Die Reise zum Mittelpunkt der Welt von Armin Glas führt nach Deutenhausen, 565 Einwohner, Landkreis Dachau, und genau so weit von München weg, dass man nichts von der Stadt mitbekommt, wenn man nicht möchte. Armin Glas möchte selten. Zusammen mit seinen Eltern lebt er in einem grauen Haus mit Garten. Er ist nie ausgezogen. »Bequemlichkeit«, sagt er. Links neben der Tür hängt ein Thermometer, es zeigt 28 Grad, drinnen belegt seine Mutter Brote mit Leberkäse, zu trinken gibt es
Spezi, an den Wänden hängen Urkunden vom Frauenbund, der Vater ist draußen bei den Karnickeln.
Der Elektriker Armin Glas ist ein besonderer Mensch: Jeden Morgen steht er um fünf Uhr auf und radelt 50 Minuten zur Arbeit. Am Abend radelt er zurück, isst zu Abend, schaut fern oder liest ein Buch und geht schlafen. In der Logik der modernen Welt kommt er nicht vor. Handy? »Ein alter Knochen von der Firma.« Facebook? »Was soll ich da?« Bis vor einem Jahr hatte er nicht mal einen Computer. Dafür schreibt er Tagebuch. Auf dem Schrank in seinem Zimmer liegen zwanzig Kladden, jede hat eng beschriebene 200 Seiten. Sein Bett misst 1,90 Meter mal 90 Zentimeter. Das Bett eines Jugendlichen. »Reicht vollkommen«, sagt er, »ich bin doch nicht groß.« Armin Glas ist 43 Jahre alt. Eine Freundin hatte er schon länger nicht mehr. Sein Zimmer ist winzig, seine Welt riesengroß. Gewöhnlich nennt ihn nur, wer ihn nicht kennt.
Es ging los, da war er 25 und hatte diese Wahnsinnsmenge an Überstunden, die unbedingt weg mussten; bis Ende März, sonst verfallen sie, Arbeitnehmerlogik. Also bucht er den ersten Flug seines Lebens: drei Wochen Dominikanische Republik. Zuvor war er mit seinen Eltern in Bibione und einmal in Südfrankreich gewesen, in einer Ferienanlage der Gewerkschaft. Jetzt flog er zum ersten Mal allein. Als er zurückkehrte, hatte sich etwas verändert, was er bis heute nicht richtig beschreiben kann. Er hatte eine Ahnung von der Welt jenseits von Deutenhausen, Dachau, Bayern bekommen. Heute fährt er immer noch ungern nach München, nach Schwabing oder Haidhausen. Er findet das kompliziert, der Verkehr, die Parkplatzsuche, die gestressten Menschen, dafür verreist er, sooft er kann, kombiniert Brücken- und Feiertage, macht Überstunden, er nennt es »Vorleistung aufbauen«. Pro Jahr haut er drei- bis viermal ab. Zwei Wochen, sechs Wochen, acht Wochen, je nachdem. Wenn er nicht arbeitet, ist
er unterwegs. Es ist fast wie eine Sucht, mit dem Unterschied, dass er nicht darunter leidet, im Gegenteil, Armin Glas wirkt nicht gehetzt, eher zufrieden, als würde ihm nichts, aber auch gar nichts fehlen zum Glück.
Sein Zimmer ist zugeklebt mit Fotos, die er gemacht hat: Moscheen, Vulkane, Tempel, Mosaike, Gletscher. Viel Natur, viele Bauwerke, wenig Menschen, er reist meistens allein, ab und zu nimmt er einen Kollegen mit. Wenn jemand Lust hat, darf er mit, ist doch klar, wenn nicht, kein Problem. Er möchte überall gewesen sein. »Ist doch spaßig«, findet er, »total der Hammer.« Er sagt das oft. Armin Glas macht Hunderte von Fotos, aber er lädt sie nirgendwo hoch, er lässt sie im Fotogeschäft entwickeln. Er muss nichts herzeigen, um sich zu vergewissern, dass er was erlebt hat. Er macht sie für sich, als Erinnerung, und für seine Eltern, damit sie sich vorstellen können, wo ihr Sohn die letzten Wochen wieder gesteckt hat. Von jeder Reise schickt er ihnen eine Karte. »Servus, Eltern«, so gehen sie los.
Trophäen sammelt er trotzdem, auf seine Art. Sein großes Ziel ist es nämlich, den höchsten Berg jedes Landes der Erde bestiegen zu haben. Und damit er es nicht aus den Augen verliert, hat er vor seinem Zimmer eine riesige Weltkarte an die Wand geklebt, in die er Stecknadeln pinnt. Blaue für die Länder, in denen er schon war, weiße für die Länder, auf deren höchstem Punkt er gestanden hat, eine grüne für Deutenhausen. Blaue Nadeln stecken in Argentinien, Ruanda, Eritrea, Honduras, Ecuador, Bahrain, Iran, Armenien, Trinidad und Tobago, Australien, der Südsee, der Karibik, sicher siebzig Stück. Für die Berge hat er eine Excel-Tabelle angelegt. Sie liegt ausgedruckt auf seinem Schreibtisch. Mit grünem Marker hat er abgehakt: Kongo (5109 Meter), Malaysia (4101 Meter), Taiwan (3997 Meter), Kosovo (2656 Meter), Barbados (340 Meter), Belgien (694 Meter), insgesamt 57 Gipfel. Armin Glas ist ein akkurater Mensch. Er will auch auf dem höchsten Berg der Malediven gestanden haben, obwohl der nur 2,40 Meter hoch ist.
Sein Problem: Es kommen ständig neue Länder dazu. Und es gibt Rückschläge: Luxemburg zum Beispiel. Hatte er lange abgehakt. Jetzt haben Messungen ergeben, nicht der Burgplatz (559 Meter) ist der höchste Punkt des Landes, sondern eine Bodenwelle namens Kneif (560 Meter). Er muss noch mal hin, der Flug ist gebucht. Auch nach Argentinien will er noch mal. Neulich musste er auf dem Aconcagua (6962 Meter) wenige Meter vor dem Gipfel umkehren. Auf dem Dega (3047 Meter) in Eritrea haben ihn Grenzsoldaten mit Kalaschnikows auf halber Strecke aufgelesen und nach unten geschickt. Und dann gibt es Länder, die mag er aus Prinzip nicht, zum Beispiel Zypern, da steht eine Radarstation auf dem Olymp (1952 Meter). »Man kann da nicht hin«, schimpft er, »Zypern steht ganz hinten auf meiner Liste.« Seine höchsten Gipfel waren der Chimborazo in Ecuador mit 6310 Metern, der Kilimandscharo in Tansania mit 5893 Metern und der Damavand im Iran mit 5610 Metern. China, Pakistan, Nepal, Indien – »werden nicht zu schaffen sein«, befürchtet er, er ist halt Elektriker, kein
Profibergsteiger, und seine Mutter betet, dass er das nie vergisst. Neulich entdeckte sie Prospekte über den Himalaja in der Post. »Mein Gott«, hat sie gedacht, »jetzt packt er es doch, der Hundling«, am Ende war es falscher Alarm, nur ein paar Broschüren. Sie macht sich immer Sorgen, wenn ihr Bub unterwegs ist. Einmal – er war gerade in Bolivien – hat jemand mehrmals am Tag angerufen, »Armin Glas!« ins Telefon geschrien und in englischer Sprache auf sie eingeredet. »Ich dachte sofort, die haben ihn entführt.« Jetzt hat ihr Sohn eine Regel aufgestellt: »Wenn du mehrere Wochen nichts von mir hörst, Mama, heißt das, es geht mir gut.«
Armin Glas war noch nie in Paris, London, New York. Noch nicht mal in Köln oder Düsseldorf. In Hamburg hat er mal ein Wochenende auf Montage verbracht. Er spricht ein holpriges Englisch, kein Spanisch, kein Französisch, ein paar Vokabeln vielleicht, aber für eine Unterhaltung reicht es nicht. Von jedem Ort, an dem es ihm gefällt, nimmt er ein Gläschen Sand mit. Zu Hause stellt er es in einen verspiegelten Wandkasten, den er beim Glaser hat anfertigen lassen. Er hängt neben seinem Bett.
Hundertsiebzig Mal beige, ocker, braun, gelb, rot. Natürlich hat er jedes Gläschen beschriftet.
Armin Glas vergisst nie, wo er war, nie, wo er herkommt, und nie, wo er hin will. Wer kann das schon von sich behaupten?
Fotos: Olaf Unverzart