrand immer zahlreicher, bis irgendwann kein Land mehr zu sehen ist – Bangkok. Ta Ju war noch nie in einer großen Stadt. Er zieht die blaue Kapuzenjacke an, die ihm die Leute von der IOM mitgegeben haben, der International Organization for Migration, die den Transport der Tham-Hin-Flüchtlinge regelt. Ta Ju wird diese Jacke monatelang tragen, sie wird zu seiner Uniform, als wolle er gar nicht ankommen, als wolle er eine Existenz im Transit bleiben, auf der Flucht. Den Longyi, seinen Wickelrock, zieht er nicht an in dieser Zeit.
Im Lager haben die Leute von der IOM einen dreitägigen Kurs namens »Cultural Orientation« abgehalten. Sie zeigten Ta Ju und den anderen, wie man sich in einem Flugzeug verhält und wie man in Amerika die Polizei anruft. Ta Ju hat noch nie in einem Flugzeug gesessen, er hat noch nie ein echtes gesehen, nur mal eins im Lager im Fernsehen, und schon Fernsehen war neu für ihn. Er hat bis zu diesem Tag nie in einem klimatisierten Bus gesessen und noch nie in einem Hotel geschlafen, geschweige denn in einer Vier-Sterne-Herberge wie dem »Louis’ Tavern Bangkok«, wo die Karen-Gruppe für eine letzte kurze Nacht vor dem Abflug untergebracht ist. Es dauert keine fünf Minuten, da hat sich Ta Ju ausgesperrt. Er kennt keine Türen, die zufallen.
Seine Kinder sitzen im Zimmer nebenan auf den Betten und schauen Fernsehen. Obwohl sie noch nie zuvor eine Fernbedienung in der Hand gehabt haben, finden sie sofort den Einschaltknopf. Die Kinder verstehen auch gleich, wie man den Brausestrahl über der Badewanne anmacht und das Klo abzieht. Für Ta Ju ist das alles zu viel. Er hat keinen natürlichen Instinkt dafür, wie technische Dinge funktionieren. Wo er herkommt, braucht man so etwas nicht. Nicht mal eine Klospülung.
Als Ta Ju drei Monate später, am Abend des 23. Januar 2007, durch den Flughafen von Buffalo geht, lugt unter der blauen Jacke ein gestärkter Hemdkragen hervor. Er hat sich fein gemacht, bevor ihn die drei jungen Amerikaner von der lokalen Flüchtlingsorganisation International Institute of Buffalo abgeholt haben, aber nun schleicht er hinter ihnen her. Es sieht so aus, als wolle er sich verstecken, als packe ihn plötzlich Furcht. Gemeinsam warten sie auf die Ankunft von American Airlines 4234 aus Chicago. Genau 83 Tage nachdem Ta Ju und seine Familie in Buffalo eintrafen, sitzen nun tatsächlich seine älteste Tochter Sher Paw, deren Mann Yan und der gemeinsame Sohn darin. Vor zwei Wochen haben sie im Lager ihren Umsiedlungsbescheid bekommen, »Buffalo« stand auf dem gelben Zettel. Die Leute von der Hilfsorganisation haben Ta Ju Bescheid gegeben, dass seine Tochter komme, mit der er seit seiner Abreise keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Man kann in einem Flüchtlingslager im thailändischen Niemandsland nicht einfach so anrufen.
Als Sher Paw und Yan die Ankunftshalle betreten, Yan trägt den kleinen Sohn auf dem Arm, scheinen Ta Jus Gesichtszüge, die sonst immer etwas seltsam Hartes haben, für einen kurzen Moment weich zu werden. Doch dann versteift sich sein ganzer Körper wieder. Er umarmt seine Tochter nicht, er küsst sie nicht, er weicht regelrecht zurück. Alles an ihm wirkt so, als wolle er sagen: Vielleicht hättet ihr doch nicht kommen sollen, vielleicht war es doch besser im Lager, da waren es nur zehn Kilometer bis Birma, jetzt sind es 13000, und hier sind wir viel fremder als je zuvor. Das Empfangskomitee ist irritiert. Ihre erste Familienzusammenführung hatten sich die drei jungen Amerikaner fröhlicher vorgestellt.
Vier Tage später klopft ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation an die Tür von Ta Jus Wohnung in der East Street, um nach den Neuankömmlingen zu schauen, die nicht in ihrer eigenen, neuen Wohnung gewesen sind. Draußen liegt Schnee, seit drei Monaten liegt er da, drinnen ist es warm, die beiden Gasöfen bollern, doch Ta Jus Frau friert. Sie hat ihren ausgemergelten Körper in eine Decke gehüllt, ihr Neugeborenes im Arm hockt sie hinten im Wohnschlauch auf dem Boden vor einem der Öfen; aus dem Haus geht sie fast nie. Ihre älteste Tochter Sher Paw sitzt ihr gegenüber und stillt ihren Sohn, der jetzt ein halbes Jahr alt ist. Die drei mittleren Kinder von She She spielen nebenan in einem der beiden Schlafzimmer. Und vorn im Wohnschlauch beugt sich Ta Ju über Rechnungen – Strom, Telefon und so weiter –, während sein Schwiegersohn Yan in den Fernseher starrt.
Ta Ju hatte gehofft, sein Leben werde einfacher, wenn er erst einmal aus dem Lager heraus sei. Doch stattdessen wurde alles komplizierter, dauernd müssen Entscheidungen gefällt werden, auch nach drei Monaten Amerika sind es nicht weniger geworden. Ständig müssen Dinge gekauft werden, ständig flattern jetzt auch diese Rechnungen ins Haus, das wenige Geld, das die Familie zur Unterstützung erhält, will verwaltet sein. Doch für jemanden wie Ta Ju, der nie Geld besessen hat, ist schon ein Konto eine abstrakte Idee, die ihn verwirrt. Die Hilfsorganisation International Institute, die seine Wohnung eingerichtet hat, ihm seine ersten Wege gezeigt hat zu den Stellen, wo er seine Papiere bekam und seine Essensmarken, die zunächst sein Geld verwaltet hat – die Hilfsorganisation hat Ta Ju in seine neue Freiheit entlassen. Aber Ta Ju weiß nicht, was er mit der Freiheit anfangen soll. Sie überfordert ihn.
Fünf Tage in der Woche fährt Ta Ju morgens mit dem Bus zu seiner Englischklasse. Es ist, als beruhige ihn diese Routine, als atme er auch ein wenig auf, wenn er mal rauskommt aus dieser Wohnung, in der es bis auf die Geräusche der Kinder dauernd so still ist, so unheimlich still. Ta Ju, der Tatmensch, ist immer in Bewegung gewesen, doch nun ist draußen Amerika, die totale Fremde. Als am 22. Januar Ta Jus und She Shes sechstes Kind zur Welt kam, gaben sie dem Baby dennoch einen englischen Namen, als Zeichen der Hoffnung; Elizabeth heißt die Kleine. Doch als Ta Ju dann die Geburtsurkunde ausfüllen sollte, musste er einen Freund bitten, den Namen seiner Tochter ins Formular zu schreiben.
Ta Jus ältester Sohn kommt zur Tür herein. Ein schweigsamer Junge, 16 Jahre alt, sehniger Körper, schmales Gesicht. Er ist draußen im Schnee gewesen mit seinen neuen Freunden von der Grover Cleveland High School, sie sind auf ihren BMX-Rädern durch die Gegend gefahren. Die Freunde sind Birmanen wie er, allerdings schon länger hier. Der Sohn zieht seine Turnschuhe an der Tür aus, blitzblank sind sie, darauf achtet er. Er trägt weite Jeans und einen Kapuzenpulli, nach drei Monaten in den USA sieht er bereits aus wie ein Rapper, er bewegt sich auch schon so, im lässigen Wiegeschritt. Wenn er den Mund aufmacht, merkt man allerdings, dass auch er kaum Englisch spricht.
Im Fernsehen läuft Jerry Springer, die übelste Krawall-Talkshow des US-Fernsehens. Ta Ju sagt kein Wort, er schaut jetzt immer nur still zu, Amerika hat ihn regelrecht verstummen lassen. Auf dem Bildschirm prügeln sich zwei übergewichtige Frauen um einen übergewichtigen Mann. Ta Jus Schwiegersohn Yan, seit vier Tagen im Land, weiß nicht, was er zuerst tun soll, lachen oder den Kopf schütteln. Auf Englisch sagt er: »Warum tun die das? Und dann auch noch in aller Öffentlichkeit?«Yan, drahtig, flink, ist der Sohn eines Lehrerehepaars. Er spricht Englisch, das hat er auf der Flucht gelernt – nachdem er als 14-Jähriger Protestflugblätter an das Rathaus seiner Heimatstadt geklebt hatte, musste er fort aus Birma. Ein buddhistischer Mönch schmuggelte ihn über die Grenze nach Thailand, seine Eltern blieben zurück; seitdem hat er sie nicht mehr gesehen oder gesprochen. Yan landete im Flüchtlingslager Tham Hin, wo er auf zwei uralten Rechnern einen Computerkurs abhielt. Eine seiner Schülerinnen war Ta Jus älteste Tochter Sher Paw. Sie war das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte – und bald darauf seine Frau.
Jetzt ist Yan gerade mal 23 und hat doch bald neun Jahre Flucht hinter sich. Amerika habe ihm eine Zukunft geschenkt, sagt er, und die wolle er nutzen, er wolle aufs College gehen, später für eine Flüchtlingsorganisation arbeiten. »Ich will zurückgeben«, sagt er.
Anfang Oktober 2007 sitzt Yan in der Bücherei von Buffalo vor einem Computer und liest im Internet die neuesten Schlagzeilen über den Aufstand in Birma. Yan hat jetzt einen Bibliotheksausweis, eine E-Mail-Adresse, ein Handy, einen Termin für die Führerscheinprüfung und einen acht Jahre alten Chrysler im Visier, den er für 500 Dollar kaufen will. Und Yan hat gleich zwei Jobs. Kurz nach seiner Ankunft hat das International Institute ihn schon für einfache Übersetzertätigkeiten angeheuert, im Sommer hat er dann bei einer Lkw-Firma angefangen. Yan baut Hydraulikteile in Autotransporter ein, zu zweit arbeiten sie an einem Hänger, 55 Stunden haben sie pro Hänger Zeit, Yan und sein chinesischer Kollege brauchen aber nur 40. »Wir Asiaten sind schnell, schneller als die Amerikaner«, sagt Yan stolz, »deshalb stellen uns die Firmen hier so gern ein.« Er arbeitet in der Spätschicht, morgens übersetzt er weiter bei der Hilfsorganisation, mal für Geld, mal umsonst. An diesem Tag trägt Yan ein Hemd von Ralph Lauren. Zumindest ein Teil von ihm ist schon angekommen in Amerika.
Auf Yan lasten auf einmal viele Erwartungen. Er muss für seine eigene dreiköpfige Familie sorgen und für die siebenköpfige Familie seiner Frau sprechen – Ta Ju fällt es weiterhin schwer, sich mit dem Amerika da draußen zu verständigen. Er muss sie alle mit Informationen aus Birma versorgen, weil er der Einzige ist, der mit dem Internet umgehen und Englisch lesen kann. Die Karen-Gemeinschaft in Buffalo, es sind durch weitere Umsiedlungen schon ein paar hundert, sieht in ihm einen zukünftigen Anführer, immer mehr Leute fragen ihn um Rat. Und zu Hause in seiner Wohnung sitzt seine Frau, die schöne Sher Paw, und hat Angst, dass er sie eines Tages verlassen wird, weil sie sich nicht hinaustraut in das Amerika, in dem sich ihr Mann schon so selbstverständlich bewegt.
Zweimal hat Yan bisher mit seiner Mutter in Birma telefoniert. Beim ersten Mal hat sie nur geweint, als nach Jahren plötzlich ihr tot geglaubter Sohn in der Leitung war, beim zweiten Mal hat sie gesagt, dass sie Yan noch einmal wiedersehen wolle, bevor sie stirbt. Doch seit Beginn der Unruhen sind die Leitungen nach Birma tot. Auch er wolle seine Eltern noch einmal sehen, sagt Yan. Und dann, eines Tages, wolle er ins freie Birma heimkehren. »Eines Tages…«, wiederholt er.
Yan klickt die letzten Nachrichten aus Birma weg, von den Massenverhaftungen, den zugesperrten Klöstern, den toten Mönchen. Er geht auf YouTube, wenn man dort »Tham Hin« eingibt, erscheint ein Video des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen, man sieht ein junges Mädchen, das durch die engen Gassen des Lagers läuft. Yan kennt das Mädchen, sie waren befreundet im Lager, als er noch ein einsamer Junge ohne Familie war. Als Yan in der Bibliothek in Buffalo die Bilder aus Tham Hin sieht, sagt er bloß ein Wort: »Home.«Am Nachmittag schraubt Yan wieder an Lkws herum und Ta Ju sitzt zu Hause über seinem Fotoalbum. Seit die Mönche protestieren, ist Birma auf einmal sehr nah. Ta Ju sagt, dass er und seine Frau She She sich immer wie zwei Vögel gefühlt hätten, die ein sicheres Nest für ihre Kinder bauen wollten. Doch überall hat man sie verjagt, nirgendwo wollte man sie haben, nicht in Birma, nicht in Thailand, und ob man sie in Amerika wirklich haben will, weiß Ta Ju auch nach einem Jahr noch nicht so genau. Wenn die verfluchte Militärjunta in Birma gestürzt würde, Ta Ju würde sofort wieder packen. Aber selbst dann könnte er nicht zurück in den Dschungel, sein einziges wahres Zuhause. Hier in Amerika steht jetzt das sichere Nest seiner Kinder; ihnen gehört die Zukunft.
Elizabeth, acht Monate alt, zerrt sich an seinem Wickelrock hoch auf die wackligen Beine und strahlt ihren Vater an. »Vielleicht bin ich zu alt für ein neues Leben«, sagt Ta Ju.
Unter der Knute der Generäle
Erstmals seit Beginn der Unruhen traf Ende Oktober ein Regierungsvertreter die unter Hausarrest stehende Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi. Das Gespräch verlief ergebnislos, in den Städten zog derweil das Militär auf, um ein Wiederaufflammen des Aufstands zu ersticken. Im August hatten die Proteste begonnen, Anlass war die Verdopplung der Treibstoffpreise. Buddhistische Mönche demonstrierten darauf wochenlang gegen die Militärjunta, die Birma seit 1962 diktatorisch regiert und das einst reiche Land in den Ruin geführt hat. Ende September zogen mehr als 100 000 Menschen durch die Metropole Rangun, da schlug das Regime mit Waffengewalt zurück: Es gab eine unbekannte Zahl von Toten und Verletzten; mehrere tausend Dissidenten wurden verhaftet. Seitdem kommt es regelmäßig zu Razzien in Klöstern und weiteren Verhaftungen.
Unabhängig von den aktuellen Protesten führt die Junta seit Jahrzehnten Krieg gegen die ethnischen Minderheiten, die etwa ein Drittel der Bevölkerung Birmas ausmachen. Kleinvölker wie die Shan, Chin, Mon und Karen kämpfen für mehr Autonomie und setzen sich gegen die birmanische Armee zur Wehr, welche die Minderheiten mit Gewalt aus ihren Siedlungsgebieten vertreibt.
Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass die ethnischen Konflikte bereits 600 000 Menschenleben gefordert haben. Außerdem hat die Säuberungspolitik des Militärs zu einem Flüchtlingsdrama geführt: Mehr als zwei Millionen Birmanen leben inzwischen in Thailand, davon nur ein Zehntel in Lagern wie Tham Hin.