Kaum ein Wanderer, der von St. Englmar nach Rettenbach unterwegs ist, tief im Bayerischen Wald, dürfte den Pfad bemerken, der kurz hinter dem großen Heidelbeerfeld vom Forstweg abzweigt. Die ersten Meter sind noch von Gras überwuchert, bald wird der Pfad breiter, und die Wurzelstränge, die ihn kreuzen, hat jemand mit seinen Schuhen glatt getreten. Ein paar hundert Meter führt der Pfad bergan, dann taucht zwischen Buchen und Tannen eine Hütte auf. Hier am Knogl, dem Hausberg von St. Engl- mar, haust der Knogl-Toni, wie ihn alle nennen, der Einsiedler vom Bayerwald.
Vor 18 Jahren tauchte der aus einer Nachbargemeinde stammende Schreiner plötzlich im Wald auf. Damals dachten viele, er werde bald wieder verschwinden, heute streift er immer noch durch den Wald oder hockt in seiner Hütte. Er redet nicht mehr viel, aber diejenigen, die ihn kennen, glauben, dass er, der früher als Rebell und Unruhestifter galt, seinen Frieden gefunden hat. »Der Toni ist zufrieden«, sagt Dr. Buczowsky, der Landarzt. »Er ist in den Wald gegangen, um frei zu sein. Und weil das geklappt hat, kommt er auch nicht wieder raus.«
Der moderne Einsiedler ist eine Figur, der unserer Gesellschaft mit Verwunderung und Respekt gegenübertritt. Verwunderung deshalb, weil heute schon der vorübergehende Verzicht auf E-Mail und Internet als Selbstbestrafung mit Nachrichtenwert gilt. Ganze Bücher wurden zu dem Thema in den letzten Wochen geschrieben, der Spiegel veröffentlichte eine Titelgeschichte über die Sehnsucht, offline zu leben. Aber ohne Not auf fließend Wasser oder Federbetten verzichten? Das erscheint auch eingefleischten Zivilisationskritikern als abwegig. Andererseits träumen gerade stressgeplagte Stadtbewohner vom Aussteigerdasein in der Natur - ohne Chef, Steuererklärung und Telekom-Warteschleife.
Der deutsche Wald hat sich stark verändert, er ist zivilisierter, ordentlicher geworden und längst nicht mehr der dunkle Ort von einst, in dem man Hexen, Räuber und Naturgeister vermutete. Heute gilt er eher als Ort der Freiheit und Muße, das romantische Gegenbild zur Welt aus Stahl und Beton, wo der Kontakt zur Natur Einsichten verspricht, die dem Städter verwehrt bleiben.
Tim von Lindenau
Glaubt man Tim von Lindenau, dann ist es gar nicht so kompliziert, im Wald zu überleben. Lindenau hatte eine Firma für Veranstaltungs- und Messebau in Freiburg, bevor er mit Mitte zwanzig eine Sinnkrise bekam. »Ich fühlte mich fern von mir selbst«, sagt er. »Ich habe beschlossen, raus in die Natur zu gehen, um zu erfahren, wer ich wirklich bin.« Neun Monate lang streifte Lindenau durch den Schwarzwald. Statt eine Hütte zu bauen, schlug er sein Lager immer dort auf, wo es ihm gerade gefiel. Seine Ausrüstung bestand aus einer Decke, einem Fell, einem Regenschutz, einem Messer und ein paar Büchern über essbare Pflanzen. »In dieser Zeit bin ich mit dem Wald verschmolzen«, sagt er.
Lindenau ernährte sich von dem, was er im Wald fand: Er sammelte Beeren, grub wilde Möhren aus und nagte an Holzäpfeln, die nicht zufällig so heißen. Nach städtischen Maßstäben schmecken viele dieser Waldfrüchte furchtbar - satt machen sie trotzdem. »Man kann fast alles essen oder essbar machen«, sagt Lindenau. Zu verhungern braucht im Wald also niemand, und unbequem muss das Dasein als Waldläufer auch nicht sein. »Wenn man sich unter seinem Wetterdach eine Grube scharrt und die mit Heidekraut füllt, dann ist das genauso gemütlich wie zu Hause auf der Matratze.«
Dem Förster war der Waldschrat verdächtig, den Tieren gefiel sein Geruch. »Nach einiger Zeit habe ich nicht mehr nach Mensch gerochen, sondern nach Wald«, erzählt er. »Danach haben mich die Tiere akzeptiert. Die haben keine Angst vor mir gehabt.« Auch die Pflanzen lernte Lindenau besser kennen. »Wenn man nicht von menschlichen Dingen abgelenkt ist, bekommt man ein ganz anderes Gespür für die Welt und nimmt Dinge wahr, die ein normaler Wanderer nicht bemerken würde.«
Der Kult-Eremit Christopher McCandless
Über seine Zeit im Wald hat Tim von Lindenau ein Buchmanuskript verfasst, für das er allerdings noch keinen Verlag gefunden hat. Vielleicht, weil er sein Leben im Wald zu gut meisterte? In der modernen Gesellschaft wird der Eremit ja immer mit Argwohn betrachtet, weil er sich gegen den Lebensentwurf aller anderen stellt - da ist es für die Gesellschaft fast ein beruhigendes Zeichen, wenn die Flucht in die Einsamkeit sich als Irrweg erweist. Die Kultfigur unter den modernen Einsiedlern ist prompt einer, der in der Wildnis total versagte: der Amerikaner Christopher McCandless, über dessen Tod Jon Krakauer das Buch Into The Wild schrieb, das von Sean Penn mit großem Erfolg verfilmt wurde.
McCandless’ Geschichte ist eigentlich ein Lehrstück darüber, wie man es nicht machen sollte: Von romantischer Naturbegeisterung beseelt, wanderte er ohne Vorräte und ohne Karte in die Wildnis von Alaska - und starb, weil er nicht mal grundlegende Überlebenstechniken beherrschte. Dennoch erlangte McCandless einen Heldenstatus: Sein Leben gilt als Parabel für unbändigen Freiheitsdrang und für die radikale Ablehnung der Konsumkultur.
Der Gedanke, dass der Verzicht auf Komfort den Blick für die Fragen des Lebens schärfen kann, taucht seit Jahrtausenden in allen Kulturen auf. Besonders einflussreich formulierte ihn vor 150 Jahren der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau: »Fast jeder Luxus und viele Annehmlichkeiten des Lebens sind nicht nur entbehrlich, sondern hindern tatsächlich den Aufstieg der Menschheit.« Das schrieb er in seinem Buch Walden, dem Manifest aller modernen Einsiedler. Zwei Jahre lang, von 1845 bis 1847, suchte Thoreau in einer selbst gebauten Blockhütte am Walden-See in Massachusetts Abstand zum Stadtleben, das er schon damals als hektisch empfand: »Müssen wir denn gleich rennen, wenn die Glocke läutet?« In den Wäldern wollte er »wohlüberlegt leben und nur den wesentlichsten Dingen des Lebens gegenüberstehen«. Glaubt man seinem Buch, dann gelang das Experiment: Einsamkeit, Selbstversenkung und Nähe zur Natur könnten, so fand er, die Verzweiflung bannen, die viele Städter befalle. »Wer inmitten der Wälder lebt und seine lebendigen Sinne noch hat, der kann nicht düsterer Schwermut verfallen.«
Die Frage ist immer: Warum geht jemand überhaupt in den Wald? Bei Thoreau war es ein philosophisches Experiment, Tim von Lindenau wollte in der Einsamkeit über die Richtung seines Lebens nachdenken, der Knogl-Toni hatte einfach keine Lust mehr, sich mit den Behörden rumzuärgern. Weitere Beispiele tauchen heute immer wieder mal in der Presse auf: Der Franzose Xavier F. entführte nach einem Sorgerechtsstreit seine Söhne und lebte mit ihnen zehn Jahre lang in einer Waldhütte in den Pyrenäen, bevor er im Februar 2009 entdeckt wurde. Und die Brandenburgerin Gabriele S. hatte vor ihrem Verschwinden im Jahr 1997 nur gesagt, sie wolle jetzt den Papst treffen - zwölf Jahre später fand man sie in einem Waldstück am Rand von Bern, wo sie bei winterlichen Temperaturen in einem winzigen Verschlag hauste. So unterschiedlich die Motive, so ähnlich ist in allen Fällen das Ziel: zur Ruhe zu kommen, sich selbst zu finden, anders zu leben, als es die Gesellschaft vorschreibt.
Harald Philippi
Für den Münchner Harald Philippi war der Wald ein Rückzugsort in einer dramatischen familiären Krise. Es kam heraus, dass der Großvater mehrere Frauen in der Familie missbraucht hatte, darunter auch Philippis Mutter. In der Verwandtschaft wollte niemand darüber reden, und als die Mutter in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, geriet Philippis Leben aus den Fugen. Er gab Job und Wohnung auf, verschenkte seinen Besitz und ging in den Wald. »Ich wollte mich mit meinen Problemen total auseinandersetzen«, sagt er. »Im Wald konnte ich alles am besten ordnen - allein und ohne von irgendjemandem gestört zu werden.«
Harald Philippi ist weder ein Eremit noch ein Naturbursche. Dennoch verbrachte er, ohne dass es jemand bemerkte, drei Jahre im Wald. Er führte ein Doppelleben: Tagsüber war er oft in der Stadt unterwegs, nachts fuhr er mit dem Auto zu Stellen im Umland, die er vorher ausgekundschaftet hatte. Um nicht erwischt zu werden, steuerte er seinen Wagen tief ins Gehölz und wechselte häufig den Schlafplatz. Nur einmal in all den Jahren klopfte morgens der Förster an die Scheibe. »Ich habe ihm erzählt, dass meine Freundin mich rausgeschmissen hat. Da hat er mich in Ruhe gelassen.«
Obwohl er eigentlich nicht gerade für Bäume und Sträucher schwärmt, hatte auch Harald Philippi im Wald Naturerlebnisse, die ihn begeisterten. Er erzählt von der Stille, die er in manchen Nächten erfahren hat, und vom Morgennebel auf den Seen, in denen er nach dem Aufstehen badete. Doch der Wald zeigte ihm auch seine andere Seite. »Da ist man komplett auf sich selbst zurückgeworfen«, sagt er. »Das muss man ertragen können.«
Eine nicht erklärbare Welt
Auch Tim von Lindenau betont, dass man sich einen längeren Waldaufenthalt nicht als heitere Abfolge malerischer Natureindrücke vorstellen dürfe. Im Wald stellen sich ganz andere Fragen als nur die nach Nahrung und einem trockenen Schlafplatz. »Die Natur kann chaotisch und brutal sein«, sagt er. Etliche Dinge, die Lindenau im Wald erlebte, waren für ihn mit herkömmlichen Maßstäben nicht mehr zu fassen. Genauer darüber sprechen möchte er nicht.
Antworten suchte Lindenau bei den Kelten und Germanen, für die der Wald ein heiliger, von Geistern und Göttern bevölkerter Ort war. Tatsächlich ist es noch gar nicht so lange her, dass die Menschen bestimmten Bäumen besondere Bedeutung zumaßen oder beim Gang in den Wald eine Vielzahl von Regeln befolgten, die uns heute wie der pure Aberglaube vorkommen; so war es lange verpönt, im Wald laut zu pfeifen, um die Waldgeister nicht zu verschrecken, aus demselben Grund tastete man auch keinen Holunderbusch an. Heute scheint nichts mehr an diese Zeiten zu erinnern; für Lindenau ist der Wald jedoch immer noch eine »wissenschaftlich nicht erklärbare Welt«.
Tim von Lindenau kam nach neun Monaten wieder aus dem Schwarzwald raus. Auch Harald Philippi beendete sein Abenteuer und wohnt inzwischen wieder mit Heizung und Klo. Nur der Knogl-Toni ist immer noch im Wald unterwegs. Ab und zu sehen die Menschen aus St. Englmar ihn, wie er mit seinem Rucksack durch die Wälder streift. Mal wird er beim Beerensammeln beobachtet, mal beim Kirschenpflücken. Recht regelmäßig besucht er den Gottesdienst. Man würde ihn ja gern mal fragen, was ihm der Wald bedeutet. Aber der Knogl-Toni antwortet nicht.
Magnus Epple/bildmaschine.de; Moment/Agentur Focus