Das verheißene Land liegt im Westen. Doch davor wartet die Hölle Grönlands: das Eis. Aufgetürmte Packeisschollen, Presseisrücken. Bläuliche Eisberge ragen aus der gefrorenen See vor Thule in Nordgrönland. Hamidur Rahman glaubt sich auf der letzten Etappe seiner langen Flucht um die halbe Welt, glaubt, der letzten Prüfung ins Auge zu sehen. 200 Kilometer westlich von Thule liegt Kanada. Seine einzig verbliebene Hoffnung.
Bislang hat sich der Weg nach Westen für den Mann aus Bangladesch als Sackgasse erwiesen. Hamidur Rahman, 30, Bauingenieur, Flüchtling, irrt seit Jahren umher auf der Suche nach einem Ort, an dem er in Frieden leben kann. In seiner Heimat kann er es nicht. Mehrfach sieht sich Rahman, Aktivist der liberalen, säkularen Oppositionspartei Awami League, gezwungen zu flüchten, geht nach Malaysia, kehrt zurück zu seiner Familie und flieht wieder. In Malaysia verliebt er sich in eine chinesischstämmige Malaysierin, deren Familie gegen die Beziehung ist und ihnen mit Gewalt droht. Zurück in Bangladesch muss er nicht nur wegen seiner politischen Einstellung um sein Leben fürchten, sondern nun auch wegen der religiösen Gesinnung seiner Frau, die als Konvertitin zum Islam von Fundamentalisten bedroht wird. Der Grund: Sie kleide sich »unislamisch«. Rahman fliegt im November 2004 mit seiner Frau und dem einjährigen Sohn nach Deutschland. Er beantragt politisches Asyl, sagt, er wünsche sich »endlich jede Menge Menschenrechte«. Sein Asylantrag wird abgelehnt, obwohl Menschenrechtsorganisationen seit Jahren aus Bangladesch über Attentate auf Politiker und Sympathisanten der Awami League berichten, über Bombenanschläge bei Demonstrationen, Killerkommandos, Massenverhaftungen, Erschießungen und Folter. Immerhin wird die Familie in Deutschland geduldet. Zwei Jahre wohnt sie in verschiedenen Unterkünften in Rheinland-Pfalz. Hamidur Rahman erstreitet sich eine Arbeitserlaubnis, findet einen Job bei einer Baufirma, besucht heimlich einen Deutschkurs, der ihm nicht zusteht, stottert die Kosten vom Verdienten ab. Er will keine Almosen. Er will ein Leben, eine Existenz.
Als er sich erfolgreich, aber ohne Rücksprache mit den Behörden, um eine besser bezahlte Stelle bewirbt, verliert er seine Arbeitserlaubnis. Zum ersten Mal gibt er auf, er wird mit einer Überdosis Tabletten ins Krankenhaus eingeliefert. Wieder eine Flucht, die ihm nicht gelingt.
Seine Ehe hält der Situation nicht stand. Hamidur Rahmans Frau erklärt im März 2007, sie wolle mit dem Sohn zurück nach Malaysia, damit wird auch Rahmans Duldung hinfällig. Beide bekommen Flugtickets in ihre Heimat, Rahman spielt mit, tut so, als füge er sich in das Unvermeidliche. In Wirklichkeit hat er sich längst ein anderes Ziel ausgesucht: Kanada. Das Land, von dem man ihm erzählt, dass es 95 Prozent aller Asylbewerber annimmt. Das Land, das dringend Baufachleute sucht, so steht es in den regelmäßigen Rundmails eines kanadischen Anwalts.
Als der deutsche Sozialarbeiter ihm auf dem Frankfurter Flughafen kurz den Rücken zudreht, verschwindet Rahman.
Das Ziel ist klar, nur der Weg noch das Problem. Eine legale Einreise nach Kanada wurde Hamidur Rahman bereits verweigert, aber er meint, einen Weg gefunden zu haben: von Grönland aus über eine meist gefrorene Meerenge, den Smith-Sund, zu der kanadischen Insel Ellesmere, eine Strecke von rund 200 Kilometern. Zwanzig Tage hat er dafür einkalkuliert, zehn Kilometer Fußmarsch am Tag. Das muss zu schaffen sein. Rahman hat etwas Geld gespart, auch seine Verwandten aus der ganzen Welt haben ihm etwas geschickt. Er hat ein paar tausend Euro, das müsste reichen, um sich bis Grönland durchzuschlagen.
Am 20. März 2007 fährt er mit dem Zug über die dänische Grenze, von dort fliegt er weiter, über kleine Flughäfen, auf denen kaum kontrolliert wird, auf die Färöer-Inseln, nach Island, nach Grönland, dort tastet er sich von Ort zu Ort weiter vor in den Norden, fast einen Monat dauert seine Reise. Am 18. April landet Hamidur Rahman mittags in einer roten Propellermaschine vom Typ »Dash 7« in Thule, 650 Einwohner, elf Grad nördlich des Polarkreises.
Thule liegt am Rand der Welt.
Einmal die Woche landet winters die Dash 7, zweimal im Jahr laufen Versorgungsschiffe das Dorf an. Fischerboote schlafen in den Schneewehen des Strandes, die Holzhäuschen des Ortes sind in bunten Farben bemalt, gegen die Eintönigkeit der langen, dunklen Winter. Zusammengerollt liegen Schlittenhunde an den Hängen, dösen, nachts heulen sie aus hundert Kehlen. Dahinter beginnt das Eis.
Das Eis ist schön und grausam. Die Temperaturen liegen zu dieser Zeit, Mitte April, bei minus 10 bis minus 20 Grad Celsius, das Wetter ist tückisch, unvorhersehbar rasen die Stürme vom grönländischen Inlandeis zur Küste hinunter. Hamidur Rahman spricht einen Mann auf einem Schneemobil an, aber das Gefährt ist nicht zu vermieten. Doch die Menschen sind hilfsbereit hier oben, jenseits des Polarkreises, und so wird Rahman weitervermittelt an Avigiak Petersen, einen Inuit. Rahman bittet Petersen, ihn mit dem Hundeschlitten nach Siorapaluk zu bringen, eine winzige Siedlung noch weiter nördlich. Dort rücken sich Grönland und Kanada so nah, dass man, glaubt Rahman, die kanadischen Berge von Ellesmere schon wird sehen können.
Völlig unmöglich, erklärt Petersen auf Englisch. Das Eis sei zu schlecht. Die Männer einigen sich darauf, etwa 15 Kilometer zu fahren. Dort, zwischen den Eistrümmern am Strand, erklärt Rahman dem Inuit, er werde nach Thule zurücklaufen. Er sei Tourist. Touristen wollten Abenteuer erleben.
Es ist der 18. April, abends um sechs, als der Schlittenführer ihn verlässt. Es wird nicht dunkel werden, die Sonne zieht sich nachts lediglich für wenige Stunden knapp hinter den Horizont zurück. Rahman beginnt zu laufen.
Er hat sich vorbereitet, so gut es eben ging. Er weiß, er bräuchte eigentlich Kleidung, die der polaren Witterung standhält, ein Zelt, vielleicht ein kleines Schlauchboot, einen Schlitten, um seine Ausrüstung über das Eis zu ziehen. Ein Gewehr für die Jagd und wegen der Eisbären. Ein GPS zur Navigation, am besten auch ein Satellitentelefon. Sein Plan war, sich das alles in Dänemark oder Grönland zu besorgen. Doch die Flüge haben sein Geld verbraucht. Er trägt einen wattierten Overall, darunter mehrere Pullover, er hat einen Kompass, eine Touristenkarte von Grönland, einen Campingkocher, einen Schlafsack und alles, was er während der Reise an Verpflegung auftreiben konnte. Vor allem hat er nichts zu verlieren.
In Deutschland wartet der Abschiebebescheid. In Bangladesch womöglich der Tod. Seine Familie wartet gar nicht. Rahman ist kein Idiot, er weiß, dass er im Eis sein Leben riskiert. Doch große Ziele, so glaubt er, verlangen große Hingabe.
Was er nicht weiß, ist, dass seine Route in diesem Jahr unmöglich zu schaffen ist: Das Meer zwischen Grönland und Kanada ist wegen des ungewöhnlich warmen Winters nicht zugefroren. Und selbst wenn sich der Smith-Sund, die Meerenge, die auf Rahmans Karte so schmal wirkt, überqueren ließe, liegt die nächste Siedlung auf der kanadischen Insel noch Hunderte Kilometer weiter südlich. Die Gebiete im Norden, wo Rahman ankommen würde, sind unbewohnt.
Aber Rahman will nicht nachdenken. Er will nach Kanada. Mit dem Kompass in der Hand stapft er hinaus aufs Eis, geradewegs nach Westen. Schnell wird das Eis brüchig, bald trifft er auf Wasser. Immer wieder bricht er durch das marode Eis, bis zu den Knien, bis zur Hüfte. Immer wieder muss er umkehren, sich einen neuen Weg suchen. Schließlich muss er erkennen, dass sein direkter Weg nicht existiert. Er wird der Küste folgen müssen, denkt er, nach Norden, nach Siorapaluk zunächst, vielleicht kann man ihm dort helfen. Das Gehen ist sehr anstrengend, seine Gelenke beginnen zu schmerzen, trotz der Kälte läuft ihm der Schweiß übers Gesicht, durchnässt seine Unterkleidung und wird, sobald er Rast macht, die Auskühlung beschleunigen.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages wandert Rahman über die steilen Hänge eines Kaps. Der Fels fällt fast senkrecht ab, in der Tiefe Wasser, jeder Fehltritt bedeutete das Ende. Rahman beschließt zu rasten. Sein kleiner Kocher mit Gaskartusche funktionierte beim Testlauf im letzten Hotelzimmer noch tadellos. Hier, in der Kälte, versagt er. Wütend leert Rahman seinen Rucksack und wirft weg, was er nun nicht wird brauchen können: den Kaffee, den Zucker, den gebratenen, steinhart gefrorenen Fisch. Rahmans Kehle brennt, er giert nach Wasser, aber ohne Kocher lässt sich kein Schnee schmelzen. Er macht ein Feuer mit allem, was entbehrlich ist: Er verbrennt ein Häufchen Plastikverpackungen, einen Reserve-pullover und alles Papier, das er bei sich hat. Auch seinen Pass. Doch das Feuer brennt nur kurz, den Schnee schmilzt es nicht.
Er versucht zu schlafen, aber innerhalb weniger Minuten zieht die Bodenkälte durch Schlafsack und Kleidung hindurch in alle Fasern des Körpers. Ohne Zelt und Isomatte hat er keine Chance auf Schlaf. Nur solange er in Bewegung bleibt, ist er sicher, nicht zu erfrieren.
Hamidur Rahman läuft weiter. Er weigert sich einzugestehen, dass der Tod ihm sicher ist, wenn er nicht umkehrt. Es muss, es wird einen Weg geben, wenn nur sein Wille eisern genug ist, redet er sich ein.
Er kommt über das gefährliche Kap und quält sich die Küste entlang weiter. Doch er wird schwächer. Immer öfter muss er pausieren. Er setzt sich, lehnt sich gegen seinen Rucksack, schläft 15, 20 Minuten einen unruhigen Halbschlaf, heimgesucht von Träumen und Halluzinationen. Jedes Mal wird es schwieriger, sich anschließend wieder auf die Beine zu zwingen. Essen kann er nichts, er ist zu ausgedörrt, würgt vergeblich am gefrorenen Brot, mehr als ein paar Kekse bekommt er nicht hinunter. Mit seinem Messer hackt er Stücke aus dem Eis, versucht sie zu lutschen. Aber das Eis bleibt an den Lippen kleben, und der Schnee will nicht schmelzen im Mund. Rahmans Durst lässt sich damit nicht stillen.
In der zweiten hellen Nacht quert Rahman das Eis des Mac-Cormick-Fjordes. Die Berge des gegenüberliegenden Fjordufers sehen zum Greifen nah aus, eine Täuschung der trügerisch klaren Luft. Rahman geht darauf zu, doch es ist, als käme er nicht von der Stelle. Schneidend fährt der Wind durch seine Kleidung. Der Kälte kann er nun nicht mehr davonlaufen, das Zittern hat seinen ganzen Körper ergriffen. Schuhe und Socken sind durchnässt, die Fingerhandschuhe wärmen nicht ausreichend, Rahmans Hände und Füße werden taub und die Lunge tut weh.
Hoher Schnee und sulziges Eis bringen ihn immer öfter zu Fall, wenn er aufsteht, scheinen seine Beine ihn nicht weitertragen zu wollen und geben nach unter seinem Gewicht. Brechreiz schüttelt ihn, die Berge bleiben auf Distanz. Rahman beginnt zu weinen. Nirgends ein Zeichen von Leben, die Stille erfüllt nur von den Geräuschen des Eises, das wispert, knackt, knarrt und grollt, als sei es lebendig. Mit jedem Sturz wächst in Rahman die Versuchung, einfach nicht mehr aufzustehen. Erfrieren soll kein schlechter Tod sein. Allein der Gedanke, seine Mutter und sein Sohn erführen niemals von seinem Ende, ist Rahman unerträglich. Also taumelt er weiter, den Bergen entgegen.
Als er endlich das andere Ufer des Fjordes erreicht, hat er jede Hoffnung verloren. Er ist sicher, sein Leben wird hier enden. Trotzdem schleppt er sich voran. Die eiskalte Luft schmerzt auf seinen ausgetrockneten Schleimhäuten. Erfrieren ist vielleicht nicht schlimm, aber Verdursten ist grausam.
Am späten Vormittag entdeckt er einen hellen Fleck in der Ferne, der sich zu bewegen scheint. Das jedenfalls gaukeln ihm seine übermüdeten Sinne vor. Ein Eisbär, denkt Rahman. Bleibt stehen. Geht vorsichtig weiter.
Es ist kein Bär, es ist eine kleine Holzhütte, wie sie die Jagdgebiete der Inuit in unregelmäßigen Abständen säumen. Eine Zuflucht. Zum Schlafen zu kalt, aber Rahman findet Holz und Petroleum, schafft es, ein Feuer zu entfachen und etwas Schnee zu schmelzen, es reicht für eine Tasse Wasser und einen Becher Instantnudeln. Dann hört er das Geräusch.
Ein fernes Dröhnen. Es ist keine Einbildung wie der Eisbär, diesmal ist es Wirklichkeit. Aus dem klaren Himmel schält sich die Kontur eines Helikopters. Rahmans Instinkte handeln an seiner statt, er springt auf, er schwingt sein Handtuch über dem Kopf. Der Hubschrauber dreht eine Schleife und landet ein paar Meter neben der Hütte. Rahman bricht zusammen. Denken kann er nicht mehr, nur weinen.
Es ist der 20. April, gegen 12 Uhr mittags. Wegen starker Winde ist der Helikopter von Air Greenland von seiner normalen Route abgewichen und überfliegt das Gebiet, in dem Rahman gestrandet ist. Ein Zufall. Der Pilot nimmt den erschöpften, unterkühlten Flüchtling an Bord. Rahman ist zu müde, um zu lügen. Also erzählt er von Kanada, dem verheißenen Land im Westen. Am Flugplatz in Thule wird Hamidur Rahman verhaftet.
Die Polizei hat Mitleid, behandelt ihn weniger als Gefangenen denn als Gast. Aber Regeln sind Regeln. Am 1. Mai wird Rahman nach Dänemark ausgeflogen.
Er kommt nach Sandholm, ein Abschiebegefängnis bei Kopenhagen. Am Straßenrand rosten Panzersperren, die Anlage befindet sich auf Militärgebiet. Niedrige Gebäude, ein Fußballplatz, auf dem keiner spielt. Hamidur Rahman wartet hier auf seine Überstellung nach Deutschland.
Rahman darf telefonieren, aber er weiß nicht, wen er anrufen soll. Sein Sohn hat begonnen, die wenigen deutschen und malaysischen Worte zu vergessen, er wird mit Chinesisch als Muttersprache aufwachsen. Rahman spricht Bengali, Hindi, Malaysisch, Englisch und Deutsch, aber nicht Chinesisch. Sie werden die gemeinsame Sprache verlieren.
Nachts kann Rahman nicht schlafen, tagsüber lähmen ihn Depressionen. Dann wünscht er sich, er hätte dem Helikopter nicht gewinkt. Hätte er noch nachdenken können, sagt er, er hätte es nicht getan. Er tritt in Hungerstreik, denkt nach über eine erneute Flucht, aus der ihn erstickenden Doppelzelle, weg aus Dänemark, und weiter nach Kanada. Mit einem kleinen Boot vielleicht, falls sich genügend Geld dafür als Illegaler in Südeuropa verdienen ließe, oder von Norwegen aus, vielleicht von England. Als blinder Passagier auf einem Frachtschiff. Oder doch über den Smith-Sund, im Schlauchboot oder mit Hilfe eines bestechlichen Fischers. Kanada ist zur fixen Idee geworden.
Am 8. Mai 2007 wird Hamidur Rahman nach einem weiteren Suizidversuch ins Krankenhaus gebracht, am nächsten Tag in die Psychiatrie. Am darauf folgenden Abend, dem 10. Mai, klettert er barfuß im Innenhof einen Baum hinauf und flüchtet über die Dächer und Zäune. Die Polizei verliert seine Spur in der Dämmerung der dänischen Birkenwälder. In Kanada ist es da erst früher Nachmittag.
Fotos: Tina Uebel, Gianni Occhipinti