Es gibt gute und schlechte Patenonkel. Zu den Eigenheiten der schlechten gehört es, dass sie sich vor den Geburtstagen ihres Patenkinds fragen, wie alt es wohl diesmal wird und ob es eigentlich gern liest. Ich habe vier Patenkinder, drei Jungs und ein Mädchen, alles Kinder von Freunden, und den meisten bin ich ein eher schlechter Patenonkel. Das Mädchen ist mein ältestes Patenkind. Sarah kam zur Welt, als ihre Eltern und ich noch gemeinsam studierten, vor 24 Jahren, und ihr Geburtstag brachte mich über all die Jahre nur deshalb nicht in Verlegenheit, weil ich ihn vergessen hatte. Meine Freundschaft mit ihren Eltern war nach dem Studium zerfranst, wir verloren uns aus den Augen, und auch Sarah traf ich nur noch ein paar Mal. Irgendwann riss der Kontakt ganz ab. Wenn ich doch an sie dachte, bekam ich Gewissensbisse; längst hätte ich mich wieder bei ihr melden müssen. Mit jedem Jahr, in dem ich es nicht tat, wuchs meine Scheu, es zu tun.
Kürzlich erfuhr ich, dass Sarah nach ihrem Abitur nach Hamburg gezogen war, um hier eine Ausbildung zu beginnen: in einem Tattoo-Studio. Sie lebte also in meiner Stadt. Ich besorgte mir ihre Telefonnummer, schickte aber lieber erst eine SMS, ob ich sie einmal anrufen könne. Mit »Gruß von Patenonkel Andreas«. Die Antwort kam prompt: »Klar, ruf an, kein Ding. Bis morgen :-)«
Das klang unkompliziert. Mehr noch: Es klang irritierend gelassen. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte ich mich kaum um sie gekümmert. Aber vielleicht war Sarah gar nicht enttäuscht von mir. Vielleicht reagierte sie auf mein Lebenszeichen so entspannt, weil ihr der »Patenonkel Andreas« völlig egal war. Ich rief sie an, und sie lud mich ohne Umstände in ihre Wohnung ein.
Etwa eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit stehe ich vor ihrem Haus; sie werde direkt aus dem Tattoo-Studio kommen, hatte Sarah gesagt, und ich will wissen, ob ich sie auf der Straße wiedererkenne. Es gelingt: Die junge Frau ist das Abbild ihrer Mutter, eine zarte Person mit aufrechtem Gang, die rotbraunen Haare hochgesteckt.
Ich warte noch eine Weile, dann klingle ich. Sarah wohnt allein in einer Zweizimmerwohnung unter dem Dach. Sie umarmt mich zur Begrüßung, »schön, dass du da bist«, ich fühle mich befangen, Sarah lacht. Wir setzen uns in die Küche, und ich packe meine Tüte vom Asia-Imbiss aus. Sarah legt altes Silberbesteck auf den Tisch, öffnet eine Flasche Bier und sagt: »Lass uns mit einer Wohnungsbesichtigung beginnen.«
Und dann? Über was redet man bei so einem Wiedersehen? Für Sarah stellt sich die Frage nicht, sie ist guter Dinge, denn nach einem Krach mit ihrem Chef hat sie an diesem Tag in einem anderen Tattoo-Studio zu arbeiten begonnen, sie fühlt sich willkommen dort, und davon will sie mir erzählen. Sie mag ihren Beruf, das Künstlerische und den Perfektionismus, der nötig sei, opulente Muster sauber zu stechen. »Du musst ein präzises Gespür dafür haben, in welcher Hautschicht du gerade bist.« Sie hat all ihre Tattoos fotografiert und auf einem USB-Stick gespeichert, »das ist meine Mappe«. Sie selbst trägt kein einziges Tattoo.
Das letzte Mal länger getroffen haben wir uns vor elf Jahren, an ihrem 13. Geburtstag, den sie mit Freundinnen in einer Kletterhalle feierte. Mir fällt ein, dass ich ihr damals einen Klettergurt geschenkt habe. Sarah springt auf und holt etwas von einem Regal im Flur: den Gurt. Ich bin fassungslos, sie hat ihn also aufbewahrt, bis heute. Sarah nimmt mir die Rührung: »Warum sollte ich ihn denn wegwerfen?«, sagt sie. »Der ist kaum benutzt.«
Damals hatten sich ihre Eltern schon getrennt, und nun erfahre ich, wie schlecht es ihr anschließend gegangen war, über Jahre hinweg. Sie verstand sich nicht mit den neuen Partnern ihrer Eltern, zog bei der Mutter aus, dann beim Vater, wohnte mit 14 bei Freunden, dann wieder bei der Mutter. »Dort schloss ich mich tagelang im Zimmer ein. Ich hatte Essen gebunkert, um meine Mutter nicht in der Küche treffen zu müssen.«
War das nicht eine Zeit, in der ein Patenonkel, wenn er ein guter Pate gewesen wäre, ihr zur Seite gestanden hätte?
»Na ja, ehrlich gesagt glaube ich, dass alle Erwachsenen überfordert waren von mir, ich war kurz vorm Abrutschen«, sagt Sarah. »Da hättest auch du nicht viel helfen können.«
Hat es sie denn enttäuscht, dass ich all die Jahre nichts von mir hören ließ?
Nein, eigentlich nicht, sagt Sarah. »Ich fand das nur schade, weil es früher immer lustig war, wenn du unsere Familie besucht hast.« Und sie beginnt, ihre Erinnerungen aufzuzählen.
Es ist kurz vor Mitternacht, und ich sitze am Küchentisch einer fremden Frau, die mich mit fast vergessenen Episoden meines Lebens vertraut macht. Die Tattoos stechen kann und ihr Leben wieder im Griff hat. Auf eine merkwürdige Art macht sie mich stolz. Völlig unverdient, denn beigetragen habe ich zu ihrem Leben nichts. Aber sie ist meine Patentochter. Und vielleicht gibt es auch für schlechte Patenonkel eine zweite Chance.
Andreas Wolfers leitet die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Die Idee, als Reporter einen Ort zu besuchen, an den man es bisher noch nicht wagte zu gehen, stammt von ihm. Es war eine der Aufgaben, die er vergangenes Jahr den Bewerbern der Schule gestellt hatte.
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