Das unbekannte Werk

Der Maler Gerhard Richter gewährte uns zwar eines seiner seltenen Interviews, doch in letzter Minute verbot er die Veröffentlichung. Erinnerung an ein bewegendes Gespräch.

Es gibt launenhafte Menschen, deren Gemütsschwankungen man gerne folgt, weil man die Zerstreuung sucht, die Blaise Pascal, noch ganz unchristlich, als die einzige Rettung vor dem Schauder des Denkens beschrieb. Es gibt aber auch eine Flatterhaftigkeit, die den, der ihr ausgeliefert ist, zerstören kann. Der Maler Gerhard Richter gehört, das darf ich aus leidvoller Erfahrung sagen, zu den Launenhaften, vor denen sich ein Journalist hüten sollte.

Seine Pressescheu ist legendär. Als er mich nach einem reizenden Briefwechsel, der sich über fast drei Jahre erstreckte, dennoch nach Köln, wo er wohnt und arbeitet, einlud, muss die Freude über die schon nicht mehr erwartete Zusage, sich von mir interviewen zu lassen, meinen Verstand umnebelt haben. Frohgemut stimmte ich zu, als er mir abverlangte, das auf Tonband Gesagte danach nicht nur korrigieren, sondern, wenn es ihm beliebt, komplett zurücknehmen zu dürfen. Wir trafen uns Ende März an zwei Tagen. »Was Sie sagen«, beruhigte er mich zu Beginn, »werde ich sicher nicht ändern.« Also fing ich sofort an zu sprechen: »Ihre Bilder sind seit Jahren die weltweit teuersten eines lebenden Künstlers. Auf der vom Wirtschaftsmagazin Capital ermittelten Rangliste stehen Sie an der ersten Stelle. Eines Ihrer abstrakten Bilder wurde unlängst bei Sotheby’s um vier Millionen Euro versteigert. In einem Spiegel-Interview sprachen Sie von wahnwitzigen Preisen und einem völligen Missverhältnis zwischen dem Wert und der Relevanz von Kunst. Die Zeiten seien verdorben. Manchmal kämen Sie sich wie ein Betrüger vor…«

Nur ungern ließ ich mich von ihm unterbrechen, denn in meinem Hinterkopf lauerte schon die Ahnung, dass er die Sätze, die er mir schenkte, danach wieder würde zurückhaben wollen. Aber ein Interview ist ja kein Monolog des Interviewers. Peu à peu setzte sich der als schweigsam bekannte Maler mit kleinen Einwänden, Ergänzungen, schließlich sogar dezidierten Statements durch, die ich ohne jene Ahnung frohlockend als Start in einen spannenden Dialog gewertet hätte.»Der Kunstmarkt«, sagte ich, eine seiner früheren Äußerungen zitierend, »würde Ihnen zurzeit jeden Quatsch abnehmen.« Dem stimmte er zu. Nun aber Vorsicht! Darf ich hier, ohne mich strafbar zu machen, Gerhard Richters markantes Lachen, das sich während unserer sechsstündigen Unterhaltung mehrmals wiederholte, beschreiben? Er hat mir, nachdem ich ihm die schriftliche Fassung unseres Gesprächs zugeschickt hatte, deren Veröffentlichung und nach Rücksprache mit seinem Anwalt sogar das indirekte Zitieren verboten.

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Ist die Beschreibung seines Lachens als eines kurzen, vom Schelmischen ins Diabolische changierenden »Hehe« schon ein Zitat? Als ich zum Kern meines Interviewthemas, das sich nach eingehender Vorbereitung herauskristallisiert hatte, vorstieß, war dieser gebändigte Heiterkeitsausbruch zunächst die einzige Reaktion. Ich sagte: »Trotz Ihres Ruhms haben Sie sich immer als ein Gescheiterter gefühlt.« Hehe. Richter lachte.

Wir saßen an dem sehr aufgeräumten Schreibtisch in seinem Atelier im Kölner Nobelvorort Hahnwald mit Blick in den Garten, in dem sein selbst entworfenes Wohnhaus steht. Zu meiner Rechten hing ein kleines Bild an der Wand, dessen weiße Übermalung wie Schnee ein vermutlich darunter verborgenes Chaos bedeckte. In dieses unfertige Bild habe ich mich verliebt. Doch als mir Richter nach seinem Publikationsverbot als »Aufwandsentschädigung« wahlweise eines seiner Werke oder eine Geldsumme anbot, wagte ich nicht, es mir auszubitten. Stattdessen nahm ich das Schmerzensgeld an, der Not gehorchend, peinlich berührt wie ein Lakai, dem der unzufriedene Dienstherr eine Gnade erweist.

»Künstler sein«, sagt Beckett, »heißt zu scheitern, wie kein anderer zu scheitern wagt.« Bin ich nun Künstler, weil ich gescheitert bin? In des weltberühmten Malers Stadtatelier in der Bismarckstraße, wo der zweite Teil unseres Interviews stattfand, hängt ein Foto des Dichters Thomas Bernhard, den er, wie ich schon vorher wusste, verehrt. Also kramte ich auch meinen Bernhard’schen Lieblingssatz aus den umfangreichen Unterlagen hervor, die ich als Gedächtnisstütze vor mich hingelegt hatte: »Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts, und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrunde gehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.« Gerhard Richter gefielen die Sätze, obwohl er, wie ich seinen unter dem Titel Text erschienenen Tagebuchnotizen entnommen hatte, dem absichtlichen Scheitern die Hoffnung vorzieht, den »Glauben an die Kunst«, die er, der erklärte Atheist, in schwachen Momenten sogar zur »Religion« erhob.

Auch ich hoffe gern, notfalls sogar auf ein Wunder oder, wie Richter es nennen würde, auf den glücklichen Zufall. Anlässlich der Verleihung des »Kunst- und Kulturpreises der deutschen Katholiken«, den er 2004 erhielt, verglich ihn der Laudator, Würzburgs Bischof Friedhelm Hofmann, mit dem Apostel Paulus und lobte die Demut des Künstlers, der es zulasse, »dass seine Kunst eine Eigendynamik entwickelt, die weit über sein persönliches Vermögen hinausgeht«. Ja, auch ich wollte demütig sein.

»Mit dem Interviewen«, sagte ich, von der bestrickenden Freundlichkeit meines Gesprächspartners eingelullt, »ergeht es mir wie Ihnen, wenn Sie ein Bild anfangen. Ich weiß nicht, wohin es führt.« Wir sprachen über Liebe und Wut, über die Pein des Alterns, über den Tod und die Angst, über George Bush und den Krieg, über Auschwitz und Adenauer, über Brandt und Kohl und Schröder, ja sogar über den kunstsinnigen Westerwelle. In einem seiner betörenden Briefe hatte Gerhard Richter bange gefragt: »Was, wenn es zwischen uns nicht funkt?«

Aber es funkte ja! Das Wunder geschah. Ich las ihm wunderbar wütende Stellen aus seinen Notizen vor, in denen er sich in schlaflosen Nächten seinen Widerwillen gegen alles und jeden von der Seele geschrieben hatte. Die Linksintellektuellen, mit denen er sich nach seiner Flucht aus der DDR 1961 im Wes-ten herumschlagen musste, nennt er darin ein »blasiertes Gesindel«, die Ausstellungsmacher, denen er doch zum Teil seinen Ruhm verdankt, beschimpft er als »Zuhälter« und »Teppichhändler«.
Die Kunsthochschulen attackiert er, obwohl er selbst von 1972 bis 1994 an der Akademie in Düsseldorf lehrte, mit folgenden Worten: »Wir haben mehr als ein Dutzend solcher Hochschulen in der Bundesrepublik, an denen die schlechtesten Künstler als Parasiten hausen und ihr Beisammensein zu einem System der Unzucht und Langweiligkeit aufblasen. Diese sogenannten Künstler, die sich nicht das Salz in der Suppe verdienen könnten, werden dort zu Professoren ernannt…Sie können dort nicht nur ihren Schwachsinn kultivieren und verbreiten und die Studenten damit besudeln …« Und so weiter.

Auf die herrlich humorvolle Entgegnung Richters, als ich ihm seine Zornesausbrüche vorlas, muss ich hier, um mich nicht strafbar zu machen, leider verzichten. Die nur im deutschen Sprachraum übliche Unsitte der sogenannten »Autorisierung«, die dem Befragten erlaubt, das von ihm Gesagte nicht nur umzuschreiben, sondern gänzlich zu streichen, führt jedes Zeitungsgespräch ad absurdum. Denn warum sollte ein Journalist sich die Mühe machen, seinem Gegenüber Antworten zu entlocken, wenn er sie dann nicht publizieren darf?

»Die Wände in meinem Atelier dürfen Sie beschreiben«, gestand mir Richter, nachdem er mir den Abdruck unseres Gesprächs untersagt hatte, nicht ohne Zynismus zu. Aber er ist kein Zyniker. Das kann ich bezeugen. Er ist ängstlich, ja. Er fürchtet die Häme. Er wolle, sagte er mir, nicht öffentlich ausgebreitet sehen, dass er sich Anfang der Achtzigerjahre in psychoanalytische Behandlung begeben hatte. Aber darüber haben bereits andere vor mir berichtet.

Auch die Vergewaltigung seiner Mutter kurz nach Kriegsende, die er mir so beklemmend schilderte, dass ich beim Abtippen des Tonbandprotokolls in Tränen ausbrach, ist längst bekannt. Ich habe die Quellen studiert. Nichts wesentlich Neues steht in meinem nun verbotenen Interview. Aber wie er erzählte, mit welchem Feingefühl, über sich, seine Kindheit im Krieg und die Qualen beim Malen, so entspannt, so anrührend, mit altersweiser Gelassenheit, das machte ihn mir und allen, denen ich, natürlich streng vertraulich, das Gespräch zur Lektüre gab, zutiefst sympathisch.

Das Alter (er ist im Februar 75 geworden) hat ihn besänftigt, dachte ich. Oder war alles Fassade? Spielte er mir die Milde nur vor? Ein ungläubiges Lächeln kräuselte seine schmalen Lippen, als ich, auf seine Tagebucheintragungen anspielend, sagte: »In Ihnen tobt ein Vulkan.« Zum Beweis rief ich ihm eines seiner Verdammungsurteile aus früherer Zeit in Erinnerung. »Politiker sind grundsätzlich ekelerregend«, hatte er 1983 notiert, »impotent und unfähig, nicht imstande, irgendetwas herzustellen, weder ein Brot noch einen Tisch noch ein Bild, und diese Unfähigkeit, irgendeinen Wert zu schaffen, diese totale Minderwertigkeit, macht sie eifersüchtig, rachsüchtig, anmaßend und lebensgefährlich.«

Er schüttelte sich. Für seine Ausfälle aus jüngeren Jahren geniert er sich heute. Aber das derzeit vergriffene Buch, in dem sie stehen, wird demnächst neu aufgelegt. Staunend, vielleicht sogar beifällig, kann man darin einen bemerkenswerten Kulturpessimismus entdecken. Die staatliche Kunstförderung führe zu »Kunstverhinderung und Kunstvernichtung«. »Besonders niederträchtig« zeige sich die Kunstfeindlichkeit gerade bei den kunstinteressierten Politikern. Dazu war mir, als ich es las, naturgemäß unser Exkanzler eingefallen, der sich von Immendorff in Gold malen ließ und mit Lüpertz befreundet ist.

»Schröder?«, fragte ich im Interview. Wie schade, dass ich nicht verraten darf, was mir Richter erwiderte! Wie bedauerlich, dass ich die gütigen Korrekturen seiner Sottisen über Künstlerkollegen, zum Beispiel Anselm Kiefer, will ich ein gerichtliches Nachspiel vermeiden, verschweigen muss! Kiefers Kunst, sagte ich, während sich mein Interviewpartner ein Schokoladestück in den Mund schob, sei für ihn, so stehe es in seinem Buch, nichts als »formloser, amorpher Schmutz, als gefrorene, breiige Kruste, ekelerregender Dreck«. Da lachte er nicht. Wir tranken Kaffee. Des Malers sanftäugiger Pinscher lag mir zu Füßen. Das Sonnenlicht fiel schon schräg durch die Terrassentür. Jetzt, so dachte ich, in diesem Frieden, will ich mit dem kleinen, freundlichen Mann, in dem Abgründe schlummern, noch über das Böse im Menschen sprechen. »Haben Sie Mordfantasien?«, überraschte ich ihn. Richter entschuldigte sich, er müsse auf die Toilette.

Fröhlich pfeifend durchmaß er die weiten Räume des Ateliers, in denen die aus unzähligen kleinen Farbquadraten zusammengesetzten Entwürfe für das rechte Fenster im südlichen Querschiff des Kölner Doms, das er der Kirche schenkt, eine berückend heitere Atmosphäre schufen. Ich hatte mir tags zuvor diese noch von Plastikplanen verhängte letzte Spur der Kriegsschäden angesehen, mir andächtig ausmalend, wie meisterlich bunt die Lücke bei meinem nächsten Besuch in der Domstadt gefüllt sein würde.

Aber nun sollte ja vom Bösen die Rede sein. Seltsam ernst, fast bedrückt kam Gerhard Richter von der Toilette zurück. Ich las ihm zwei Sätze aus meinem Interview mit Ingmar Bergman vor: »Man muss das Böse in sich erkennen, und man muss es auch akzeptieren. Denn wenn man es von vornherein ablehnt, dann verwandelt es sich in Dämonen, und die Dämonen haben keine Gesichter.« – »Hehe«, sagte Richter. Ja, da war es wieder, das Lachen! »Machen wir morgen weiter«, schlug er vor. »Ich möchte Sie noch meiner Frau vorstellen.«Wir gingen durch den Garten zum Haus. Vom Balkon rief der zwölfjährige Moritz, Richters älterer Sohn, und zeigte stolz seine neuen Schuhe. Die Frau, Sabine, Richters dritte, siebenunddreißig Jahre jünger als er, hielt sein viertes Kind, Theodor, gerade zehn Monate alt, im Arm. Blauäugig sah es mich an. Mein Tonbandgerät war noch eingeschaltet. »Es hat Ihre Augen«, sagte ich zu Gerhard Richter. »Meine sind inzwischen grau«, sagte er. »Aber sie waren mal blau.«