Wir springen nach vorn, ins Jahr 2015, ein Freitag im Januar: Soeben hat der Bundesvorsitzende der Grünen, Joseph Fischer, 66, seinen Rückzug vom Parteivorsitz verkündet. Fischer zieht damit die Konsequenzen aus dem Wahldebakel bei der Bundestagswahl im Herbst 2014 und der anschließenden Führungsdebatte. Seine Anhänger feiern ihn in Sprechchören, sie nennen ihn »Joschka«, wie früher. Selbstkritisch merkt Fischer an, das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde »hätte vermieden werden können, wenn wir alle die Warnsignale ernster genommen hätten«. Nun müssten frische Kräfte sich an den Neuaufbau der Partei machen. Aus dem Frankfurter Römer bietet die frühere Parteisprecherin Jutta Ditfurth Hilfe an, die sich 1991 mit der »Ökologischen Linken« von den Grünen abgespalten hatte und als Frankfurter Stadtverordnete nach wie vor einzige Mandatsträgerin ihrer Gruppierung ist. Zwei Tage später sagt Fischer bei Sabine Christiansen, es sei ein Fehler gewesen, dass er sich zum Kanzlerkandidaten der Grünen ausrufen ließ. Er werde sich nun aus der Tagespolitik zurückziehen. Der Politologe Jürgen W. Falter, noch immer regelmäßiger Talkshow-Gast, findet, das grüne Projekt sei »tot, mausetot«. Wie konnte es bloß so weit kommen? Gehen wir zurück ins Jahr 2005. Haben die Grünen ein Problem? Es sieht nicht danach aus, im Gegenteil. Die Partei steht in vollem Saft, sie sitzt in der Regierung, stellt den Vizekanzler, der sich in den Umfragen auf Platz eins der Beliebtheitsskala etabliert hat. Ihre Umfragewerte liegen beständig im zweistelligen Bereich, selbst erkennbare Schwächen der Regierungsarbeit werden lediglich dem Koalitionspartner SPD negativ angerechnet. Seitdem sich die einstmals alternative Bewegung von ihren fundamentalistischen Weggefährten wie Ditfurth getrennt hat (oder umgekehrt), hat sie einen beständigen und verlässlichen Weg eingeschlagen, der die Grünen bis in weite Kreise des Bürgertums wählbar machte. Kurz und gut: 25 Jahre nach ihrer Parteigründung im Januar 1980 muss man sich um diese Grünen keine Sorgen machen. Oder etwa doch? »Die Grünen haben ihren Zenit überschritten«, sagt ebenjener Jürgen W. Falter schon heute, eine Analyse, die zunächst erstaunt, angesichts der 8,6 Prozent von 2002, des bislang besten Wahlergebnisses, das die Grünen je bei einer Bundestagswahl erzielten. Doch Falter ist überzeugt, dass es vom jetzigen Niveau aus bergab gehen wird. Untersuchungen hätten gezeigt: Schon seit Mitte der neunziger Jahre zählen immer weniger Deutsche zur Stammwählerschaft der Grünen – ein Trend, der sich aber nicht unmittelbar an Wahlergebnissen ablesen lässt. Der Anteil an Grünen-Wählern, der als fest an die Partei gebunden zu betrachten ist, sinkt demnach schon seit 1996, zumindest Teile der Kernklientel sind den Grünen in dieser Zeit weggebrochen. Die Grünen würden sich in falscher Sicherheit wiegen, so Falters Erkenntnis, wenn sie dies ignorierten. Ein solcher Ansatz wäre neu für die Partei, in der viele stets der Überzeugung waren, die Zustimmung der Wähler wachse auch in Zukunft gleichsam automatisch und der Erfolg der Grünen sei gar nicht aufzuhalten – auch nicht durch gelegentliche Betriebsunfälle wie das Trauma von 1990, als die westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl den Wiedereinzug ins Parlament nicht schafften. Unter Politikwissenschaftlern wurde diese These als »Generationen-Wasserscheide« bekannt. Sie besagt, die Gründung der Grünen vor 25 Jahren falle zusammen mit einem umfassenden Wandel der Werte, die das Handeln der Menschen bestimmen: weg von materiellen, hin zu ideellen und moralischen Werten, wie sie die Grünen verkörpern. Und dass sich diese Entwicklung auf alle Folgegenerationen übertrage, die damit wiederum stark zur Wahl der Grünen neigten. Das Grüne Projekt wäre demnach fast ein Selbstläufer.
Doch genau das ist es nicht: In den 25 Jahren ihres Bestehens haben es die Grünen nicht geschafft, ihre Anziehungskraft auf die Jugend zu erhalten und auszubauen. Die Wahlstatistik für die Bundestagswahl 2002 zeigt, dass die Grünen in Westdeutschland in der Gruppe der 35- bis 45-Jährigen am besten abschnitten (12 Prozent). Bei den Jüngeren sinken die Werte deutlich – ein Trend, der, wenn er anhält, irgendwann zum Problem für die Partei werden muss. Von einer Erstwählerpartei kann also keine Rede mehr sein. Ein Vierteljahrhundert Grüne, das heißt auch, die Kernwählerschaft ist 25 Jahre älter geworden. Die Grünen werden eindeutig grau. Ein zweites Problem kommt hinzu: Bis heute ist es den Grünen nicht gelungen, eine wirklich gesamtdeutsche Partei zu werden. Auch 15 Jahre nach dem Zusammenschluss mit dem »Bündnis 90« sind sie eine westdeutsche Partei mit lediglich sporadischen Erfolgen im Osten geblieben. Die Wähler im Osten sind einfach nicht mit dieser Partei groß geworden. Da ist ihnen einiges entgangen. Gehen wir zurück ins Jahr 1980. Am 12. und 13. Januar gründen sich die Grünen in Karlsruhe offiziell als Partei, nachdem sie schon zuvor als politische Vereinigung an den Europawahlen teilgenommen und beachtliche 3,2 Prozent erzielt haben. Joschka Fischer ist noch nicht dabei, auch Daniel Cohn-Bendit hat mit den Grünen noch nichts am Hut. Am Podium steht eine zierliche EG-Verwaltungsrätin: Petra Kelly. Sie will eine »Anti-Parteien-Partei«. Jutta Ditfurth ist da, Thomas Ebermann, Herbert Gruhl und viele andere heute fast Vergessene. Das Wochenende verläuft chaotisch, es gibt massiven Krach darüber, ob linksradikale Gruppen in die Partei dürfen – ein erster Vorbote des später so bedeutsam werdenden Streits zwischen Fundis und Realos, ohne dass es diese Etiketten schon gäbe. »Am Ende grüner Hoffnungen«, ist daraufhin der Leitartikel in der SZ überschrieben, »chaotischer ging’s nimmer«, schreibt der Spiegel. Die Grünen geben sich in diesen Tagen als Bürgerschreck und ihr Programm fällt entsprechend aus: Sofortiger Atomausstieg, einseitige Abrüstung, Auflösung von Nato und Warschauer Pakt, ökologische Kreislaufwirtschaft statt Profitorientierung – so lauten die Parolen. Und was ist davon geblieben? 25 Jahre später haben die Grünen die Verhältnisse entweder geändert – oder ihren Frieden mit ihnen gemacht. Der Siegeszug vieler ihrer Ideen ist unbestritten, Deutschland hat einen grünen Umweltminister, die Bundesländer und Kommunen sind mit für Ökologie zuständigen Behörden reichlich gesegnet. Der Atomausstieg kommt zwar nicht sofort, aber er kommt. Die »Homo-Ehe« ist da und das Thema Nachrüstung hat sich längst erledigt. Auf der anderen Seite: Niemand hat mehr etwas gegen Profit, zum Thema Nato heißt es im 2002 verabschiedeten neuen Grundsatzprogramm, sie spiele »samt dem dauerhaften amerikanischen Engagement in Europa ... eine wichtige Rolle«. Zwischenzeitliche Anwandlungen, den Benzinpreis auf fünf Mark pro Liter anzuheben, sind längst vergessen. Und ist es nicht ein Witz, dass auch in der zweiten Legislaturperiode mit grüner Regierungsbeteiligung auf deutschen Autobahnen ohne Tempolimit gerast werden darf wie eh und je? Spätestens seit dem Beginn der rot-grünen Koalition, also seit 1998, ist aus einem ehemals rebellischen Verein eine gezähmte Organisation geworden.
Dies wäre dann das zweite große Problem der Grünen: Ihre großen Anliegen mögen zwar nicht erledigt sein, deren Strahlkraft aber nimmt ab, weil viele Reizthemen verschwunden sind, abgearbeitet oder vergessen. Schon immer hat die grüne Seele großen Wert auf politische Symbole gelegt, ob sie Wackersdorf hießen, Startbahn-West oder Hanau. Doch wie die Anhänger mobilisieren, wenn von alldem nur noch der pflicht- und turnusgemäße Anti-Castor-Protest übrig bleibt, der auch nur wenige so richtig hinter dem Ofen vorholt? Zukunftsforscher wie der Berliner Professor Rolf Kreibich empfehlen der Partei, »ihre Kräfte auf die großen Herausforderungen des globalen Wandels« auszurichten, auf Themen also wie Süßwasserknappheit, Artensterben oder Hunger und Armut. Aber ziehen die auch genügend Wähler an, von denen immer mehr ganz hautnah spüren, dass die Zeiten schwieriger werden? Vielleicht wird es also den Grünen gerade in einem Jahrhundert »grüner« Themen – Globalisierung, Klimawandel, Migration – immer schwerer fallen, ihre eigene Klientel zu mobilisieren und neue Anhänger hinzuzugewinnen. Was könnte dann helfen? Noch mehr Joschka? Bisher lautete ja so stets die Antwort der Partei. Joschka hat für sie die Wahlen gewonnen, Joschka hat sie in die Regierung geführt, Joschka hat aus einem bis aufs Blut zerstrittenen Haufen eine Partei geformt, die organisiert ist wie die früher so bekämpften Altparteien auch. Nur einen alleinigen Vorsitzenden gibt es bislang nicht, was Joschka Fischer schon einmal bemängelt hat. Und auch einen Kanzlerkandidaten hatten die Grünen noch nie. Ob Fischer einmal beides sein könnte, vielleicht bei der Bundestagswahl 2014, als großer Staatsmann »Joseph Fischer«? Spätestens von diesem Punkt an dürften sich die Analysen häufen, Fischer sei eine Art Kohl der Grünen: einerseits Motor und Zugpferd, andererseits Hemmschuh und Fleisch gewordene Selbstblockade. Von dort wird es vielleicht nicht mehr weit sein, bis aus der Partei die Rufe kommen: »Fischer muss weg!« Und das Rechnen wird beginnen, wie groß der Anteil Fischers an den Erfolgen denn nun wirklich war und ist. Eine Partei, die schwerpunktmäßig nur von einer Generation getragen wird, der die großen Themen wegzubrechen drohen, die abhängig ist von einem Übervater – eine solche Partei könnte schneller in Turbulenzen kommen, als sie denkt. Schon heute glauben Wahlforscher, das gute Abschneiden der Grünen bei Wahlen und Umfragen beruhe vor allem auf den vielen »Leihstimmen« aus der SPD-Anhängerschaft, so wie einst bei der FDP in der christlich-liberalen Koalition. Und darauf, dass zahlreiche SPD-Anhänger, die mit dem momentanen Zustand ihrer Partei unzufrieden sind, zeitweise auf die Grünen ausweichen. Auf solche Stimmen aber kann eine Partei nicht bauen. Januartage im Jahr 2015: Joseph Fischer hat abgedankt, die Partei macht sich auf die Suche nach einem Nachfolger, die Stimmen mehren sich, ob man es nicht doch, wie früher, wieder mit einem Sprecherduo versuchen soll, paritätisch besetzt. Von einer künftigen Kanzlerkandidatur spricht niemand mehr. Auf dem nächsten Parteitag soll Fischer der Ehrenvorsitz verliehen werden. Er hat schon signalisiert, dass er diesen Titel annehmen wird.