These 6: Gegen wen oder was soll Pop noch aufbegehren?

Über die Grenzen einer einstigen Gegenkultur, die längst zum Konsens geworden ist.

Ich möchte nicht noch mal jung sein. Schließlich ist es die Kernaufgabe der Heranwachsenden, sich selbstständig in der Abgrenzung von Eltern und Autoritäten zu definieren. Man macht unvernünftige Dinge, entwirft Gegenwelten zur vorgelebten Spießigkeit und drückt das Ganze mithilfe von Musik aus. Je lauter, desto besser. Wichtig ist nur, dass die Eltern einen nicht verstehen und sich erwartungsgemäß echauffieren. Das immer wieder hinzubekommen ist anstrengend und vor allem im musikalischen Sinne schwieriger denn je.

Die Nachkriegspubertierenden hatten es als Halbstarke noch einfach. Ihre Nachfolger aus der Hippiebewegung auch: ein bisschen Gras, freier Sex, dazu verzerrte Gitarren – und die gewünschte Ablehnung der Gesellschaft war einem sicher. Von da an wurde es komplexer: Ab Ende der Siebziger waren logischerweise auch die Eltern selbst schon mit dem Rock ’n’ Roll groß geworden. Punk brachte noch mal Radikalisierung von Form und Inhalt, und wo das nicht reichte, um die Erwachsenen aus der Reserve zu locken, provozierte man erst mit der hedonistischen New-Wave-, später mit der gänzlich entpolitisierten Technomusik. Mit Techno hat es Pop noch einmal geschafft, auf komplettes Unverständnis der älteren Generationen zu treffen (was später kam, zum Beispiel Gangster-Hip-Hop oder Rammstein-Rock, traf eher wegen der Texte als wegen der Musik auf Empörung. Schade, denn Pop in seinen unterschiedlichen Ausprägungen hat sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang als Mittel der Abgrenzung bewährt. Heutzutage aber trifft er auf eine Gesellschaft, die ihre Codes von Trash bis Trance bereits mit der Muttermilch aufgesogen hat und durch nichts mehr zu erschüttern ist.

Der durchschnittliche deutsche CD-Käufer ist 37 Jahre alt, der hiesige Motorradfahrer im Schnitt 52 Jahre alt. Der Stadtteil Berlin-Mitte, das Nimmerland, wo nie einer erwachsen wird und die Popkultur den Tagesablauf bestimmt, ist in Filmen und TV-Serien das Idealbild des ganzen Landes geworden. Früher war es selbstverständlich, nach Wahnsinnstaten von Jugendlichen deren musikalische Vorlieben zu erforschen. Das Schulmassaker von Littleton war vielleicht das letzte, bei dem die Musiksammlung der Täter (sie hörten Dark Wave) zur Analyse der Motive herangezogen wurde.

Meistgelesen diese Woche:

Nach Erfurt und nach Winnenden hat niemand gefragt, was die Amokläufer zu Hause im CD-Player hatten. Pop- und Rockmusik ist als mögliche Erklärung in allen ihren Formen zu sehr Common Sense. Gesucht wird nach dem, was Politik, Kriminalpsychologie und Medien nicht verstehen. Und da sind Online-Games – beide Amokläufer spielten Counter-Strike – an die Stelle des Rock ’n’ Roll getreten. Sie sind fremd und andersartig, die Erwachsenen begreifen ihre Faszination und Formensprache nicht. Und genau das ist es, worum es Pop immer gegangen ist. Auch ich verstehe Computerspiele nicht. So muss es sein. Aber ich bin froh, dass ich keine 16 mehr bin.

(Tim Renner war bereits mit 36 Jahren Vorstandsvorsitzender der Plattenfirma Universal Deutschland, legte den Job aber 2004 freiwillig nieder. Er betreibt heute das Multimedia-Unternehmen Motor Entertainment und ist seit 2009 Professor an der Popakademie Baden-Württemberg.)