"Schlimm wird es, wenn eine Gruppe im Krematorium Brotzeit macht"

Fünf Referenten der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau erzählen, wie es ist, Schüler durch die Vergangenheit zu führen.

jetzt.de: Vendula, Kerstin, Christian, Anne, Eveline: Ihr Fünf seid „Referenten“ der KZ-Gedenkstätte Dachau und begleitet, unter anderen, viele Schulklassen beim vielleicht wichtigsten Ausflug der Schulzeit. Wie alt sind die meisten Schüler zur Zeit des Besuchs?

Vaclava Kutter Bubnova („Vendula“): Die Gymnasiasten kommen etwa in der 9., die Hauptschüler eher in der 8. Klasse.

jetzt.de: Wir waren, zu meiner Schulzeit, oft seltsam ungeduldig oder einfach . . . überfordert beim Besuch solcher Orte. Wie ist es, Schüler zu führen? Kerstin Schwenke: Meine Erfahrung ist: Wenn der Lehrer sich interessiert und sich vorbereitet hat, dann benimmt sich die Klasse auch ordentlich.

Eveline Pichler:
Das Verhalten hat auch nichts mit dem Schultyp zu tun. Es gibt Gymnasialklassen, bei denen man denkt, man möchte nach fünf Minuten nach Hause und Hauptschulklassen . . .

Anne Gemeinhardt:
. . . mit denen machst du eine Stunde länger.

Vendula:
Gestern hatte ich eine Gruppe, bei der ich dachte: Warum tun wir uns das an? Ich hatte gerade angefangen und von der Gründung des KZ erzählt, als sich einer meldet – und ich war happy, dass einer eine Frage stellt! – und der hat gefragt: ‚Wieviel verdient man, wenn man hier als Führer arbeitet?'
jetzt.de: Wie alt war der Junge?

Vendula:
Um die 14. Heute aber hatte ich wieder eine achte Klasse und die waren zum Küssen!

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Anne: Ich hatte mal eine Klasse aus der Schweiz, denen konnte es kaum schlimm genug sein; denen leuchteten derart die Augen bei den Beschreibungen zum Lageralltag, dass ich automatisch zwei Gänge zurück geschaltet habe, weil die es super fanden, wenn es schlimm wurde. Dann haben sie sich auf den Boden gesetzt und ich habe drauf hingewiesen, dass das gerade der Todesstreifen sei, auf dem die Häftlinge erschossen wurden und dass ich das nicht mag. Sie sind aber trotzdem sitzen geblieben. Am Ende der Führung sagte der Lehrer dann: „Wissen Sie, wir haben sehr starke rechte Tendenzen in der Klasse und wir erwarten uns schon viel von dem Rundgang“. Sowas bringt mich auf die Palme – während einer Führung werden aus Schülern nicht andere Menschen.

jetzt.de: Aber für viele bleibt der Besuch doch eine nachhaltige Erinnerung.

Christian König: Allein der Schockeffekt macht aber nicht klar, wie solch ein Lager entstehen konnte und wer die Verantwortung trug.

jetzt.de: Der Lageralltag war brutal. Es gab medizinische Experimente, Menschen wurden an den auf den Rücken zurückgebundenen Händen an Pfähle gehängt – gibt es einen Gruseleffekt, der bei den Rundgängen eine Rolle spielt?

Kerstin: Wir versuchen, diesen Effekt zu vermeiden. Dagegen ist Auschwitz mehr auf den Schockeffekt angelegt. Dort gibt es Vitrinen mit Schuhen und mit Haaren von Ermordeten – in Dachau will man die Leute nicht mit Emotionen überfahren und keine „Dampfhammerpädagogik“ betreiben. Erzählen, was Schlimmes passiert ist, ja. Aber es nicht unbedingt plastisch ausmalen. Ich kenne vereinzelte Berichte von Lehrern, die ihre Schüler beim Besuch von Orten wie Auschwitz in eine Gaskammer schickten, um sie dort die Enge nachfühlen zu lassen. Das geht zu weit.

Vendula: Manche lassen ihre Klasse eine Viertelstunde Appell stehen.


(Kerstin, 25, Vendula, 27, Christian, 24, Anne, 27, und Eveline, 26, (v.l.) studieren oder studierten Geschichte an der LMU in München und sind sogenannte "Referenten" der KZ-Gedenkstätte Dachau)

jetzt.de: Das ist euch untergekommen?
Vendula:
Das gab es schon.
Christian: Lehrer, die ihre Schüler auf dem Appellplatz Häftlinge spielen lassen, sind sich, finde ich, nicht bewusst, dass sie in diesem Moment den SS-Mann spielen. Mit einem solchen Ort angemessen umzugehen kann schon eine Gratwanderung sein.
Vendula: Schlimm wird es, wenn eine Gruppe im Krematorium Brotzeit macht. Eine Klasse kam aus dem Krematorium, hat sich hingesetzt und das Essen ausgepackt. „Das meint ihr nicht ernst!“, habe ich gesagt. Dann kam die Lehrerin mit ihrer Brotzeit in der Hand und meinte: „Warum nicht? Es ist Mittagszeit!“ Was kann man da noch sagen?
Christian: Bei mir hat der Lehrer mal die Gummibärchen rausgeholt und verteilt – während ich über das Krematorium geredet habe.
Kerstin: Vom Verhalten des Lehrers hängt schon viel ab.

Den zweiten Teil der Geschichte finden Sie hier...

Foto: Jürgen Stein (Gedenkstätte), pw (Gruppe)