Ich fange mal damit an, dass ich glaube, mein Sohn ist cool. Er geht in die Schule mit T-Shirts der Marke Fuckuall, obwohl er deshalb regelmäßig Schwierigkeiten bekommt. Er fährt jeden Tag mit seinem selbst gestalteten Surfbrett auf einem Achtzigerjahre-Rennrad zum Eisbach und surft auf der Flusswelle. Er geht am Wochenende auf Partys unter der Brudermühlbrücke, wo sich die Jugend der ganzen Stadt trifft. Er war gerade ein halbes Jahr in Kanada, weil er möglichst weit wegwollte von zu Hause. Jetzt ist er mit Freunden auf einer Tour die Atlantikküste runter, mit Zelt und Surfbrett. Im Alltag chattet er, lädt Fotos auf Facebook, hat einen iPod mit Songs von Pete Doherty darauf, seine Frisur ist lässig und so weiter und so fort.
Trotzdem ist er brav, finde ich. Und nicht nur er. Auch wenn fast alle seine Freunde rauchen – sicher kiffen sie gelegentlich sogar und kommen mal zu spät nach Hause –, sind sie letztlich eher zahm. Oder sagen wir es so: Man hört und liest immer wieder haarsträubende Dinge über diese jungen Leute von heute. Davon kann ich bei ihnen nicht viel erkennen. Entweder habe ich so dermaßen keine Ahnung, und sie sind glänzende Schauspieler, lachen sich ständig kaputt über mich, während sie im Internet harte Pornos anschauen, pöbelnd durch die Gegend laufen, mit wechselnden Mädchen experimentellen Sex haben und Drogen verkaufen. Oder es ist so, wie ich es sehe.
Neulich saß mein Sohn im Hof und neben ihm ein Mädchen aus seiner Klasse. Er reparierte sein Fahrrad, sie lernte Englisch für die Schulaufgabe am nächsten Tag und fragte ihn, wenn sie etwas nicht wusste. Weil er ja in Kanada gewesen war. Ein unschuldiges Bild.
Oder während der Fußball-WM. Eine Zeitlang verabredeten sich die Jungs und Mädchen aus dem Viertel (oder aus der Klasse oder aus der Schule) in einer Bar, wenn Deutschland spielte. Die Drinks in so einer Bar sind aber teuer, und so toll war es vielleicht auch gar nicht. Jedenfalls saßen sie immer öfter bei uns im Hof, zusammen mit den Alten. Dort stand ein Tischfußball, nach den Spielen haben sie da weiter gekickert. Sechs, sieben Jungs, alle die Haare ziemlich lang, aber keiner tätowiert oder mit Glatze oder sonst irgendwie provokantem Äußeren. Drei von ihnen haben eine Freundin, die anderen nicht. Manche haben ein Bier getrunken – sie dürfen das, sie sind 16 oder älter –, aber die Hälfte hat lieber einen Spezi genommen. Zum Rauchen sind sie vor die Tür gegangen, damit die Erwachsenen sie nicht sehen dabei.
Da waren wir ja wilder. Ich bin ganze Nächte weggeblieben – allerdings auch, weil mir so wenig erlaubt wurde, dass ich die Regeln brechen musste, und wenn ich das einmal getan hatte, musste es sich auch lohnen, den nachfolgenden Ärger auf sich zu laden. Wenn mein Sohn am Wochenende ausgeht – was immer der Fall ist – und nicht zur ausgemachten Zeit nach Hause kommt, schickt er eine nette SMS. Was ich natürlich oft nicht mitbekomme, weil ich schon schlafe. Aber er ist immer da und liegt in seinem Bett, wenn ich aufwache. Neben dem Bett liegt meistens ein Buch, denn, ja, er liest. Nicht gerade den neuen Enzensberger, sondern immer noch Fantasy-Kram, aber er liest. Und er kann nicht der Einzige sein, denn er leiht sich Bücher von Freunden und verleiht die seinen.
Als er 15 war (ich war in dem Alter zur Freude meiner Eltern mit einem Kfz-Mechaniker liiert, aus purer Rebellion), fuhr er mit seinen Pfadfindern auf ein Pfingstlager. Dort wurde er in einer Nacht sehr feierlich in den Kreis der Rover aufgenommen, wurde also befördert von einem jungen Pfadfinder zu einem, der Verantwortung trägt. Er hat durchgemacht. Und als er nach Hause kam, sagte er aus ganzem Herzen: »Das war die schönste Nacht meines Lebens.«
Illustration: Jean-Philippe Delhomme