Neulich gingen ein paar Raketentrümmer auf dem Schulhof meines Sohnes nieder. Keine große Sache, wir sind in Tel Aviv, es ist Krieg, das passiert ständig, und als die Trümmer fielen, saß die Klasse meines Sohnes bereits seit zehn Minuten in einem unterirdischen Bunker. Nachdem die Sirenen verstummt waren, gab die Mathelehrerin ein Zeichen: »So, alle bereitmachen jetzt, es gibt es auf der Welt wirklich wichtigere Dinge als das Leben! Wir machen weiter mit den Differentialgleichungen!« Und die Klasse brach in Gelächter aus.
Was soll man auch tun, wenn mitten in der Matheklausur die Sirenen losheulen, noch dazu in der Abschlussklasse? Sich retten. Witze reißen. Lachen. Und dann weiter Differentialgleichungen lösen. Es ist der Kreislauf unseres Alltags gerade.
Bevor ich mich selbst in einem wiederfand, dachte ich, Krieg läuft so ab: Die Menschen gehen ihrem normalen Leben nach, dann tritt plötzlich die Katastrophe ein, alles wechselt in den Kriegszustand. Im Leben der Menschen ist nur noch Krieg und sonst nichts, und zwar so lange, bis wieder Frieden einkehrt. Meine jüngste und durchaus überraschende Erkenntnis ist, dass Krieg und normales Leben parallel verlaufen. Sicher, gelegentlich fliegen ein paar Raketen auf dich zu und du verfolgst ununterbrochen die Berichte von der Front, hast eine App auf dem Telefon, die dir anzeigt, wo in deiner Stadt gerade Alarm ist, und wenn du irgendwo eingeladen bist, steht in der Einladung garantiert auch, wie weit der nächste Luftschutzkeller ist. Aber gleichzeitig musst du weiterhin mit Krediten klarkommen, dem schlechten Gesundheitszustand der Katze und den Matheprüfungen. So gut es eben geht.
Und besser geht es, wie immer im Leben, mit Witzen und Humor. So haben wir die letzten Jahrtausende überlebt. Jüdischer Humor ist fast immer pechschwarz. »Mama, hast du gehört, dass Rabinowitsch gestorben ist?“ – »Soll er doch, Hauptsache, er ist bei guter Gesundheit.« Oder das alte jüdische Sprichwort, das die Essenz aller jüdischen Feiertage auf den Punkt bringt: Sie wollten uns töten, aber es hat nicht funktioniert, also lasst uns das mit einem guten Essen feiern. Beides beschreibt ziemlich gut das komplexe und paradoxe Verhältnis der Juden zum Tod und zu allen möglichen Wechselfällen des Schicksals. Aber diese Fähigkeit, über uns selbst und unsere Situation zu lachen, verschafft uns oft einen Vorsprung im Geiste. Zumindest fühlt es sich so an.
Vor kurzem veranstaltete eine bekannte israelische Facebook-Gruppe einen Wettbewerb unter den Hashtags »Mamad-hygge« oder »Miklat-hygge«. Ein Mamad ist ein Bombenschutzraum, den es per Gesetz zu jeder neu gebauten Wohnung in Israel geben muss. Ein Miklat ist ein öffentlicher Schutzraum, in den sich Menschen aus älteren Häusern, die keine eigenen Schutzräume besitzen, flüchten können. Und »hygge« kommt aus dem Dänischen, es meint diese typisch skandinavische Atmosphäre der Gemütlichkeit, den Genuss schöner Dinge in den eigenen vier Wänden und in Gesellschaft guter Menschen. Unter dieser Überschrift also posteten die Menschen Fotos ihrer Schutzräume, auf denen sie versuchten, diese so gemütlich wie möglich aussehen zu lassen. Wie bei diesen nervigen Interior-Challenges auf Instagram.
Das ist ironisch gemeint, klar – aber auch der Hygge-Wettbewerb ist nicht nur aus Spaß entstanden. Damit die vielen Stunden in den Schutzräumen nicht so deprimierend und trist sind und die Kinder nicht so viel Angst haben, schleppen viele Israelis schöne Lampen, Kerzen, Kinderspielzeug, Kissen, Sitzsäcke, Brettspiele, Bücher, Bilder und Poster in die Bunker. Während also die westliche Welt ihre Häuser schmückt, um ein schönes Weihnachtsfest zu feiern, schmücken wir unsere Schutzräume, damit der nächste Raketenangriff weniger schlimm ist.
Manche Leute lassen ihre Kinder die Wände der Räume bemalen – die Kleinen warten dann sehnsüchtig auf die Sirene, damit sie endlich an ihren Kunstwerken weiterarbeiten können. Viele Eltern bewahren in den Schutzräumen alle ihre Süßigkeiten auf – damit sie der einzige Ort sind, an dem Kinder ihr ungesundes Lieblingsessen bekommen. Wenn die Kleinen mit Schokolade und Gummibärchen beschäftigt sind, haben sie weniger Zeit, Fragen über den Tod zu stellen.
Viele ältere Häuser im Land haben aber keine eigenen Schutzräume, darum müssen die Menschen ins Treppenhaus flüchten, wenn die Sirenen einsetzen. Weil es auch nachts jederzeit losgehen kann, schlafen viele Menschen zurzeit nicht mehr in Unterwäsche oder im ausgewaschenen, alten T-Shirt des Ehemannes – was sollen sonst die Nachbarn denken? Also tragen wir schöne Schlafanzüge, für die man sich im Falle eines Raketenbeschusses nicht schämen muss.
Das ist im Übrigen nichts Neues, eine sogenannte »Pyjama-Party-Saison« gab es in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrfach, immer wenn wieder eine Phase des Beschusses war. Diesmal zieht sie sich aber in die Länge, so wie die »Neue-Unterwäsche-Saison«: Ausnahmslos alle meine Freundinnen haben mir gesagt, dass sie ihre Unterwäsche jetzt mit größerer Aufmerksamkeit auswählen als früher. Kürzlich sagte mir eine: »Wenn ich schon auf dem OP- oder Obduktions-Tisch lande, dann möchte ich wenigstens was Anständiges anhaben, keine alten Mickey-Maus-Unterhosen.«
Das mag zynisch, gar morbide klingen, aber so kommen wir durch den Alltag. Mit rosa Wänden in Schutzräumen, hübschen Schlafanzügen und Erzählungen darüber, was uns alles schon Lustiges oder Absurdes passiert ist, wenn die Sirenen losgingen. So ist wohl jede und jeder von uns schon einmal mit shampooniertem Kopf aus der Dusche gerannt, musste mitten in der Aufführung aus dem Theater fliehen (natürlich zusammen mit den Schauspielern und dem Orchester) oder während eines Videocalls in den Luftschutzkeller eilen – natürlich ohne das Gespräch zu unterbrechen! Die herzerwärmendste Geschichte aber hörte ich kürzlich von einer frischen Mutter: Als die Sirenen aufheulten, schnappte sich die Krankenschwester ihr gerade geborenes Baby und rannte damit schnurstracks in den Luftschutzkeller. Woraufhin die von der Geburt noch etwas ramponierte Frau langsam vom Gebärstuhl stieg und den beiden hinterherlief. Um erst im Schutzraum festzustellen, dass sie keine Unterwäsche, dafür ein kurzes Krankenhausnachthemd mit offenem Rücken anhatte. Statt »Ist mein Baby okay?« rief sie »Hat wer eine Unterhose übrig?« Alles krümmte sich vor Lachen.
Niemand hat es gern, ein Opfer zu sein. Und wenn man sich über seine schlimme Lage lustig macht, gewinnt man die Kontrolle darüber. Man wird vom Objekt zum Subjekt, zum Geschichtenerzähler, zur Autorin des eigenen Schicksals. Komik ergibt sich immer aus der Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Und was widerspricht den Erwartungen eines normalen modernen Menschen mehr als ein Krieg im eigenen Land?
Was wir jetzt brauchen, um zu überleben und nicht den Verstand zu verlieren, sind derber Humor und Lebenswille
Nur in Israel kann ein Neunzehnjähriger einen riesigen Panzer fahren und gleichzeitig in der Kfz-Versicherung für den Kia-Picanto seiner Mutter als »Fahranfänger« eingetragen sein. So geht einer der beliebtesten Witze bei uns. Wobei es sich, strenggenommen, natürlich gar nicht um einen Witz handelt.
Oder der hier: In einer Frauengruppe bei Facebook schreibt eine, wegen der Einberufung habe sie ihren Mann seit über einem Monat nicht mehr gesehen und ihm deshalb besorgte Nachrichten geschickt: »Mein Schatz, isst du auch genug? Gibt es warme Mahlzeiten? Kommst du zum Duschen? Hast du saubere Kleidung? Konntest du heute Nacht schlafen?« Allerdings ist sie diejenige, die in der Armee dient, während er die drei Kinder und das Haus hütet. Wieder lachen alle – darüber, dass sie auf ihre eigenen Geschlechterklischees reingefallen sind, aber auch, weil es wirklich ziemlich hart ist, einen Monat lang mit drei Halbwüchsigen allein zu sein.
Irgendwann später können wir mit unseren Therapeuten die Schmerzen, verschütteten Emotionen und Traumata vielleicht aufarbeiten. Aber im Moment bringt das nichts. Was wir jetzt brauchen, um zu überleben und nicht den Verstand zu verlieren, sind derber Humor und Lebenswille. From the river to the sea we all have PTSD.
Finden Sie das witzig? Nein? Wir schon. Uns bleibt nichts anderes übrig.
Neben der Liebe, natürlich. So hat eine umtriebige Freiwillige hat unseren Soldaten warme Lunchpakete zubereitet, und neben dem Essen enthielt jedes Paket auch die Worte: Emily, 34, ledig, und ihre Telefonnummer. Ich persönlich halte Emily für ein Marketing-Genie, aber viele andere, unverheiratete, junge Frauen in Israel reagierten zunächst mit verachtendem Kopfschütteln. Nur um sich alsbald selbst daran zu machen, Lunchpakete mit ihren Namen und Telefonnummern an die Militärstützpunkte unseres Landes zu verschicken. Offenbar erfolgreich, denn im letzten Monat tauchten in meinem Facebook-Feed fast so viele Hochzeiten und Verlobungen wie Traueranzeigen auf.
Oder wie eine Freundin jüngst sagte: »Auf der Welt passieren die unglaublichsten Dinge. Was keiner erwartet oder vorhergesehen hat, tritt plötzlich ein! Woran keiner geglaubt hat, ist Wirklichkeit: Wir leben in einem Krieg. Vielleicht heißt das auch, dass ich jetzt einen tollen Mann kennenlerne und ihn heirate?«
Aus dem Russischen von Jakob Walosczyk