Eine Säule der Demokratie

Es heißt, die NPD sei eine Gefahr für unser Land, man müsse sie verbieten, und solche Leute gehörten nicht in die Parlamente. Alles falsch.

Egal wie die Schlacht mit der NPD um den 8. Mai ausgehen wird: Die Demokratie hat schon verloren. Ob sie nun vor oder hinter der Bannmeile demonstrieren wird – die rechtsextreme Kadertruppe führt uns vor Augen, wie schlecht die Demokraten gegen die Propagandakünste ihrer Feinde gerüstet sind. Dafür müssten wir der NPD eigentlich dankbar sein. Unverblümt negieren die neuen Nationalsozialisten alles, was der Toleranz- und Pluralismusmaxime unserer angeblich rundum geläuterten deutschen Friedensgesellschaft heilig ist. Und siehe da: Statt ihnen selbstbewusst entgegenzutreten und sie mit Argumenten ins Stottern zu bringen, stockt den Demokraten vor Schreck und Empörung selbst der Atem. Haben sie ihre Sprache wiedergefunden, fällt ihnen meist nicht viel mehr ein als der Ruf nach dem Staatsanwalt. Genau dieses hyperventilierende Entsetzen der Vertreter des politischen Establishments aber ist es, auf das die wieder erweckten Nationalsozialisten ihre Überrumpelungsstrategie gründen. Seht her, rufen sie ihren Anhängern zu, die »Systemparteien« sind gar nicht in der Lage, für ihre Überzeugungen zu streiten! Ihr vermeintlich eherner Konsens ist hohl, ihre Bekenntnisse sind lediglich eingelernt, und sobald man sie provoziert, reagieren sie panisch und hilflos! Mit dieser Masche erreichen sie eine Resonanz, die weit über ihr Stammpublikum hinausreicht. Das Schlimmste daran aber ist: In diesem Punkt hat die NPD Recht. Als die NPD-Abgeordneten Apfel und Gansel am 21. Januar im Sächsischen Landtag vom »Bomben-Holocaust« der Alliierten gegen das deutsche Volk schwadronierten, konnten ihnen die übrigen Fraktionen nur floskelhafte Bekundungen der Abscheu entgegenhalten. Einen solchen Vergleich dürfe man nicht ziehen, er sei unerhört und unerträglich. Niemand aber erklärte, was eigentlich genau an einem solchen Vergleich politisch, historisch und moralisch haltlos ist. Stattdessen verlas der Alterspräsident mit betroffenheitsschwerer Stimme eine von CDU, SPD, FDP, Grünen und PDS gemeinsam getragene Erklärung, die in einem Schnelldurchlauf von der Bücherverbrennung bis Auschwitz das wiedergab, was dem Durchschnittsdemokraten über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte zu denken gestattet ist. Tenor der Rede: Opfer dürften »nicht gegeneinander aufgerechnet« werden. Als ob die NPD lediglich etwas so verhältnismäßig Harmloses getan hätte! Die Gralshüter der offiziellen Vergangenheitsbetrachtung hatten gar nicht bemerkt, dass die Rechtsradikalen einen viel grundsätzlicheren Angriff auf die ideellen Voraussetzungen der deutschen Demokratie geführt hatten. Ihre Redner schäumten von Schmähungen gegen die »alliierten Massenmörder« und »angloamerikanischen Luftterroristen« geradezu über – Letzteres übrigens eine Bezeichnung, die zu DDR-Zeiten zum propagandistischen Standardrepertoire der PDS-Vorgängerpartei gehört hatte. Die »Blutspur« des Westens, erklärten die NPD-Ideologen weiter, führe von Dresden über Korea und Vietnam bis zum heutigen Geschehen in Afghanistan und Irak. Sie fantasierten von angeblichen Äußerungen Churchills, die belegen sollten, dass es bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in England einen »eliminatorischen Antigermanismus« gegeben habe. Sie attackierten damit frontal, was doch angeblich zur Staatsräson der Bundesrepublik gehören soll: ihre Westbindung und Verankerung in der westlichen demokratischen Zivilisation. Doch bezeichnenderweise erhob sich dagegen weder im Parlament noch in der publizistischen Öffentlichkeit Protest. Kein Abgeordneter sah sich in der Lage, ans Pult zu treten und die haarsträubenden Geschichtsklitterungen der Rechtsextremisten über die Motive der Westalliierten für ihren Krieg gegen Nazi-Deutschland anhand der historischen Fakten zu widerlegen. Das Problem ist, dass die meisten Parlamentarier dies wohl gar nicht mehr könnten. Die »Posthistoire«-Stimmung der vergangenen Jahrzehnte und das Gerede vom »Ende der Ideologien« hat in den Köpfen die Vorstellung entstehen lassen, die westliche pluralistische Demokratie sei konkurrenzlos, die Gebote deutscher Vergangenheitsbewältigung unbestreitbar geworden. Demokratie erschien nur noch als Spiel der Varianten und Nuancen des immer gleichen prozeduralen Nullsummenspiels. Mit dem Auftauchen von Kräften, die das ganze System noch einmal fundamental in Frage stellen, gar eine »nationale Revolution« propagieren und damit bei breiteren Bevölkerungskreisen Zuspruch finden würden, hatte niemand mehr gerechnet. Nicht nur politisch aber, auch kulturell repräsentieren die Rechtsextremisten eine Gegenwelt, deren Existenz das ironische Bewusstsein der demokratischen Postmoderne lange Zeit einfach nicht wahrhaben oder nicht ernst nehmen wollte. Auch jetzt noch versuchen einige das Problem wegzureden, indem sie die neuen Nazi-Führer als ungebildete Primitivlinge und lächerliche Figuren abtun. Ähnlich ignorant hatte sich die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren auch gegenüber dem aufkommenden Islamismus verhalten. In solchen Gegenwelten aber boomt, was in der ganz auf Pluralismus und Relativität eingeschworenen Gegenwart vermeintlich gar keinen Platz mehr haben kann: die unbedingte Verpflichtung auf eine absolute Idee (sei es »die Nation«, »das Volk«, »die Rasse« oder »der Islam«), aus der heraus sich das gesamte Universum widerspruchsfrei erklären lässt. Das Posthistoire-Bewusstsein hat bewirkt, dass sich niemand mehr ernsthaft über die historischen, ethischen und philosophischen Begründungen einer offenen Gesellschaft Gedanken machen musste – und vor allem darüber, was es bedarf, sie gegen existenzielle Bedrohungen zu verteidigen. In diese Lücke stößt die NPD mit ihrer vergangenheitspolitischen Kampagne: Sie protzt mit pseudohistorischer Kenntnis und appelliert an tiefe, lange verborgene geschichtliche Ressentiments der Deutschen, von deren untergründigen Virulenz die modernen Beliebigkeitsdemokraten nichts mehr hatten wissen wollen. So trifft das rechtsextreme Geschichtsumschreibungsprojekt auf ein politisches Establishment, das wegen seiner historischer Unkenntnis und Indifferenz leicht zu verunsichern ist. Die Empörung der politischen Klasse über das Auftreten der NPD gilt folgerichtig weniger ihren Inhalten, mit denen sie sich kaum beschäftigt, als der Tatsache, dass die Nazi-Partei sich anmaßt, die demokratische Verwaltungsroutine zu stören.

Für den Alltag eines deutschen Politikers hatte es lange Zeit genügt, sich eine Reihe von vorgefassten Formeln über deutsche Schuld und Verantwortung einzuschärfen und ansonsten darauf zu achten, sich nicht mit unüberlegten Äußerungen zu diesem Komplex den Mund zu verbrennen. Da die politische Klasse nun mit einem auftrumpfenden Geschichtsrevisionismus konfrontiert wird, kann sie ihre Position kaum noch eigenständig begründen. In besondere Verlegenheit wird sie durch die Agitation der Neo-Nationalsozialisten gegen die »amerikanischen Völkermörder« gebracht. Denn mit dieser Parole liegen sie voll im Trend einer bis weit über den Dunstkreis radikaler Gruppen von links und rechts verbreiteten antiamerikanischen Stimmung. Hat nicht eine Mehrheit der Bundesbürger beim Ausbruch des Irak-Krieges die Meinung vertreten, Bushs Amerika sei die größte Gefahr für den Weltfrieden? Wurde Bushs Irak-Politik nicht von Hunderttausenden von Demonstranten als »völkerrechtswidrig« und »verbrecherisch« gegeißelt? Und benimmt sich die deutsche Politik auch heute, da die Demokratisierung im Nahen Osten mühevoll, aber unübersehbar voranschreitet, nicht immer noch so, als gehe es ihr vor allem darum, die USA am weltpolitischen Amoklauf zu hindern? Nicht ohne Grund solidarisiert sich die »antiimperialistisch« auftretende NPD lauthals mit dem »Widerstand des irakischen Volkes« gegen die »US-Besatzer«. Keine Frage: Kritik an der US-Politik ist nicht dasselbe wie antiamerikanische Hasspropaganda. Wer diese Kritik übt, muss aber in der Lage sein, sie unzweideutig von unreflektierten Affekten gegen Amerika abzugrenzen. Genau diese Trennlinie ist in den vergangenen Jahren sträflich verwischt worden. Mit ihren Anti-US-Parolen trifft die NPD einen wunden Punkt: die schwärende Identitätskrise der deutschen Gesellschaft. Die Grundlagen ihrer Werteorientierung sind ins Rutschen geraten. Wie sieht es eigentlich mit der Verankerung unserer offiziell beteuerten Solidarität mit Israel und den Juden aus? 51 Prozent der Befragten äußerten kürzlich in einer Umfrage, Israel begehe gegenüber den Palästinensern mit denen der Nazis vergleichbare Verbrechen, 62 Prozent nannten das Vorgehen der Israelis in den besetzten Gebieten einen »Vernichtungskrieg«. Gegen diese leider sehr weit verbreitete Volksstimmung trauen sich deutsche Politiker nicht allzu offensiv anzugehen – sofern sie diese Stimmung nicht sogar stillschweigend teilen. Da ist es leichter, sich zu wünschen, das Skandalon NPD möge durch Verbote kurzerhand von der Bildfläche verschwinden. Doch das ist eine Illusion – denn die Ressentiments, die von der NPD gebündelt und schallverstärkt werden, haben sich schon viel zu weit vorgewagt, als dass man sie per Gesetz einfach wieder in ihre Löcher zurückjagen könnte. Unzweifelhaft ist, dass sich ein demokratischer Rechtsstaat vor extremistischen Umstürzlern schützen muss. Gewalttaten und Aufrufe zur Gewalt müssen unnachgiebig unterbunden werden. Aber Einschränkungen des Versammlungsrechts und eine schwammige gesetzliche Inkriminierung von Gedanken, »die den Nationalsozialismus verherrlichen«, demonstrieren nur die Schwäche und Indifferenz derer, auf die es beim Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft vor allem ankommt: der Demokraten. »Wehrhafte Demokratie« bedeutet nicht, bei jeder Gelegenheit mit neuen Paragrafen zu wedeln. Es bedeutet vor allem die Präsenz kämpferischer Demokraten, die sich mit argumentativer Überzeugungskraft gegen die Feinde der offenen Gesellschaft zur Wehr zu setzen wissen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, keine unhintergehbare geschichtliche Gegebenheit. Sie muss in der Praxis täglich neu begründet und verteidigt werden. Der Anblick demonstrierender Nazis mag schwer erträglich, für die Opfer und die Nachkommen der Opfer des NS-Regimes sogar völlig unerträglich sein. Doch die offene Gesellschaft kann das Böse, Schmutzige und Niederträchtige, das in der Welt ist, nicht hinwegzaubern. Ihre Stärke besteht gerade darin, dass die Kräfte der Destruktion in ihr nicht schamhaft verborgen werden müssen, sondern sichtbar – und dadurch besser bekämpfbar werden. Die offene Gesellschaft ist alles andere als eine Harmonieveranstaltung. Sie lebt vom geregelten Konflikt äußerster Gegensätze, nicht vom erzwungenen Konsens. Dass die sie ablehnenden Kräfte nun unverhüllt auftreten, sollte sie auch als eine Chance begreifen. In der Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung kann sie sich ihrer eigenen ideellen und moralischen Voraussetzungen wieder schärfer bewusst werden.