Nachts, wenn die Soldaten mit ihren Kalaschnikows von den Toren abgezogen sind und nur eine silberne Mondsichel über dem bröckeligen Bollwerk wacht, wird die alte Zitadelle von Erbil zur Geisterstadt. Dann verschließt Mohammed Qadr Ali dort oben die Tür seiner kleinen Backsteinhütte, schaltet den Fernseher ein, und die Belagerung beginnt aufs Neue.
Diesmal sind es die Horden Dschingis Khans, die im TV gegen die Mauern der Zitadelle anrennen, die wenige Meter hinter Alis Gemüsegarten stehen. Das war vor knapp 800 Jahren, und es lief nicht gut für die Mongolen. Sie mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Alexander der Große hatte mehr Glück. Er machte im Jahre 331 vor Christus einen Bogen um die Zitadelle und schlug den persischen König Dareios den Dritten in der Nachbarschaft. Die Schlacht von Arbela wurde zwar nicht im Fernsehen gezeigt, aber immerhin von Jan Brueghel dem Älteren gemalt. Gerade sind die letzten Amerikaner abgezogen, und in der Stadt zu Füßen der alten Zitadelle hat ein Bauboom begonnen. Der Kontrast könnte größer nicht sein: Unten in der Millionenstadt werden Luxushotels und Shoppingmalls aus dem Boden gestampft. Oben auf dem Hügel lebt Mohammed Qadr Ali mit seiner Familie, sie halten als letzte Zitadellenbewohner die Stellung.
Der Hügel macht von außen nicht viel her. Ein knapp dreißig Meter hoher Schichtkuchen, auf dem einige Hundert halb verfallene Lehmhäuschen von einem bröckeligen Wall umgeben werden.
Aber er ist uralt. Die Zitadelle von Erbil ist laut UNESCO die älteste kontinuierlich bewohnte Stätte der Menschheit. In 8000 Jahren lebten hier, in diesem weltfernen Winkel im Norden Iraks: Sumerer, Babylonier, Assyrer, Perser, Römer, Mongolen, Araber, Ottomanen.
Der Kurde Mohammed Qadr Ali zog erst 1976 auf die Zitadelle von Erbil. Da drängten sich bereits Hunderte von Familien in den engen Gassen und Häusern. Es wurden immer mehr, als Saddam Hussein begann, massenweise kurdische Dörfer dem Erdboden gleichzumachen, und die Überlebenden in die Provinzhauptstadt Erbil flüchteten.
Die reichen Familien waren längst in die Stadt gezogen und hatten sich weitläufige Villen gebaut, als man sich in der Stadtverwaltung bewusst wurde, welch historischen Schatz man hier verkümmern ließ.
Bereits im letzten Jahrhundert wurde renoviert, doch nicht immer mit glücklicher Hand. In den Fünfzigerjahren riss man die mittelalterliche Moschee ab und setzte ein Beton-Gotteshaus an ihre Stelle. 1979 ließ Saddam an der Südseite ein Riesentor im neo-babylonischen Stil errichten.
Der 1775 gebaute Hamam wurde um 1980 »grundsaniert« – es blieb kein Stein auf dem anderen. Die Hausbesetzer schließlich mauerten in den alten Bürgerpalästen ohne Rücksicht auf die Architekturgeschichte drauflos oder ließen die Wohnhäuser verfallen. Hafenstraße auf Irakisch.
2006 zog man bei der Stadtverwaltung die Notbremse: Innerhalb von drei Tagen wurden alle Zitadellenbewohner zwangsumgesiedelt. Dafür gab es 4000 Dollar und ein Vorstadthaus für jede Familie. Nur Mohammed Qadr Ali blieb oben, denn man brauchte ihn.
Während seine Frau im Gemüsegarten Tomaten pflückt, sitzt das Familienoberhaupt im wallenden Beinkleid mit Kummerbund beim alten Feigenbaum, stützt die Hände auf die Knie und erzählt, warum er als Letzter hier oben die Stellung halten muss. »Es war nicht meine Entscheidung, es war meine Pflicht.«
Da ist einmal der riesige graue Wassertank neben seinem Haus, den die britischen Besatzer in den Zwanzigerjahren auf die Zitadelle gestellt haben und der regelmäßig gewartet werden muss.
Und da ist, was den heutigen Stadtvätern noch viel wichtiger schien, die jahrtausendealte Tradition, die nicht abreißen durfte. »Ist es nicht schön, dass man hier eine Familie wohnen lässt und nicht irgendwelche Museumswärter?«, fragt der Großvater stolz.
Besonders komfortabel kann es nicht sein im Bungalow unter dem Wassertank, jedenfalls nicht für eine neunköpfige Familie. »Aber wir vertreten die Menschen, die viele Tausend Jahre hier lebten«, ruft Alis ältester Sohn Rebwar begeistert und wippt den kleinen Reder, die dritte Generation, auf seinem Knie.
Mein Haus, mein Wassertank, meine Zitadelle. 8000 Jahre Tradition. Sie waren nicht von Anfang an dabei, die Kurden, und es lief nicht immer gut für sie. Aber jetzt scheinen sie zum ersten Mal in der Geschichte angekommen zu sein.
Erbil ist keine zerbombte Mondlandschaft, sondern eine Großbaustelle
Die Straße in die Zukunft des Irak ist frisch planiert und gut gesichert. Wer vom Flughafen Erbil ins Zentrum der kurdischen Millionenstadt im Nordirak fährt, muss Betonsperren umkurven, drei Checkpoints passieren und zwischendurch das Taxi wechseln.
Dann geht die Fahrt auf offener Straße weiter, vorbei an in die Ebene hingewürfelten Häuserklötzchen, zwischen denen Gebäudegerippe emporragen. An den Kreuzungen weisen Schilder den Weg: Bagdad (350 Kilometer), Mossul (90 Kilometer), Kirkuk (95 Kilometer). Namen, die sich eingebrannt haben ins westliche Gedächtnis als Namen für nichts Gutes.
Den Namen der Stadt Erbil aber kennt im Westen kaum einer. Freunden, denen man von der Reise erzählt, entlockt er bestenfalls ein Achselzucken. Das wilde Kurdistan kennen die meisten nur von Karl May und den Irak aus der Tagesschau.
Zum Glück gibt es die Experten vom Auswärtigen Amt. Da fragt man einfach mal ganz offen. »In Bagdad kann jeder Depp einen Terroranschlag verüben«, skizziert ein deutscher Diplomat die Sicherheitslage. »In Mossul muss man schon gutes Mittelmaß sein. In Erbil ein richtiger Profi.«
Plötzlich ein dumpfes Wummern in der Ferne. Über den Dächern steigt eine dünne, schwarze Rauchsäule auf. Es sieht nicht gut aus auf den ersten Blick. Aber wir sind ja nicht hierhergefahren, um dem ersten Blick zu vertrauen, diesem allabendlichen Fernsehbilderblick auf blutverschmierte Leichen, zerfetzte Autos und bärtige Terrorpaten im Irak, der sich seit 2003 fest in die Netzhaut eingebrannt hat.
Was auch immer der »Krieg gegen den Terror« in den letzten acht Jahren hier vor Ort bewirkt hat – in den Köpfen westlicher Fernsehzuschauer hat er Verheerungen hinterlassen.
Man muss sich im hellen Mittagslicht der irakischen Dezembersonne erst den Nebel aus den Augen waschen, den die Amerikaner den »Fog of War« nennen, Nebel des Krieges, dessen täuschende Wirkung schon Clausewitz kannte. Man muss genau hinsehen, hinter die eingeübten Bilder, die sich einem unwillkürlich auf die Augen legen.
Wenn der Schleier weg ist, sieht man: Erbil ist keine zerbombte Mondlandschaft, sondern eine Großbaustelle.
Kempinski, Marriott, Sheraton, Hilton, an allen Ecken und Enden wummern Presslufthämmer, pflügen Bagger die Landschaft um. Moderne Hotelkomplexe und glitzernde Shoppingmalls, erstanden auf Ruinen.
Noch sind nicht alle angekommen. Die schwarze Rauchsäule – kein Anschlag auf eine Polizeistation, sondern auf die Umwelt: schon wieder einer, der im Vorgarten seinen Hausmüll verbrennt.
»Dat kütt noch«, sagt Nihad Qoja und lacht. Der Mann, der sogar noch das Dosenpfand im Irak einführen könnte, sitzt in einem großen Büro im Rathaus von Erbil und gibt sich nachsichtig mit seinen Landsleuten. »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.«
Seit 2004 ist der Kurde mit deutschem Pass und rheinischem Zungenschlag hier Bürgermeister. Er hat korrupte Apparatschiks gefeuert, Grünstreifen anlegen lassen und seinen Mitbürgern die deutsche DIN-Mülltonne in ihre irakischen Vorgärten gestellt.
Umweltschutz im Krisenstaat – geht es deutscher? Der 53-Jährige zupft ein paar Büroklammern aus der Spielzeugmülltonne auf seinem Schreibtisch: »Ich musste mich hier auch erst integrieren.« Alle drei Monate fährt er für zwei Wochen nach Bonn, wo seine Familie lebt.
»Die Deutschen sind hier mit am beliebtesten«, sagt der HSV-Fan Qoja. Gestern war er auf dem Konzert einer deutschen Hip-Hop-Band, die von über tausend irakischen Schülern begeistert gefeiert wurde. »Aber als Investoren spielen sie leider noch im Mittelfeld.«
Das soll sich jetzt endlich ändern. Volkswagen und Audi haben bereits eine Niederlassung. Das Porsche-Zentrum Erbil öffnet in diesen Tagen. Im Schaufenster stehen ein feuerroter 911er Carrera GTS und zwei Cayenne-Geländewagen zu je 100 000 Dollar.
»Die Leute hier glauben, dass deutsche Autos von den Göttern gemacht werden«, schwärmt der Händler, der auch am Freitag lieber in der Niederlassung arbeitet, als in die Moschee zu gehen. Natürlich, der Imam sieht das nicht gern. »Aber wir haben hier alle Hände voll zu tun.«
Noch gibt es Anlaufschwierigkeiten beim Import. Im Hinterhof stehen zwei Cayenne-Wagen mit eingeschlagenen Heckscheiben. Getönte Autofenster sind im Irak aus Sicherheitsgründen verboten. Statt sich lange mit Rechtsbelehrungen aufzuhalten, griff der irakische Zollbeamte gleich zum Hammer. »Macht nichts«, freut sich der Porschehändler, »dem Kunden war’s egal.«
Die Armleuchter haben statt Schulen lauter Moscheen gebaut
Es gibt ein deutsches Generalkonsulat in Erbil, eine deutsche Schule und einen »Deutschen Hof«: deutsche Schnitzel, deutsches Bier und ein schwarz-rot-gold gestrichenes Wachhäuschen, das eher zur Dekoration dient als zum Schutz.
Am anderen Ende der Stadt hat 2010, als die Wirtschaft in Deutschland gerade den Bach runterging, das deutsche Wirtschaftsbüro aufgemacht. Auf dem Gelände steht eine Betonstele, in die ein irakischer Steinmetz mit liebevoll-zittriger Hand einen Satz Hegels gemeißelt hat: »Der Mensch ist, was er als Mensch sein soll, erst durch Bildung.«
Öl, Gas, Eisenerz: Kurdistan ist reich an Bodenschätzen. Rund ein Viertel des irakischen Wirtschaftsaufkommens stammt aus dem Norden. Ausländische Investoren müssen weder Umsatz- noch Mehrwertsteuer zahlen. Ab 2013 wird die Nabucco-Pipeline gebaut, die jährlich dreißig Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Zentraleuropa pumpen soll. Geld haben sie hier genug, aber Fachwissen fehlt.
»Die Armleuchter haben statt Schulen lauter Moscheen gebaut«, ärgert sich der Bürgermeister über seine Landsleute. Neulich berichteten die Zeitungen von einer Grundschule mit 58 Kindern in einer Klasse, die alle Mohammed hießen. »Der Lehrer brauchte für jedes Kind einen eigenen Code.«
Lehrer war Nihad Qoja selbst einmal. Das war 1979, im gleichen Jahr, als sich Saddam Hussein zum Staatspräsidenten ernennen ließ und begann, sein eigenes Volk zu tyrannisieren. Vor allem die Kurden im Norden.
Der junge Sportlehrer Nihad Qoja arbeitete für den Widerstand. Während Verwandte bei den kurdischen Peschmerga-Rebellen in den Bergen kämpften, druckte er heimlich Flugblätter gegen die Baath-Partei. Als er zwei Jahre später aufzufliegen drohte, wurde er gerade noch rechtzeitig gewarnt und floh nach Bonn. Er studierte, schlug sich als Dolmetscher, Kellner und Taxifahrer durch. »1985 habe ich Willy Brandt gefahren.«
Chauffeur im Machtzentrum der Bonner Republik, das kann ein Politikstudium ersetzen. Vielleicht ist damals in dem Exilkurden Nihad Qoja der friedliche und pragmatische Politiker erwacht, der sein geschundenes Land aufbauen wollte wie die Deutschen nach 1945 ihr Wirtschaftswunder und ihre Demokratie.
Da stand seinen Landsleuten das Schlimmste noch bevor. Zehntausende Kurden wurden in den Achtzigerjahren während der berüchtigten »Anfal«-Kampagne getötet, vertrieben, in Foltergefängnisse gesteckt, ihre Dörfer von Saddams Militär mit Senfgas beschossen und dem Erdboden gleichgemacht.
1991 erhoben sich die Kurden gegen den irakischen Diktator, den die Amerikaner nach dem Zweiten Golfkrieg in Bagdad zurückgelassen hatten wie bestellt und nicht abgeholt.
Dann brach ein Bruderkrieg zwischen Masud Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (DPK) und Dschalal Talabanis Patriotischer Union Kurdistans (PUK) aus, in dessen Verlauf die DPK 1996 Erbil eroberte. Die Artillerienarben sind noch heute am großen Tor der Zitadelle von Erbil zu sehen.
Als US-Truppen 2003 in den Irak einmarschierten, schlugen sie ihr Quartier vor den Toren der Stadt auf. Dass Deutschland, sein Land, den Irakkrieg der Amerikaner nicht unterstützt hat, versteht Qoja bis heute nicht, nach allem, was der Diktator an seinem Volk verbrochen hat: »Saddam war selbst eine Massenvernichtungswaffe.«
Doch seitdem ist etwas Erstaunliches passiert: Während der Südirak immer tiefer in Bürgerkrieg und Bombenterror versinkt, stabilisiert sich die Lage im Norden zusehends. Im restlichen Irak sterben jeden Monat rund 200 Menschen durch Terror. In Kurdistan hat es seit 2007 keinen Anschlag mehr gegeben.
Wer die neu ausgebaute Straße von Erbil über Kusanjaq durch die kurdischen Berge nach Sulaimaniya nimmt, fährt an einer der größten Zementfabriken des Nahen Ostens vorbei. Das Werk arbeitet an der Kapazitätsgrenze. Hier werden die Bunkerwände und Panzersperren hergestellt, die man im Süden zum Schutz gegen Terroranschläge braucht.
»Seit 2005 ist Erbil sicher«, erinnert sich Qoja. Im gleichen Jahr wurde der Erbil International Airport eingeweiht – auf einer Fläche so groß wie der Frankfurter Flughafen. Lufthansa und Austrian fliegen täglich dorthin.
Die Autonomieregion hat ein eigenes Parlament, eine eigene Armee und sogar eine eigene Flagge. Ein Quasi-Staat für die Kurden – das größte staatenlose Volk der Erde.
»Na ja, unsere Nationalhymne ist zu nationalistisch«, wirft der Bürgermeister entschuldigend ein. »Wir überlegen, das jetzt zu ändern. Hier leben ja schließlich auch andere Minderheiten.« Das Nebeneinander funktioniert ganz gut. Im christlichen Stadtteil Ankawa stehen Weihnachtsbäume in den Wohnzimmern, und der Bischof von Erbil fährt ohne Bodyguard zum Gottesdienst.
In den Spirituosenläden und Bars von Ankawa begegnet man auch muslimischen Kurden, und viele Frauen gehen unverschleiert auf der Straße. In Saudi-Arabien verbreiten muslimische Kleriker die Irrlehre, dass Frauen hinterm Lenkrad zu Lesben werden. In Erbil florieren Chauffeurdienste wie »Pink Taxi«. Und am Tor des Frauen-Fuhrunternehmens hängt ein Schild: »Now hiring female drivers«.
Als im Sommer ein paar Imame einen Gesetzentwurf zum Verbot von häuslicher Gewalt und Genitalverstümmelung als unislamisch kritisierten, fand Kurden-Präsident Masud Barzani eine salomonische Lösung: Er unterzeichnete das Gesetz nicht, legte aber auch kein Veto ein, sodass es nach ein paar Wochen automatisch in Kraft trat.
Zugegeben, sie können auch anders. Im Dezember zündeten fanatisierte Jugendliche nach dem Freitagsgebet Alkoholshops in der Grenzstadt Zaxo an. Tags darauf ging im Gegenzug ein Büro der islamischen Partei in Flammen auf. Diesmal griffen die Behörden nicht ein wie noch im Sommer in Sulaimaniya, als bei monatelangen Protesten gegen Korruption und Behördenschlendrian acht Demonstranten und zwei Polizisten zu Tode kamen.
Doch ein Arabischer Frühling ist in Kurdistan kaum vorstellbar, wo der lange Winter des Missvergnügens schon mit Saddam endete und man sich nur zu gut bewusst ist, wie prekär der kurdische Aufschwung inmitten dieser Krisenregion ist.
»Die Sicherheit kommt zuerst und dann die Sauberkeit«, sagt Ahmed Majidi und schreitet zufrieden die blitzblanke Auffahrt seiner Shoppingmall ab. »Ich habe erst mal allen erzählt, das wird eine Lagerhalle«, freut sich der 61-Jährige. Die 2009 eröffnete Majidi Mall ist das erste Einkaufszentrum im Irak und wirkt wie ein Raumschiff aus Dubai oder Hamburg-Poppenbüttel.
Die Besatzer sind weg, aber die Besucher noch nicht da
An guten Tagen sollen bis zu 50 000 Käufer kommen. An diesem Mittag ist es leerer, und Multimillionär Majidi trägt persönlich die Kennzahlen vor: hundert Millionen Dollar Baukosten, 70 000 Quadratmeter Fläche, 230 Meter Länge, 400 000 verschiedene Produkte. Die Boutiquen in den Stockwerken sind vom Feinsten. Sogar aus Bagdad reisen sie an, um hier bei Chopard, Zegna, Brioni und Benetton einzukaufen.
Das dezente Brioni-Jackett von der Stange, das Majidi aufträgt, kostet 5500 Dollar. Wer zum Teufel soll sich das im Irak leisten? In seinem modernen Büro im obersten Stock wundert sich Majidi über die Frage.
Schließlich hat auch er mal klein angefangen. Damals, 1977, als er aus einem vier Quadratmeter großen Loch im Basar am Fuß der Zitadelle von Erbil Stoffe verkaufte. Drei Jahre später machte er bereits mehrere Millionen Dollar Profit und Geschäfte in aller Welt.
Jetzt, da Saddam weg ist, sollen seine Landsleute es Majidi nachmachen. Sind sie nicht alle Selfmademen, diese Kurden, die sich nach Jahrtausenden als Spielball fremder Großmächte durch Zähigkeit und Mut und List einen eigenen Platz erobert haben, hier in der uralten Stadt Erbil? »In fünf Jahren werden wir fünf Millionen Menschen sein in Erbil. Erbil wird die Hauptstadt des Irak werden.«
Und während Ahmed Majidi im obersten Stockwerk der ersten Shoppingmall Iraks die Baupläne für zwei weitere Einkaufszentren, ein Krankenhaus und einen Vergnügungspark studiert, steht der Bürgermeister Nihad Qoja in seinem Büro am Fuß der alten Zitadelle vor einer Wandkarte.
Auf dem Masterplan für die Stadtentwicklung von Erbil legen sich elf Ringstraßen in konzentrischen Kreisen um die alte Zitadelle. Vom Industrieviertel bis zum Golfplatz findet man alles, was man aus modernen Metropolen kennt: Luxusapartments, Park-and-Ride-Areale, sogar eine Grand-Prix-Rennstrecke und ein Kurdistan-Museum vom Zickzack-Architekten Daniel Libeskind.
Oben, in der Zitadelle, wo Mohammed Qadr Ali als Einziger übrig geblieben ist, sollen die alten Bürgerhäuser renoviert werden und dann Boutique-Hotels, Restaurants und traditionelle Werkstätten einziehen.
Die Computersimulation auf dem Masterplan zeigt eine restaurierte Zitadelle, die hinter ultramodernen Hochhauskomplexen verschwindet. Ein wüster Architektentraum aus Glas und Stahl, austauschbar und künstlich. Der Bürgermeister winkt ab. Das geht dann doch zu weit. Sie wollen hier kein zweites Dubai. »Das ist für uns kein Vorbild. Erbil hat Geschichte.«
Er muss es wissen. Nihad Qoja selbst wurde in der alten Zitadelle geboren. Sie lebten zu acht in einem winzigen Haus. Qojas Vater war Automechaniker und besaß einen Fiat Cinquecento. »Der passte grade noch durch die schmalen Gassen.« Im Winter beheizte ein Ölofen das kleine Zimmer, wo sie mit Matratzen auf dem Boden schliefen. »Komm, ich zeige es dir.«
Das bescheidene Haus ist halb verfallen, aber da steht noch der alte Maulbeerbaum im Hof, unter den Qojas Eltern den Neugeborenen vor 53 Jahren legten und zum ersten Mal fotografierten. Als Saddam noch herrschte, durfte Qoja aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt zu seiner Familie im Irak haben. Das Foto war lange die einzige Erinnerung an die Heimat. »Ich habe es oft angeschaut.«
Als er 2003 zum ersten Mal zurückkehrte, konnte er sein Geburtshaus zunächst nicht finden. Da lebten fast tausend Familien in der Zitadelle, die meisten Flüchtlinge aus dem Rest-Irak. »Ich habe es schließlich an der Tür erkannt.«
Mit der Evakuierung 2006 begannen die Aufräumarbeiten. Das Hochkommissariat für die Wiederbelebung der Zitadelle hat ein Budget von 15 Millionen Dollar für die notwendigsten Arbeiten bekommen. Man hat den Schutt aus den Gassen geräumt, Stützpfeiler aufgerichtet und Absperrbänder mit kleinen Totenköpfen und der Aufschrift »Caution« vor Hauseingänge gespannt.
Wer sich davon nicht abschrecken lässt, kann im dämmerigen Inneren die verfallene Pracht osmanischer Bürgerpaläste der vorletzten Jahrhundertwende bewundern: Kastendecken, Stuckornamente und reich verzierte Nippes-Nischen.
Schon kommen die ersten irakischen Touristen und besuchen das Teppichmuseum, das tagsüber im Schatten von Mohammed Qadr Alis Wassertank seine Tore öffnet. Gegenüber ein Souvenirladen mit Antiquitäten neueren Datums.
Sogar Saddam-Teller gibt es dort. »Für die amerikanischen Touristen«, sagt der Ladenbesitzer lächelnd. Die Kurden sind pragmatisch, und sie sind Optimisten. Vor zwei Wochen sind die letzten US-Truppen aus dem Irak abgezogen. Die Besatzer sind weg, aber die Besucher noch nicht da.
Auch in Mohammed Qadr Alis Haus auf der alten Festung nimmt die Belagerung in dieser Nacht irgendwann ein Ende. Die Mongolen müssen sich noch vor Morgengrauen geschlagen geben und ziehen ab.
Kurz vor sieben Uhr schickt dann die Sonne ihre ersten Strahlen über die eingefallenen Dächer der Zitadellenstadt, und ihr letzter Bewohner steht wie jeden Morgen auf, um nach dem Rechten zu sehen.
Ist das nicht einsam, so allein zu Haus? Wie lang werden sie hier oben noch leben? »Für immer«, sagt der alte Kurde und blickt über den Feigenbaum und die Gartenmauer und den Wassertank und die kurdische Flagge über den Zinnen der alten Festung hinweg in die Ferne. »Für immer, Inschallah.«
Info:
Je nach Schätzung umfasst das Volk der Kurden 30 bis 40 Millionen Menschen. Die Mehrheit ist in der Türkei angesiedelt. Im Norden des Irak, in der »Autonomen Region Kurdistan«, leben knapp fünf Millionen Kurden, etwa 1,2 Millionen davon in der Hauptstadt Erbil. Die Region ist etwas kleiner als die Schweiz.
Fotos: Simon Norfolk