Das Beste aus meinem Leben

In diesen Zeiten ertappt man sich gelegentlich bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn es das Meer nicht gäbe. Fast jeden Tag kann man in den Zeitungen lesen, dass die Meeresspiegel steigen. Und wie bedrohlich das ist. Dass zum Beispiel die Existenz der Stadt Hamburg ab einer gewissen Meeresspiegelhöhe durchaus in Frage gestellt sein könnte – wie stehen wir eigentlich in München dazu?Einerseits könnte es einem wurscht sein; dann müssen eben die Hamburger ein Stück Richtung Lüneburg ziehen, das sollen sie mit den Lüneburgern ausmachen, was geht es uns in München an?, Lüneburg ist weit. Andererseits hat man vielleicht Verwandte in Hamburg, denen man nichts Schlechtes wünscht, schon gar nicht das Meer im Erdgeschoss des eigenen Hauses. Und außerdem könnten die Hamburger auf den Gedanken kommen, möglichst weit vom bedrohlich sich hebenden Meer neu zu siedeln, das könnte Richtung München gehen – und es wäre uns nicht recht, hier so viele Hamburger zu haben, unter uns, ganz ehrlich. (Außer dem Luis. »Wäre doch schön, so viele Hamburger«, sagt er und leckt sich die Lippen.)Also wenn es das Meer nicht gäbe, wir hätten zwei, drei Sorgen weniger. Außerdem: Amerika wäre sehr viel früher entdeckt worden, durch westwärts wandernde Neandertaler, es wäre ein anderes Land. Die Titanic wäre nie untergegangen, sie würde heute noch zwischen den Kontinenten umherfahren, auf Rädern natürlich, ein seltsam surreales Gefährt, das an den um Grönland herum liegenden Eisbergen einfach vorsichtig vorbeirollte. Und es gäbe keine Seemannslieder, »Stürmisch die Nacht und die See geht hoch«, das hätte mangels See keinen Sinn. Vielleicht, wenn man es anders hören würde? »Stürmisch die Nacht und die Säge tobt«, so verstand es immer ein kleines Mädchen im meerfernen Stephanskirchen bei Rosenheim (und schrieb es mir, Sie erinnern sich?).Die Frage ist nun, was mit den Seglern wäre, wenn es das Meer nicht gäbe. Würden sie sich auf Chiem- und Bodensee so drängeln, dass man über die Planken ihrer Boote trockenen Fußes nach Mainau und Herrenchiemsee gelangen könnte? Oder stünden sie bloß sehnsuchtsvoll dort, wo eine Küste hätte sein sollen, den Wind im Rücken, in ihren Blicken etwas Ungewisses, nicht Formulierbares, ein zielloses Wollen – vor sich nichts als wasserlose Fläche? (Hier schließt sich die Frage an, was denn auf den Arealen, die heute Meeresböden sind, in Abwesenheit des Meeres eigentlich wäre. Wären sie besiedelt wie die Kontinente? Oder würde die Menschheit sie, aus einem Gefühl für die eigentliche Bestimmung der Gegend heraus, frei halten von Häusern, Straßen, Gleisen?)Im Grunde geht es doch um Folgendes: Ist das innere Bedürfnis des Seglers zu segeln so groß und stark, dass es auch ohne Wasser sich verwirklichen würde? Sähe man also, wenn es keine Meere gäbe, die Segler auf rollenden Booten über festes Land segeln, menschliche Siedlungen notfalls geschickt umkurvend? Und sofort stehen wir vor einer weiteren Frage: Gäbe es zwar das Meer, aber den Wind nicht, was würden die Segler dann tun? Eben nicht segeln? Mit Hilfe riesiger Windmaschinen oder der gesammelten Puste der Freunde in den Segelvereinen ihrem Hobby föhnen … äh: frönen?Letzter Punkt: Wir stellen uns vor, es gäbe das Meer und den Wind, aber die Segler nicht. Wir stünden also an einem fremden Gestade, angemessen ergriffen vom Anblick des Meeresazurs, die Haare vom Wind gezaust – doch nirgendwo ein Segel.Etwas würde fehlen, und das wäre ewig schade, nicht wahr? Dafür sind wir Nichtsegler den Seglern nämlich sehr dankbar: Dass sie mit ihren geblähten weißen Segeln, den sanft geneigten Bootskörpern und dem Dahingleiten durch Wellen und Gischt den Blick aufs Meer interessanter, abwechslungsreicher und schöner gestalten.Es ist schon gut so, dass es das alles gibt: Meer, Wind und Segler. Ich bin dankbar, dass ich Gelegenheit hatte, diesem Gefühl Ausdruck zu geben. Auf Wiedersegeln!

Illustration: Dirk Schmidt