Wer möchte, dass sein Haus lebt, muss ihm auch zugestehen, sich gelegentlich in den Familienalltag einzubringen.
Da ist zum Beispiel der US-Offizierskasino-Tisch aus der McGraw-Kaserne, unser Esstisch. Die erste richtige Schramme hat er schon beim Transport kassiert, als wir ihn kopfüber auf den Passat meiner Eltern wuchteten: direkt auf den Antennenfuß. Ziemlich gestritten haben wir da – und das an unserem Hochzeitstag. Die Garderobenhaken hat meine Tochter in Tel Aviv aus dem Sperrmüll gezogen, als wir dort gelebt haben, ein Jahr lang, drei Minuten vom Strand, zwei Kriege. Und auf dem Kuhfell-Bugholz-Sessel bin ich als kleiner Junge oft die Lehne hinaufgekrochen, Zentimeter für Zentimeter, bis sie in Liegeposition rutschte. Da muss man verdammt mit den Fingern aufpassen.
Möbel saugen Geschichten auf. Dann stehen sie rum und erzählen. Von Kindheit und Freunden, von woanders und früher. In keinem anderen Lebensbereich sind wir so rückwärtsgewandt, so konservativ, so vergangenheitsverlinkt wie in den eigenen vier Wänden. Sich zu erinnern gehört zum Wohnwohlgefühl, alles andere ist Hotel. Zur Not kaufen wir uns fremde Vergangenheit, delegieren unser Erleben: Ein Tisch aus Altberliner Dielen, das Regalboard aus Treibholz, die Treppengeländer aus alten Barrenholmen. Retrostil, Vintage, Shabby Chic. Wer will schon im Neubau wohnen? PVC-Böden werden heute als Vinyl verkauft.
Natürlich denke ich nicht jedes Mal, wenn ich das Ganglicht anknipse und die Glaskugellampen unseren Flur ausleuchten, an die nach Russland ausgewanderten Freunde, die sie uns überlassen haben. Nicht jedes Mal, wenn ich die Marmeladen aus dem Dreimeter-Sideboard räume, an Axel, mit dem ich damals das Ding durch den verschneiten Garten einer Bogenhausener Abrissvilla gezerrt habe, auf zwei Schlitten – was macht der jetzt eigentlich?
Und trotzdem: Es wäre naiv zu glauben, dass all das spurlos an uns vorbeigeht. Wir versammeln Zeugen um uns für das, was wir erlebt haben, Erzählanfänge, Wurmlöcher in die Vergangenheit. Ob wir wollen oder nicht. Natürlich können wir immer mal wieder entrümpeln, was Neues besorgen, den Ikea-Kram zurückgeben, neuerdings sogar ein Leben lang. Aber irgendwas wird bleiben. Und die Dinge machen Druck: Die Zwanzigerjahre-Lampe aus meinen Studentenjahren in Florenz, der Emaille-Löffel vom wochenlangen Wildcampen durch Schottland. Wann fahren wir eigentlich mal wieder so richtig weg, ein paar Monate lang? Ich sehe mich schon wie ein Museumswärter in der eigenen Wohnung stehen, die Hände hinterm Rücken ineinander gelegt, mit den Füßen wippend, die eigene Vergangenheit verwaltend.
Ich habe mir vorgenommen, ein bisschen Zukunft in die Wohnung zu locken. Damit meine ich natürlich nicht ihre technische Seite: Mit dem Handy die Heizung steuern, vom Büro aus die Waschmaschine anlaufen lassen. Es geht mir auch nicht um die dunkle Seite der Zukunft: schon mal den Bettgalgen montieren, über Barrierefreiheit nachdenken, »und hier könnte das Extra-Bad für die Pflegekraft hin«. Ich meine Durchlässigkeit: dem Unfertigen, dem, was kommen soll, Raum geben, die Wohnung zum Trendscout des eigenen Lebens machen. Genauso wie viele Menschen vor Ostern oder Weihnachten ihre Wohnung schmücken, um sich einzustimmen, so könnte ich für die Zukunft dekorieren: Ich hänge mir nicht mehr die Lieblings-Urlaubsfotos an die Wand, nicht mehr Bilder von Orten, wo ich schon war, sondern Bilder von Orten, wo ich bald mal hin will: Island, Augsburg, Kalabrien. Wie eine Postkarte aus der Zukunft, Adressat bin ich selbst. Es muss auch nicht die fertig montierte Sitzhängematte sein, die mehr Faulsein in den Alltag holt. Es genügt schon ein Haken in der Decke, dazu ein Karabiner: Ich könnte die Matte jetzt sofort einklinken. Oder morgen. Ein goldener Bilderrahmen gibt Platz für das Projekt der Woche – und zwar das der nächsten. In jedem Regal bleibt ein Fach leer – und zwar das auf Augenhöhe des jeweiligen Zimmerbewohners. Es ist reserviert für unfertige Dinge: für die halben Lego-Raumschiffe der Kinder, die unterbrochene Schachpartie, das Fotobuchprojekt oder die Trompete, die zwanzig Jahre lang im Keller lag.
Gerade klettert meine anderthalbjährige Tochter den Kuhfell-Bugholz-Sessel hinauf. Gleich wird die Lehne in Liegeposition rutschen. Als ich ein kleiner Junge war, lag ich einmal dort, Wärmflasche auf der Brust: ein sechsjähriger Nichtschwimmer, kurz nachdem er im heimatlichen Moorsee fast ersoffen wäre. Ich erinnere mich noch sehr genau an das Geräusch, als das Eis unter meinen Gummistiefeln barst. Meine Tochter wird ihre eigene Geschichte finden.
Illustration: Janne Iivonen