Die Mermaid Parade an New Yorks Volksbadestrand in Coney Island ist ein bisschen wie Karneval, nur im Sommer. Alle gehen als Meerjungfrauen oder als Seeungeheuer. Die betörendste Meerjungfrau, gleichzeitig auch das eindrucksvollste Seeungeheuer, war dieses Jahr – wie in fast all den Jahren zuvor – eine divenhafte, blonde Frau. Aus ihren Brüsten wuchsen Tintenfischtentakel. Der linke Arm steckte in einer großen Hummerschere. Im rechten hielt sie eine Babypuppe mit zwei Köpfen, einer davon mit Vampirzähnen. Die Fotografen konnten nicht genug von ihr kriegen. Der Zug kam nicht voran deswegen. Sie winkte mit der siamesischen Babypuppe einem Mann auf der Tribüne der Preisrichter zu. Der Mann nahm seinen Sonnenhut und winkte zurück. Er sah sehr gelöst, sehr glücklich aus in dem Augenblick. Er hatte auch Grund dazu: Während sie diesen Auftritt hier vorbereitet hatte (zusammen mit dem Kostümbildner der Schockrock-Band GWAR), war endlich ihr Porträt fertig geworden. Möglicherweise das größte, detailreichste und aufwendigste, das je ein Mann von seiner Frau gemacht hat.
Vier Jahre! Vier Jahre lang hat er so gut wie jeden Tag acht Stunden in einem winzigen Zimmer in Brooklyn vor dieser Leinwand gehockt, dicke Vergrößerungsgläser vor den Augen, einen Pinsel mit nicht viel mehr als einem Haar in der Hand. Zwischendurch, zur Mittagszeit, ging er mal eine Stunde ins Gym, um den Rücken wieder gerade zu kriegen, dann malte er weiter. Er malte – nahezu lebensgroß – seine Ehefrau, und daneben malte er – miniaturhaft klein – ihre Familie, ihre Freunde, ihre Obsessionen und ihre Dämonen. Er malte, nur zum Beispiel, den Sänger Tom Jones, dem sie Schlüpfer auf die Bühne warf, als sie mit 13 begriffen zu haben meinte, warum Frauen so etwas tun. Und er malte, wie sie mit 17 von ihrem ersten Freund fast tot geprügelt wurde. Er malte die Schwester, die einen Hirntumor überlebt hat, und er malte den Hirntumor, den die Mutter nicht überlebt hat. Und Stewie, das vorlaute Kind aus der Trickfilmserie Family Guy. Und siamesische Sexpuppen. Und, und, und.
Er malte mehr erstaunliche, groteske, schreckliche und vergnügliche Details auf diese Leinwand als Hieronymus Bosch in seinen berühmten Garten der Lüste. Und als er damit fertig war, schrieb er mit schnörkeliger Schrift seinen Namen dazu: »Joe Coleman 2011–2015«. Der Name der Frau, in deren Erinnerungen, Lüsten und Ängsten er so tief herumgekrochen war, dass er von innen wieder herausschauen konnte, steht sowieso überall im Bild. Er lautet Whitney Ward. Was aber Whitney Ward tut, beruflich, dafür gibt es eine ganze Menge von Begriffen. Sie leuchten allesamt am Fußende aus dem Bild wie Neonreklamen in einem Rotlichtviertel: Therapeutin, Hetäre, Dominatrix … Mit den Absätzen ihrer High Heels zerquetscht sie ein wenig Gewürm, und eine Inschrift lehrt, dass das keineswegs nur symbolisch gemeint ist.
Dies hier ist, eigentlich, die Geschichte einer großen Liebe. Aber es kommt eine ganze Menge Leid darin vor, Grausamkeiten, auch elektrische Stühle und Gläser mit eingelegten Missgeburten darin. Eigentlich geht es um die dunkle, schillernde Welt von Joe und Whitney, dem glamourösesten Paar dessen, was vom New Yorker Underground noch übrig ist. Aber deshalb muss es eben auch darum gehen, was für diese beiden das Eigentliche ist: der Schmerz, ohne den die Lust und das Leben ihren Wert nicht hätten.
»Painting« kommt von »pain«, sagt Joe, und damit meine er nicht nur die strapaziöse Art, wie er malt, sondern auch was. Normalerweise verwendet er bis zu ein Jahr auf die Darstellung eines Serienkillers; normalerweise schildert er die Lebensgeschichten und die Horrortaten von Lustmördern in seinen Gemälden, die zu gleichen Teilen etwas von Altarbildern, Comics und Moritatentafeln haben. Es ist das, wofür Joe Coleman zu seinem Ruf gekommen ist, bei Kunstsammlern und Kuratoren genauso wie in jenen Subkulturen, die sich für das Makabre interessieren. Diese Welten sind ja gar nicht so weit voneinander entfernt, wie beide Seiten möglicherweise manchmal denken. Der Philosoph Edmund Burke war sich schon im 18. Jahrhundert sicher, dass vor der Wahl zwischen einer mehrstündigen Opernaufführung und einer öffentlichen Hinrichtung die meisten Leute das Letztere bevorzögen. Und Burke war immerhin derjenige, der den Schrecken – als »das Erhabene« – zu jener ästhetischen Kategorie erklärt hat, die heute in unseren Museen viel zentraler ist als das Schöne und Gute.
Wem die Tür zu Joe und Whitneys Wohnung in Brooklyn aufgetan wird, der kommt so gesehen auch in ein Museum. Joe nennt es sein »Odditorium«, wegen der vielen Oddities, der Seltsamkeiten, die er da angesammelt hat. Würden Joe und Whitney einen nicht mit freundlichen Worten und jeweils einer Kaffeetasse voll Weißwein begrüßen, könnte man sie im ersten Moment für zwei weitere der Wachsfiguren halten, die das Wohnzimmer füllen, zusammengetragen aus all den Gruselkabinetten, die in den vergangenen Jahrzehnten das Geschäft aufgegeben haben. Er trägt den dreiteiligen Anzug und den gezwirbelten Bart eines Schaubudendirektors aus dem 19. Jahrhundert; sie steht da, als könne wegen ihr jederzeit eine Saloon-Schlägerei losbrechen und auch nur von ihr wieder befriedet werden. Zwischen sich haben sie O. J. Simpson und Brigham Young, hochangesehenes Oberhaupt der Mormonen, in dessen Amtszeit allerdings nicht nur die Gründung von Salt Lake City fällt, sondern auch das Massaker von Mountain Meadows, bei dem seine Leute 1857 als Indianer verkleidet 120 durchreisende Siedlern abschlachteten. Und direkt daneben steht, diabolisch von unten beleuchtet, ein grinsender Präsident Nixon.
Warum auch Nixon?
»Just to fuck with them.«
Dass Joe ein unpolitischer Künstler wäre, kann man also schon mal nicht sagen, und mit Nixon hat er es irgendwie. Er besitzt auch eine Ampulle mit Nixons Blut, eine Regierungskrankenschwester hat sie Joe zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Die Ampulle wird nun neben indianischen Schrumpfköpfen und dem abgetrennten Penis aus Jörg Buttgereits Nekromantik 2 verwahrt. (Ein Geschenk des Regisseurs; Coleman war der Erste, der den in Deutschland verbotenen Autoren-Horrorfilm in den USA in ein Kino brachte.) In der Hauptsache dreht sich die Sammlung aber um so berühmte Serienmörder wie Richard Speck oder Ed Gein oder Charles Manson oder John Wayne Gacy. Mit einigen ist Joe in Briefkontakt. Manson schickte eine Haarlocke. Nachdem Joes Mutter gestorben war, schrieb Gacy, der Killer-Clown von Chicago, einen lieben Kondolenzbrief: »Ich hoffe, sie musste nicht leiden.«
Da gehe einem so dies und das durch den Kopf, sagt Joe, wenn einer so was schreibt, der 33 Jungen auf dem Gewissen hat. »Aber ich glaube trotzdem, er meinte das sogar aufrichtig.« Joe besitzt auch einen Brief, den der Sadist und Kannibale Albert Fish, Vorbild unter anderem für die populäre Gru-selfigur Hannibal Lecter, im November 1934 an die Mutter seines letzten Opfers schrieb. Man erfährt darin, wie das Mädchen schmeckte und dass es – dies offenbar beruhigend gemeint – als Jungfrau starb. »Jungfrau« unterstrichen.
Es ist das entsetzlichste Stück Papier, das man sich überhaupt nur durchlesen kann. Es ist die Magna Charta der Kriminalgeschichte, sagt Joe Coleman. Das Schreiben hängt als wertvollstes Stück seiner Sammlung fein gerahmt und hinter Glas an der Wand. Kann man unter so etwas auf dem Sofa sitzen und Händchen halten, bis der Gast das Gefühl hat, er sähe eine etwas regietheaterhafte Variante von Philemon und Baucis auf der Bank vor ihrer Hütte? Joe Coleman und Whitney Ward können das. Das glücklichste Ehepaar der antiken Mythologie war gesegnet, weil es, lesen wir bei Ovid, selbst zweifelhaft auftretenden Göttern seine Gastfreundschaft gewährte.
Das glücklichste Ehepaar der New Yorker Fetischszene hält es im Prinzip genauso. Denn wer sind denn die Götter in der noch jungen Mythologie Amerikas, wenn nicht all diese Outlaws, deren grausame Grenzüberschreitungen wieder und wieder in Filmen, Liedern, Büchern besungen wurden und werden, zum vergnügten Grusel unbescholtener Bürger. Warum das so viele Leute fasziniert?
Komplexe psychologische Frage, schreibt der Kulturwissenschaftler Harold Schechter von der City University of New York in seinem Standardwerk The Serial Killer Files. Vielleicht, um sich für die Dauer eines Buches oder eines Filmes mit denen zu identifizieren, die jene dunklen, ungeregelten Impulse ausleben, die der Rest von uns zivil unterdrückt. Vielleicht aber auch, um damit das eigene zuckende Leben zu feiern. Es handelt sich ja immer nur um ein Überleben, wenn zum amerikanischen Traum vom guten Leben immer der amerikanische Albtraum gehört, dass der nett winkende Nachbar sich als Psychopath entpuppt, der in seiner Garage gleich die Säurefässer umrühren geht. So ein Leben, gerade in Amerika, ist also eher ein glückliches Davonkommen. Und unter diesem Blickwinkel ist dann auch Romantik möglich.
Der Satz, mit dem er Whitney rumgekriegt hat?
»Ich habe da einen neuen Tumor in einem Einweckglas; könnte sein, dass der dir gefällt.«
Whitney sagt, dass sie damals, 1997 muss das gewesen sein, auch noch als Fotogra- fin und Filmemacherin gearbeitet hat. »Ich drehte gerade ein Video für die Band Nashville Pussy, als Joe da mit einer Entourage von Motorrad-Rockern reinmarschiert kam.«
Joe sagt: »Deren Präsident war eines Tages mal zu einer meiner Ausstellungen gekommen, weil er sich eine Jacke aus Ratten gemacht hatte; die wollte er mir zeigen, eine Felljacke aus Ratten, wir wurden dann Freunde.«
Whitney sagt: »Er kam jedenfalls rein und erzählte, dass eine neue Dokumentation über ihn gedreht werde. Und sein neues Buch sei gerade herausgekommen. Und ich: Toll, toll.«
Joe: »Ich konnte einfach ihre Aufmerksamkeit nicht kriegen. Da hab ich dann das mit den Tumoren gesagt. Das hat funktioniert.«
Whitney: »Nach der ganzen freundlichen Konversation dachte ich: Wow, das ist mal eine Einladung.«
Joe: »Der Spruch muss ja nur ein einziges Mal funktionieren.«
Whitney: »Und dann hast du meine Telefonnummer auf einer Einladung zu einer Hustler-Party notiert. Das Bild zeigte Frauen, die in einen Fleischwolf geschoben werden.« Whitney wusste ja, mit wem sie sich Joes Sensibilität und Einfühlung zu teilen haben würde.
Dann biss er den beiden Mäusen, die eine nannte er Mommy, die andere Daddy, die Köpfe ab.
Joe Coleman, geboren am 22.11.55 in Norwalk, Connecticut, und aufgewachsen in der Ward Street Nummer 99, glaubt zwar eher an die schicksalhafte Kraft solcher Schnapszahlen als an den lieben Gott. Aber er wurde eben auch als Katholik erzogen, und als er das erste Mal einen Mann malen durfte, der mit Nägeln durch die Hände an ein Kreuz gehämmert wird, war ein Faible für Splatter geweckt, an welchem der Priester sozusagen selbst schuld war, dem er dann im Beichtstuhl zum Spaß Serienmorde gestand, die er sich ausgedacht hatte. (In dem schönen Dokumentarfilm Rest in Pieces, der vor vielen Jahren über Joe gedreht wurde, erzählt er diese Geschichte seinem begeisterten Fan Jim Jarmusch. Dabei sitzen die beiden in einer Kirche und rauchen Zigaretten, als wären sie wieder Schuljungen, die mal gucken wollen, ob das ein Donnerwetter setzt.)
»Es gibt diese vielen Heiligen, denen Augen ausgerissen und Brüste abgeschnitten wurden, die geköpft, gerädert und verbrannt wurden«, sagt Coleman. »Aber was ist eigentlich mit denen, die ihnen die Augen rausreißen, die foltern, rädern und köpfen, was ist mit deren Leben und deren Seelen?«
Man hat die Bilder von Joe Coleman immer in eine ehrenvolle Tradition mit den deutschen Lustmord-Malern George Grosz und Otto Dix gestellt, in Deutschland auch direkt daneben ausgestellt. Aber es könnte sein, dass es darin noch ganz andere, viel katholischere Anklänge gibt. Es könnte sein, dass in dem langen, quälenden Malen dieser verkorksten Lebenswege eine Art Buße liegt, die Joe stellvertretend auf sich nimmt.
Es ist ja nicht so, dass er Mord und Totschlag guthieße. Aber es ist schon so, dass er einen Verlust geltend macht, wenn eine Stadt wie New York, die lange für ihre dunklen Seiten, ihre Gefährlichkeit und ihren schimmernden Schmutz bekannt war, in den vergangenen zwanzig Jahren mit rücksichtsloser Gewalt zu einer der sichersten und touristenfreundlichsten Hochglanzgroßstädte der USA zurechtgetrimmt wurde.
Joe kam mit 17 in die Stadt und wurde Taxifahrer, genau zu der Zeit, als der Film Taxi Driver herauskam. Er sah, was Robert De Niro als Travis Bickle sah. Aber im Gegensatz zu dem fand Coleman Gefallen am Heroin und an der Verkommenheit des Rotlichtbezirks rund um den Times Square. »Eine anständige Großstadt braucht so was«, sagt Joe. »Hat Hamburg doch auch.«
Damals gab es in New York keine Musicaltheater, an deren Kassen kurzhosige Touristen aus Texas mehrere hundert Dollar für eine Karte abdrücken, damals gab es hier noch Freakshows, in denen es nach dem Urin der Stammgäste roch, die an den Tischen betrunken ihre Tage verdämmerten. Damals wurden mit dem Wort Geek auch noch keine Internetmilliardäre bezeichnet, sondern Leute, die auf Bühnen Tieren den Kopf abbissen.
Joe Coleman beschloss, der erste Geek der Performancekunst zu werden. Sechs Tage nachdem seine Mutter gestorben war, ließ er, als Begräbnisfeier, in einem Theater in Boston zunächst einmal eine halbe Stunde lang Pornofilme aus den Fünfzigern auf einen Papiervorhang projizieren. (Denn er war ja das Produkt eines Sexualakts in den Fünfzigerjahren.) Dann kam er an seinem Seil von der Decke hängend durch die Papierbahn auf das Publikum zugeschossen, und da er Feuerwerkskörper um den Leib gebunden hatte, explodierte er über der verdutzten Menge. Danach löschte seine erste Frau Nancy das Feuer mit Blut – Schweineblut aus einer Metzgerei – und schnitt ihn mit einer Schere vom Seil. (Denn es ist die erste Frau, die einen Mann endgültig von der Nabelschnur der Mutter trennt.). Dann biss er den beiden Mäusen, die eine nannte er Mommy, die andere Daddy, die Köpfe ab. Den von Daddy spuckte er ins Publikum, den von Mommy verschluckte er. (Denn er wollte seine Mutter in sich aufnehmen.)
Die Kunstwissenschaftlerin Cynthia Carr widmete daraufhin ein ganzes Kapitel ihres Buches über die Kunst der Performance diesem wilden, bärtigen Mann, der mit der eigentlichen Performancekunstszene jener Zeit ansonsten gar nichts zu tun haben wollte, einzige Ausnahme: die blutsudelnden Wiener Aktionisten. Wer sich genauso sehr für seinen Auftritt interessierte, war die Polizei, die wegen »Besitzes einer Höllenmaschine« gegen Joe ermittelte, eines Tat-bestandes, von dem seit den 1820er-Jahren in Nordamerika niemand mehr gehört hatte.
Auch wenn Joe sich heute im Wesentlichen auf den performativen Akt des Malens beschränkt, denn das ist ja aufreibend genug, kann man ihn manchmal ausnahmsweise auf einer Bühne erleben. In diesem Frühjahr zum Beispiel hatte er in den Slipper Room geladen, ein kleines, plüschiges Theater im ersten Stock eines Mietshauses der Lower East Side. Auf der Bühne, die aus Platzmangel höher ist als breit, tanzen normalerweise nackte Frauen mit bunten Bommeln auf den Brustwarzen (»Burlesque«). Joes alter Kumpan Jonathan Shaw las aus seinem neuen Roman. Shaw war einmal der Prominenten-Tätowierer von Los Angeles gewesen, bevor er sich als Romancier nach Rio absetzte. Was er las, war die Beschimpfung eines deutschen Sextouristen durch eine brasilianische Drogenprostituierte.
Dabei wurde Shaw von einer Band unterstützt, die seinen rhythmischen Sermon mit Schlagzeug, Gitarre und Bass begleitete. Lydia Lunch, die Mutter Courage des New Yorker Punk, war noch einmal aus ihrem Exil in Barcelona zurückgekommen und bellte ein paar derbe Verse. Joe führte wie ein Zirkusdirektor in Frack und Zylinder durch den Abend. Und am Ende sagte er mit Billy Leroy Sketche aus den Vaudeville-Bühnen der Zwanzigerjahre auf. Billy Leroy? Ein Mann, der aussieht wie der Schauspieler Sky Dumont und auf der Bowery den letzten Trödelladen betreibt, ein sogenanntes New Yorker Original. So wie früher mal Lydia Lunch. Und so wie Coleman selber. »Das ist die Familie«, erklärt Whitney, die bei so etwas die Einladungen verschickt und sich darum sorgt, dass alle gute Laune haben. »Die Familie ist wichtig.«
Die Familie von Whitney und Joe, das ist ein New York, das es eigentlich nicht mehr gibt. Whitney und Joe nennen diese Leute ihre Kinder. Außerdem gibt es die beiden Missgeburten im Einweckglas, denen sie ihre elterlichen Gefühle widmen. Es war nicht unbedingt wahrscheinlich, dass zwei Menschen zusammenfinden, die das so bedingungslos können. Joes erste Frau hatte Probleme mit den Geistern im Odditorium und wollte einige der Schrumpfköpfe und Mumien loswerden. Joe und sie trennten sich, als Whitney ins Spiel kam. Joe erzählt in seinem Bild von seiner grenzenlosen Rührung, wenn er zum Beispiel sieht, wie Whitney sich bei einem Paar kaputter Flip-Flops für die jahrelangen Dienste an ihren Füßen bedanken kann. Denn wenn man schon an den Animismus glaubt, an die Lehre von der Beseeltheit der Dinge, darf man vor Gummischlappen nicht Halt machen damit.
Whitney wiederum wusste, dass sie Joe heiraten würde, seit sie zwei Jahre alt war. In dem Bild, das er von ihr gemalt hat, taucht am rechten Rand ein sehr bundesrepublikanisches Wohnhaus auf. Da hat sie als Kleinkind gewohnt, als der Vater mit der Army in Stuttgart stationiert war. Und dort hat sie den Weihnachtsmann aus Stoff erhalten, den sie für »das niedlichste Ding auf der Welt« hielt. Sie hat die Puppe heute noch. Und wenn sie sie neben Joe hält, erübrigt sich die Frage, warum die beiden einfach heiraten mussten: Seine Ähnlichkeit mit Whitneys Weihnachtsmann ist, bis in die Bartspitzen hinein, wirklich striking. Es musste für sie jemand sein, der hochtalentiert ist in irgendetwas und der ihren Hang zum Bizarren teilt. Und der mit ihrem Beruf klarkommt. Das ist ja auch nicht unbedingt einfach. Nicht einmal für sie selber.
Whitney sagt, sie habe Anfang der Neunziger befunden, dass ihr Lack und Leder stehen, und sie kann auch recht amüsant davon berichten, wie überaus höflich und lieb es zum Beispiel bei den Fetischpartys in Berlin zugehe, zu denen sie ihre meist recht wohlhabenden Klienten von der Upper East Side mitunter begleitet. Aber dann gibt es auch so verstörende Kunden wie den, der von ihr Würmer zertreten haben wollte. Ein Vietnam-Veteran mit »Crush-Fetisch«-Fantasien. Und bei den Würmern blieb es nicht. Er brachte auch Goldfische und schließlich weiße Mäuse. Joe schreibt in seinem Bild: »Whitney nahm die Schmerzen dieser gepeinigten Seele auf sich. Obwohl es ihr zuwider war, ›zertrat‹ sie die Würmer und den Goldfisch. Aber sie weigerte sich, auch die Mäuse zu zertreten. Den Klienten sah sie nie wieder.« Der Goldfisch steckt nun auf dem Porträt erdolcht in der unteren Bildmitte auf ihrem Zwölfzentimeterabsatz.
Es ist schon erstaunlich, dass einen von all den Grausamkeiten, die Joe Coleman in seinem gewaltigen Werk dargestellt hat, dieses eine Detail fast am meisten schockiert. Ein toter Goldfisch. Vielleicht kommt das, weil man weiß, wie zum Heulen tierlieb Whitney eigentlich ist. Und dass sie hier über eine persönliche Schmerzgrenze hinausging. Es ist ein dunkler Punkt in bunten Farben, ein Sündenfall. Keine Ahnung, ob Eheberater das generell empfehlen würden, so einen Gewaltakt der Empathie.
»Es ist das intensivste Porträt, das ich je gemalt habe«, sagt Joe.
Eine Weile stand es noch in dem kleinen Atelier mit Blick auf Charles Manson, Richard Speck und den grinsenden Nixon. Dann wurde es zu Jeffrey Deitch geschafft, der seit Kurzem Joe Colemans Händler ist und jetzt eine neues Zuhause dafür sucht. »Kein Trennungsschmerz«, sagt Joe. »Die Dinger müssen aus dem Haus, wie Kinder, und ihr eigenes Leben führen.«
Auf der Staffelei ist jetzt im Prinzip wieder Platz für die traurige Lebensgeschichte irgendeines wahnsinnigen Killers. Amerika produziert ja täglich neue. Aber noch hat Joe Coleman nicht wieder mit dem pinselnden Mitleiden angefangen. Noch müssen erst einmal vor allem gute Nachrichten verarbeitet werden.
Dass sein Porträt von Whitney diesen Dezember auf der Art Basel Miami Beach seine Publikumspremiere feiern soll, zum Beispiel. In einer Sonderausstellung der Händler Jeffrey Deitch und Larry Gagosian; eine spektakulärere Bühne gibt es auf dem US-Kunstmarkt eigentlich nicht.
Oder, fast wichtiger: Dass Whitney bei der Mermaid Parade von Coney Island wieder einmal auf der Siegertreppe stand. Zweiter Platz in der Kategorie »Best Sea Creature«. Auch wenn Joe findet, dass Whitney grundsätzlich der erste Platz gebührt.
Fotos: Todd Selby