Die Toten von Steinhausen

Rund um unser Verlagshochhaus stehen mehrere Gedenktafeln. Wer ist hier gestorben?

Vor 18 Monaten zog meine Redaktion von der Innenstadt in ein Hochhaus am Rande von München. Und vieles war auf einmal ganz anders: Hier die Autobahn. Schräg gegenüber die Speditionsfirma. Die Bahngleise. Die Geräusche. Die Gerüche. Wie weit wir uns aber tatsächlich vom Marienplatz, vom Viktualienmarkt und der schnellen Leichtigkeit der Stadt entfernt hatten, wurde mir erst klar, als ich jene kleinen Kreuze wahrnahm, die hier am Straßenrand stehen. Erst eines, dann ein zweites, und noch ein drittes. Marterl sagen die Bayern dazu: ein Stein, ein Kreuz aus Holz, eine Kerze, ein paar Blumen. Man kennt diese Art Denkmäler sonst nur von Dörfern oder den Böschungen viel befahrener Bundesstraßen. Hier aber wirken die Marterl fremd. Ich notierte mir die Namen der Toten und suchte ihre Angehörigen. Ich rief sie an und bat sie, mir zu erzählen, was passiert war.


Moritz
5. Juli 2002 – 4. Juli 2005

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Ein kleines Haus, 300 Meter von dem Gedenkstein entfernt. Im Garten eine Rutsche aus Plastik, auf der Terrasse ein Heizpilz. Die Wohnung ist hell und freundlich, auf dem Kaminsims steht ein Glas mit Muscheln. Ganz kurz schaut ein schmächtiges blondes Mädchen, vielleicht sechs oder sieben, aus einer Tür. »Ich kann nicht schlafen«, sagt sie. Auf einem Schränkchen steht das Foto eines Jungen mit weißblonden Haaren, in bayerischer Lederhose. Moritz wurde am Abend des 4. Juli 2005 von einem Baum erschlagen.

Der Vater
Es war der Tag vor seinem dritten Geburtstag, ein schwüler Abend. Ich habe im Garten das Zelt für die Geburtstagsfeier aufgestellt. Meine Frau besorgte Getränke im Supermarkt, als unser Au-pair-Mädchen Ivanita mit Moritz und Anna-Sophia in den Park rüberging. Sie nahm vorsichtshalber Regenjacken mit. Wenig später kam Wind auf, der schlagartig stärker wurde, wir mussten das Zelt festhalten, es begann zu regnen. Ivanita rannte mit den Kindern nach Hause, es sind ja nur 300 Meter, Moritz lief voran und zog sein Bobby-Car hinter sich her, da löste sich die Krone einer Schwarzpappel vom Stamm und krachte nach unten. Der Hauptstamm muss Moritz voll auf den Kopf getroffen haben. Ich weiß nur, dass Ivanita plötzlich mit Moritz auf dem Arm bei uns im Garten stand. »Du bist nicht tot«, schrie sie immer wieder, »du bist nicht tot!« Monate später erzählte sie, dass sie an dem Abend eigentlich eine halbe Minute früher aufgebrochen wäre, aber Moritz habe so gequengelt, also habe sie ihm erlaubt, noch ein letztes Mal zu rutschen.

Die Mutter
Als ich nach Hause kam, standen viele Menschen in der Einfahrt, alle schauten mich an, aber keiner redete mit mir, alle wirkten wie gelähmt. Irgendwann sagte ein Nachbar: Sie sind mit Moritz ins Krankenhaus, es sieht nicht gut aus. Ich fuhr in einem anderen Krankenwagen hinterher und versuchte von unterwegs, meine Eltern zu erreichen, aber ich wusste die Nummer nicht mehr, wir hatten fünf Jahre lang kein Wort miteinander gewechselt. Also rief ich meine Schwester an. Sie muss den Notarztwagen im Hintergrund gehört haben: Als sie abnahm, sang sie »Tatütata« ins Telefon. Sie wollte einen Scherz machen.

Moritz hatte schwere Kopfverletzungen, innere Blutungen, unter der Stirnplatte war eine Ader geplatzt. Der Chefarzt operierte vier Stunden lang. Gegen 23 Uhr legten sie ihn auf Intensiv, und wir durften ihn sehen. Er sah schlecht aus, alles war voller Kabel, trotzdem waren wir nicht verzweifelt, man spürt keine Trauer, solange man noch Hoffnung hat. Wir sahen unseren Sohn an und fragten uns, worauf wir warteten, worauf wir hofften, was das Ziel dieses Wartens war – und fanden keine Antwort, die Verletzungen waren zu stark. Uns wurde ein Pfarrer angeboten, aber wir lehnten ab, wir hatten kein Bedürfnis nach einem Geistlichen, er war ja getauft. Moritz durfte in Würde sterben. Wir haben seine Hand gestreichelt, seine Füße berührt und gebetet. Zu Hause haben wir einen Schnaps getrunken und sind ins Bett, jeder für sich, wir haben kein Wort gesprochen, glaube ich.

Der Vater
Moritz’ Schwester Anna-Sophia hat den Unfall aus nächster Nähe mit angesehen. Sie war 16 Monate alt. Anfangs war ihr wenig anzumerken, sie war zu klein, aber Monate später schrie sie aus heiterem Himmel »Angst, Angst!« und ruderte mit den Armen. Ein Psychologe meinte, sie ahme den herabstürzenden Baum nach. Heute ist sie sechs. Sie will Ärztin werden. Ivanita blieb nach dem Unglück noch zwei Monate bei uns, dann hat sie ihr Au-pair-Jahr vorzeitig abgebrochen. Wir haben ihr nie einen Vorwurf gemacht, mein Gott, sie war 18 damals. Wir haben ihr Briefe geschrieben; immer wenn sie Schuldgefühle verspürte, sollte sie schwarz auf weiß nachlesen können, dass wir ihr keine Schuld geben. Aber der Kontakt riss ab. Sie hat sich nie mehr bei uns gemeldet.

Die Mutter
Den Verlust des Partners, heißt es, nimmt man nach zwei bis vier Jahren an, den des Kindes nach drei bis fünf. Moritz ist jetzt seit fünf Jahren tot, ich weine noch oft, aber ich breche nicht mehr zusammen, inzwischen kann ich auch über seinen Tod sprechen. Siebzig Prozent der Ehen scheitern nach dem Tod eines Kindes, wir haben es Gott sei Dank geschafft, mit Hilfe des Kriseninterventions-teams, das am Anfang für uns da war, und des Sprechkreises der Selbsthilfe-gruppe »Verwaiste Eltern«, zu dem ich jahrelang gegangen bin.

Nach Moritz’ Tod konnte ich monatelang nicht aufstehen, und wenn ich es geschafft hatte, konnte ich nicht duschen. Ich hing stundenlang zusammengekauert in einer Ecke. Unsere Welt war stehen geblieben und die andere, die da draußen, drehte sich einfach weiter. Das Jahr danach waren wir nicht draußen, wir haben niemanden getroffen. Wir haben viele Freunde verloren, die nicht mit der Situation zurechtkamen. Ein halbes Jahr nach Moritz’ Tod habe ich von einer Freundin eine Karte zum Jahreswechsel bekommen. Sie endete mit den Worten: »Alles in allem war 2005 ein gutes Jahr.«

Der Vater
Ein Baumstatiker erstellte nach dem Unfall ein Gutachten: Die Schwarzpappel war kerngesund. Niemand hatte ahnen können, dass die 16 Meter lange Baumkrone sich lösen würde.

Die Mutter
Bei Moritz’ Beerdigung haben 300 Menschen Im großen Wald von Pitzenstein gesungen, ein Kinderlied, das Moritz in der Musikschule gelernt hatte. Beim Refrain müssen alle in die Hände klatschen und auf den Boden stampfen. Es klingt vielleicht komisch, aber für mich hat Moritz sein Leben voll ausgekostet, sogar Ski gefahren ist er mal, nicht in den Bergen, aber hinten im Garten auf Rutschern. An seinem zweiten Geburtstag haben wir ihm zu Ehren eine große Party gegeben, mit vielen Freunden und Kindern aus der Nachbarschaft. Er hatte eine Krone auf, auf dem »Geburtstagsking« stand, das Kindermädchen hatte »Geburtstagskind« falsch geschrieben. Ich glaube, es war sein glücklichster Tag.

Vor Kurzem haben wir seinen fünften Todestag begangen, Todes- und Geburtstag fallen bei ihm ja zusammen. Ich spüre, wie sich vor diesem Tag jedes Jahr wieder ein Spannungsbogen aufbaut. Wir beten dann nicht, wir tragen Gedichte vor. In einem heißt es: »Ich bin im Nachbarraum / Sprecht mit mir, wie ihr es immer getan habt / Benutzt keinen anderen Ton / Das Leben bedeutet das, was es immer bedeutet hat. / Es ist, was es immer war. /Der Faden ist nicht abgerissen.«

Die Trauer um Frank Berger

Frank Berger
13. April 1966 – 23. Juli 2008

Hübsch ist es im Garten von Joachim Berger, fast heiter. Ein Windrad, ein japanischer Ahornbaum, von einem Ast hängen Schnüre, an deren Ende faustgroße Steine baumeln. »Glückssteine«, sagt er, »die haben alle ein kleines Loch.« Sand hat es im Laufe der Jahrtausende ausgehöhlt. Vor 15 Jahren hat Joachim Berger seine Frau verloren, vor zwei Jahren seinen Sohn Frank.

Der Vater
Frank hat bei Siemens gearbeitet. Er war mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause und hatte noch fünf Minuten, als er von einem Lastwagen überrollt wurde. Der Lkw gehörte zur Spedition Dachser in der Zamilastraße. Der Fahrer wollte durch die Unterführung an der S-Bahn-Station, sieht, dass da nur Fahrzeuge bis 3,60 Meter Höhe durchpas-sen, und reißt das Riesending nach rechts auf die Truderinger Straße. Gutachter haben festgestellt, dass er von Frank höchstens
die Schuhspitze im Rückspiegel hatte sehen können.

In der Pathologie habe ich meinen Sohn das letzte Mal gesehen. Ich musste ihn sehen, sonst hätte ich es nicht geglaubt. Er sah aus wie aus Wachs. Der Anblick war unglaublich schmerzhaft. Seine Frau – sie ist Thailänderin – stand neben mir. Sie war ganz still.

Die Witwe
Ich bin froh, dass ich meinen Mann noch einmal gesehen habe. Er sah so schön aus. Ich habe dem Arzt immer wieder gesagt, dass er noch mal nachschauen soll, vielleicht schläft er ja nur. Heute gehe ich oft zu seinem Grab und zu der Stelle, wo es passiert ist. Nur dort bin ich glücklich. Nur dort ist Frank bei mir. Manchmal nehme ich ein Rosinenbrötchen mit und rede. Frank hat Rosinen-brötchen geliebt. Vielleicht denken die anderen Leute, dass ich krank bin, aber ich bin nicht krank. Wenn ich ins Bett gehe, lege ich ein Bild von ihm auf das Kissen neben mich. Obwohl ich Thailand vermisse, möchte ich in München bleiben, weil Frank hier näher bei mir ist. Dabei hielt ich ihn anfangs für einen Casanova, weil er so charmant und lustig war. Heute bin ich stolz, dass ich seine Frau bin, und versuche mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen, damit sich seine Familie keine Sorgen um mich macht.

Ein Freund
Frank und ich waren Freunde, seitdem wir 14 waren. Nach der Schule saßen wir jeden Tag auf der Aschentonne bei der Gärtnerei Huber in Trudering. Ich komme jeden Tag an dem Holzkreuz vorbei, wenn ich zur Arbeit fahre. Am Anfang dachte ich, das hält sowieso nicht lang. Ich war sicher, irgendein Schneepflug oder ein Straßenarbeiter reißt es um, aber es steht immer noch. In meinem Roller habe ich immer eine Flasche Wasser, damit gieße ich die Blumen, manchmal zünde ich eine Kerze an. Ich mache das ziemlich flott, es ist mir unangenehm, wenn die Leute schauen.

Am meisten vermisse ich, dass es plötzlich klingelt und der »Besche« vor der Tür steht, so haben wir ihn immer genannt. Das macht doch keiner mehr heute, alle haben Familie und schreiben eine SMS oder trauen sich gar nicht, weil sie denken, dass sie stören. Dem Besche war das egal, der kam vorbei, wir haben ein Bier getrunken und dann ist er wieder gefahren.

Der Vater
Frank und ich sind jedes Jahr nach Slowenien zum Fliegenfischen an die Soca gefahren. Wir zwei, die Natur, wir haben das genossen. Man muss eine geeignete Stelle finden, beurteilen, welche Fliegen es gibt, und die Angel da auswerfen, wo man den Fisch vermutet. Der Anblick, wenn so eine Forelle aus dem Wasser steigt, ist wunderschön. Nach seinem Tod bin ich noch einmal allein nach Slowenien gefahren, danach nicht mehr.

Die Witwe
Es ist so schwierig, ich habe keine Arbeit und so viel Zeit zum Nachdenken. Ich versuche stark zu sein, den Haushalt zu erledigen und jeden Tag einen Spaziergang zu machen, aber manchmal sitze ich am Tisch, und wenn ich nach fünf Minuten auf die Uhr schaue, sind drei Stunden vergangen. Oft bin ich neidisch auf die Sonne und auf andere Menschen. Jetzt im Sommer bin ich noch trauriger. Frank war jeden Tag joggen, und ich saß auf dem Balkon und habe auf ihn gewartet. Wenn ich heute da sitze, sehe ich ihn vor mir, wie er mir zuwinkt.

Er ist jetzt seit zwei Jahren tot, aber für mich ist es heute schwieriger als am Anfang. Erst habe ich es nicht geglaubt, sogar letztes Jahr habe ich mir eingeredet, dass er nur auf Geschäftsreise ist. Erst wenn ich an seinem Grab stehe und sehe, dass er begraben ist, glaube ich, dass er tot ist und nie mehr zurückkommt.

Die Schwester
Nach Franks Tod habe ich seiner Frau geholfen, sie spricht nicht so gut Deutsch und ohne Hilfe wäre sie verloren gewesen. Zuerst habe ich alles gekündigt, was sie nicht braucht: Franks Handyvertrag, seine ADAC-Mitgliedschaft, das Abo der Fischerzeitung. Allein bei der Rentenversicherung musste ich hundert Dokumente einreichen. Im Moment bekommt sie eine Witwenrente von 1500 Euro im Monat, aber die läuft diesen Sommer aus. Jetzt kämpfen wir um Schadenersatzzahlungen.

Franks Frau hat kein Geld, keine Arbeit, sie muss doch irgendwie weiterleben. Die Banken wollten sie alle übers Ohr hauen und ihr einreden, dass sie die Wohnung verkaufen muss, weil sie die Kredite nicht zurückzahlen kann, nicht mal eine EC-Karte haben sie ihr gegeben. Als ich das gehört habe, bin ich am nächsten Tag in die Filiale und habe gefragt, ob sie noch ganz dicht sind, so eine arme Frau, schüchtern und fremd in Deutschland, den Mann verloren, dermaßen unter Druck zu setzen. Ein Jahr später bekam sie eine Unfallversicherung ausbezahlt, und wer meldet sich bei ihr? Die Bank, und zwar am nächsten Tag. »Kommen Sie doch mal vorbei, am besten ohne ihre Schwägerin, wir hätten da ein paar Anlageoptionen für Sie.«

Die Witwe
Alles, was ich mache und denke, schreibe ich auf kleine Zettel und lege sie in eine Schublade. Das ist, als würde ich es Frank erzählen. Teilweise lebe ich auch, als wäre er noch bei mir. Er war immer so ordentlich, Besucher mussten ihre Schuhe ausziehen, bevor sie in die Wohnung durften. Ich fand das immer übertrieben, aber heute ziehe ich selbst meine Schuhe aus. Ich weiß, ich muss tapfer sein und besser Deutsch lernen. Manchmal versuche ich mich mit den Kindern von Franks Schwester zu unterhalten, dann spreche ich Deutsch, aber sie sind noch jung und verstehen meinen Akzent nicht: »Du musst Deutsch sprechen mit uns«, sagen sie dann.

Die Trauer um Thomas Matthes

Thomas Matthes
7. April 1971 – 14. September 1999

»Sei nicht traurig« steht auf dem Marzipanherz im Wohnzimmer von Josef und Katharina Matthes, daneben hängt ein graviertes Holzbrettchen an der Wand, Glückwünsche zur Goldenen Hochzeit. Wimpel, Pokale, Ehrungen, die beiden haben jahrzehntelang ein Festzelt bewirtschaftet, zuletzt führten sie einen Landgasthof. Nach dem Tod ihres Sohnes leg-ten die beiden einen Ordner an, »Thomas« steht darauf. Darin haben sie Gutachten, Anwaltsschreiben und Rechnungen gesammelt: Die 150 Sterbebilder »farbig, doppelt, mit Bild«, haben 213,50 Euro gekostet, die Erdbestattung 6815,48 Euro. Am 10. 4. 2001, knapp zwei Jahre nach dem Unfall, schreibt die Allianz: »Ihr Rechtsschutzfall ist abgeschlossen. Wir freuen uns, dass wir dabei helfen konnten.« Ihr Sohn Thomas wurde mit 28 Jahren von einem Bus überfahren. Er ist nicht das einzige Kind, das die beiden verloren haben.

Der Vater
Wo heute das Hochhaus steht, war früher nur Brachland. Wenig Verkehr, keine Ampeln, kaum Menschen. Eines Morgens um halb sechs fuhr unser Thomas mit dem Motorrad in die Arbeit, die Maschine war neu, eine gelbe 800er Honda, die er sich vier Wochen vorher gekauft hatte. Unser Thomas liebte auffällige Sachen, er hatte einen Ohrring, um den Hals trug er eine Goldkette mit Tigerkopf. Auf Höhe der Zamdorfer Straße bog auf einmal der Linienbus aus der Druckereieinfahrt, und weil an der Haltestelle niemand wartete, fuhr er gleich weiter, nahm unserem Thomas die Vorfahrt und erwischte ihn. Er war sofort tot. Sehen wollten wir ihn nicht mehr. Der Bus war über seinen Kopf gerollt. Der Fahrer war übrigens mit uns in der gleichen Faschingsgesellschaft.

Die Mutter
Nach dem Unfall war mein Mann zwei Jahre lang in Behandlung, Medikamente haben wir beide genommen, ein starkes Beruhigungsmittel, den Namen habe ich vergessen. Das war wie Rauschgift, so ruhig hat einen das werden lassen. In den ersten Wochen sind wir jeden Tag zum Arzt und haben uns die Ration abgeholt. Trotzdem habe ich Thomas’ Tod besser weggesteckt als mein Mann. Warum? Weil ich einfach weitergemacht und in der Gaststätte gearbeitet habe, jeden Tag von früh bis spät. Erst als vier Wochen nach dem Unfall unsere Tochter an Leukämie gestorben ist, haben wir den Gasthof ein paar Tage zugemacht. Da ging es einfach nicht mehr. Sie war schon länger krank gewesen. Bevor Thomas verunglückte, fühlte sie sich kurz besser. Sogar auf seiner Beerdigung war sie, im Rollstuhl und mit Mundschutz. Danach ging es aber ganz schnell. Sie bekam eine Gürtelrose und starb zwölf Tage später, 14 Tage vor ihrem 39. Geburtstag.

Sie war das fünfte Kind, das wir verloren haben. Eines ist vor und zwei sind kurz nach der Geburt gestorben. Die Ärzte sagen, es liegt an meiner Blutgruppe, die sich nicht mit der der Kinder vertragen hat. Unser Jüngster wurde nur sechs Stunden alt. Insgesamt war ich achtmal schwanger, drei Kinder leben noch.

Der Vater
Ich hatte selbst Prostatakrebs und bin Diabetiker. Ich spritze mich jeden Tag fünfmal. Wenn es auf Thomas’ Todestag zugeht, steigt mein Diabetes-Wert jedes Jahr wieder auf 300, normal sind 120. Wenn wir zu unserem Sohn Richard nach Forstinning fahren, müssen wir an der Stelle vorbei, wo Thomas verunglückt ist. Es sind jetzt schon mehr als zehn Jahre, aber ich fahre immer noch einen Umweg. Ich will da nicht hin. Eigentlich gut, dass er gleich tot war damals. Unser Thomas ein Pflegefall – das hätte ihn fertiggemacht. Er war ein Draufgänger, ein Lebemann, immer lustig, immer unterwegs, immer ein Mädchen dabei.

Die Mutter
Ich habe meine Tabletten regelmäßig genommen, aber mein Mann hat sie ohne Rücksprache mit dem Arzt abgesetzt. Er wurde depressiv, kam in eine psychosomatische Klinik. Er ist wahnsinnig leicht aus der Bahn zu werfen. Wenn bei einem Klassentreffen vorgelesen wird, wer nicht mehr dabei sein kann, weil er im letzten Jahr verstorben ist, dann macht ihn das fix und fertig. Als ich die Nachricht bekommen habe, dass unsere Tochter gestorben ist, war er auf dem Oktoberfest. Ich habe ihn damals nicht angerufen, sondern gewartet, bis er zu Hause war. Der wäre glatt gegen eine Mauer gefahren, so hätte ihn das mitgenommen.

Nach seinem Krebs und nach Thomas’ Tod fing er an, eine riesige Kerze aus Wachs zu basteln. Er hatte solche Angst vor dem Tod, aber die Kerze hat ihm Halt gegeben. Er hat Wachreste gesammelt, Nachbarn und Freunde brachten ihre alten Kerzen vorbei. Als die Kerze drei Zentner wog, hat er sie dem Pfarrer geschenkt.

Der Vater
Als das SZ-Hochhaus gebaut wurde, haben wir das Marterl ein Stück zur Seite gerutscht. Wir wussten ja, dass es mitten auf dem Baugelände steht, und hatten Angst, dass es wegkommt. Wir sind damals auch öfter vorbeigefahren, um zu schauen, ob es noch da steht. Was mich heute noch wundert: Alle haben das Marterl respektiert, keiner hat es angerührt, obwohl es nur wenige Meter vom Rohbau entfernt stand. Erst die letzte Firma, die den Gehweg runter zur Zamdorfer Straße gepflastert hat, lud den ganzen Bauschutt, den Sand und die Steine über dem Marterl ab. Man konnte es nicht mal mehr sehen. Wir haben dann eine Schaufel ins Auto gepackt, sind hingefahren und haben es wieder ausgegraben, teilweise mit den Händen.

Fotos: Julian Baumann