Meine erste WG hatte ich mir anders vorgestellt. Vielleicht mit einer einzelnen Matratze auf dem Boden, aber nicht mit einem geblümten Schlafsofa aus den Sechzigern. Mit viel zu hohen Bergen an dreckigem Geschirr in der Küche, aber ganz sicher nicht mit einem erhöhten Toilettensitz. Bestimmt auch mal mit schlechtem Techno zu später Stunde – aber nicht mit Heino zum Frühstück. Als ich mit meinem Studium begann, wollte ich aber vor allem: in die Großstadt ziehen. Und bei meiner Oma war ein Zimmer frei.
Ein paar Jahre später sitze ich wieder im Wohnzimmer meiner Oma, das Radio läuft im Hintergrund. Ich erzähle ihr, dass ich darüber schreiben möchte, wie das damals denn so gewesen sei mit einer rund sechzig Jahre älteren Mitbewohnerin, und frage andersherum, wie es denn so ist, wenn plötzlich wieder jemand das geblümte Schlafsofa besetzt und studentische Schlafenszeiten zelebriert. Irgendwo dazwischen schlummert schließlich der Konflikt, dem auch wir schnell ausgesetzt waren: Wie lebt man zusammen, wenn einen mehrere Jahrzehnte an Lebenszeit und ein völlig unterschiedlicher Alltag trennen?
»Wenn es Probleme gibt, liegt es meistens daran, dass sich die jungen Leute übernehmen, also neben Uni und Nebenjob oft nicht mehr genügend Zeit übrig haben, um den Senioren im Alltag zu helfen«, sagt Ursula Schneider-Savage. Sie ist Mitarbeiterin des Seniorentreffs Neuhausen und vermittelt junge Wohnungssuchende an Senioren, die in München ein Zimmer frei haben. Auf dem strapazierten Wohnungsmarkt in Groß- und Studentenstädten sind Wohngemeinschaften, in denen Alt und Jung zusammenleben, zu einer Alternative geworden. Der große Anreiz für die jungen Mitbewohner: Anstatt Miete zu zahlen, helfen sie ihren älteren Mitbewohnern im Alltag, gehen einkaufen, mähen den Rasen, putzen die Fenster. In München gibt es rund hundert solcher Wohnpartnerschaften, für ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer unterstützen die jungen Mitbewohner ihre Vermieter für rund zwölf Stunden im Monat. Die meisten jungen Leute, die dieses Angebot in Anspruch nehmen, seien Studenten, prinzipiell richte sich das Ganze aber auch an Auszubildende oder Berufstätige, so Schneider-Savage.
Ja, die größte Herausforderung liegt im Alltäglichen. Wenn ich morgens aufstand, schnell duschte, frühstückte, schallte Schlager-Sound schon seit ein paar Stunden durch das Wohnzimmer. Ich arrangierte mich damit, so wie ich es auch mit schlechtem Techno getan hätte, und doch blieb da diese Erkenntnis, wie unterschiedlich die Erwartungen an den Alltag eben sind, wenn sechzig Jahre Altersunterschied trennen. Für meine Oma war es das Wichtigste an jedem Tag, dass sie ihre Post erhielt, dass Fernseher und Radio funktionierten, dass sie jemand anrief. Dinge, die sich über Jahre hinweg eingespielt hatten und durch die ihr Alltag funktionierte.
Da sie es selbst nicht mehr erledigen konnte, musste sie sich darauf verlassen, dass ich für sie einkaufte und den Müll nach unten trug. Vermutlich ist dies eine der schwierigsten Dinge des Alterns, dass sich die in der Jugend erkämpfte Unabhängigkeit plötzlich wieder wandelt. Doch gerade auf diesem Gedanken bauen Mehrgenerationen-Wohnprojekte ja auf, das in München heißt »Wohnen für Hilfe«. Das klingt wenig charmant, weil es diese Abhängigkeit im Alltag ganz besonders betont. Schön ist es, wenn man es schafft, diese Abhängigkeit im Alltag versinken zu lassen. Ich versuchte das, indem ich Dinge, von denen ich wusste, dass sie ihr wichtig waren, möglichst bereits erledigte, bevor sie mich darum bitten musste. Sie akzeptierte hingegen, wenn ich meine Tür hinter mir zumachte. Ich glaube, so schufen wir die wichtigste Grundlage dieser Wohngemeinschaft.
In diesem Jahr erkannte ich zum ersten Mal, wie es sich anfühlen muss, alt zu werden
Nach dem Aufstehen kochte ich jeden Morgen Kaffee für uns beide. Früher hatte mein Opa das immer gemacht, erzählte meine Oma mir eines Morgens, doch seit er vor fünfzehn Jahren verstorben war, habe sie nie wieder eine Tasse gekocht. Holte ich die Post aus dem Briefkasten, waren einige der Rechnungen noch immer an ihn adressiert. Abends, wenn wie immer das Radio lief, nahm sie regelmäßig eine Schachtel mit alten Fotos hervor, dazwischen war ein Stapel Briefe, die er an sie geschrieben hatte. Ich merkte nach einiger Zeit, dass es immer wieder dieselben Momente aus ihrer Vergangenheit waren, an denen sie besonders festzuhalten schien und von denen sie häufig erzählte. Darunter viele schöne und ein paar schmerzhafte. Vielleicht muss man das so machen, dachte ich irgendwann, wenn man bereits achtzig Jahre lang gelebt hatte: Diese lange Zeit auf wenige Ereignisse konzentrieren, um sie festhalten und begreifen zu können.
Details wie diese – die Schachtel mit den alten Briefen, der Kaffee – spiegeln auch eine Hoffnung wider, die in den Wohnmodellen von Alt und Jung liegt. Für einen Großteil der jungen Mitbewohner ist wohl der finanzielle Vorteil auf dem Wohnungsmarkt der größte Anreiz, sich auf dieses Miteinander einzulassen. Auch bei mir entstand nur aus diesem Grund die Idee, mit meiner Oma zusammenzuziehen. Für die älteren Bewohner mag es neben der Hilfe im Alltag aber eben auch der Platz sein, der durch die jungen Mitbewohner wieder gefüllt wird, räumlich, vor allem aber zwischenmenschlich. Plötzlich besetzt jemand die Schlafcouch und man ist nicht mehr so allein.
In diesem Jahr erkannte ich zum ersten Mal, wie es sich anfühlen muss, alt zu werden. Stets zu hoffen, dass sich nichts ändert, während der eigene Körper aber trotzdem an Kraft verliert, wichtige Menschen nicht mehr da sind, der Alltag immer schlichter und gleichzeitig immer schwerer wird.
Manchmal, wenn das passende Stichwort fällt, sagt meine 81-jährige Oma Gedichte auf, die sie früher gerne las, beispielsweise von Goethe. Der schrieb in einem Brief von 1803: »Die Summa Summarum des Alters ist eigentlich niemals erquicklich.« Ich denke, er meinte das vielleicht sogar tröstend. Denn für all diejenigen, die stets das Gefühl haben, nicht genug Zeit zu haben für all die Dinge, die das Leben bietet, ist es doch egal, ob sie nun 20 oder 80 sind. Wie oft überraschte es mich, wie gut meine Oma meine Gedanken, Ängste, Hoffnungen verstand, wenn wir uns unterhielten und wie schnell auch gerade diese gemeinsamen Gespräche es schafften, unsere getrennten Leben in ihrem Wohnzimmer zu verbinden.
In diesem Jahr lernte ich viel über meine Oma, über das Älterwerden und vor allem über diese seltsame Erkenntnis, dass sich über Generationen hinweg so viel verändert und gleichzeitig doch so vieles wiederholt. Wenn ich von meinen Abenden erzählte, fragte sie, ob es denn diese oder jene Kneipe noch gebe, in der sie früher immer tanzen war. »Immer habe ich mich in diese hohen Schuhe gequetscht«, sagte sie dann und lachte. Sie beschrieb die Kleider und Hosenanzüge, die sie damals getragen hatte, und es war nicht schwer, sie sich tanzend im Schwabing der Sechzigerjahre vorzustellen. Wie sie als junge Frau kurz nach dem Krieg ihre Lehre anfing, der Liebe wegen aus dem Sauerland nach München zog und sich auch in diese Stadt und das Leben hier verliebte. Wie sie später den Beruf, in dem sie wohl viel Anerkennung fand, aufgab, als meine Mutter geboren wurde. Manchmal habe ich sie gefragt, ob sie diese Dinge anders machen würde, wenn sie heute jung wäre. Ja, hat sie gesagt und das klang nicht wehmütig, sondern sehr nüchtern. »Das war einfach eine andere Zeit.«
Rainer Maria Rilke, den meine Oma stets über den allzu klassischen Goethe stellte, schrieb auch mal über das Alter – allerdings in deutlich verklärterer Wortwahl: »Und dann eines Tages alt sein und noch lange nicht alles verstehen, nein, aber anfangen, aber lieben, aber ahnen, aber zusammenhängen mit Fernem und Unsagbarem bis in die Sterne hinein!« Ich finde, das klingt viel mehr nach dem, was man gerne hören möchte, wenn man jung ist und das Alter noch in weiter Ferne. Als könne man die Gebrechlichkeit, die Verluste, die in immer weitere Ferne rückenden Erinnerungen einfach ausblenden und ewig jung bleiben. Aber gut, Rilke hatte im Rausch seiner Inspiration vermutlich einiges vor Augen, aber keinen erhöhten Toilettensitz.
Nach einem Jahr bei meiner Oma bin ich dann ausgezogen – in eine Studenten-WG, gar nicht weit von ihr entfernt. Als ich ausgezogen bin, waren wir beide etwas wehmütig und gleichzeitig sehr erleichtert. Dieses Jahr hat eine neue Verbindung zwischen uns entstehen lassen – und einen Blick auf das Zusammenleben von Alt und Jung, den mir eine klassische WG wohl nicht eröffnet hätte. Wer weiß schon genau, wie der andere Part lebt, denkt, fühlt? In einer WG, auf engem Raum, lässt es sich nicht nebeneinanderher leben, und ich habe in dieser Zeit gelernt, die Welt auch mal durch ihre Augen zu sehen, mich besser in die Welt der alten Menschen einzufühlen, mit allen Problemen und Herausforderungen. So fühle ich mich meiner Oma heute näher als je zuvor, wenn ich ihr Wohnzimmer verlasse, die Tür hinter mir schließe – und in meine eigene kleine Wohnung fahre.