Der einsame Papst

Dieser Mann ist gebildet und klug wie niemand sonst in der Kirche. Sein Drama: Das Amt treibt ihn in die intellektuelle Isolation. Ein Porträt.

Dieser Papst ist mir nahe, nicht weil ich katholisch bin, sondern weil ich die Welt, aus der er kommt, so gut kenne. Das beginnt bei der Sprache, diesem gepflegten, leisen Beamtenbairisch, dessen Ton mich unweigerlich an die Kaffeetafeln meiner Kindheit versetzt, an denen es sich heute längst verstorbene Tanten bei Sahnekuchen auf Nymphenburger Porzellan gutgehen ließen.

Außerdem gehört Ratzinger zur Generation meiner Lehrer, jener Kohorte großer Geister, die am Ende des Zweiten Weltkriegs noch halbwüchsig waren – dem Krieg durch Jugend knapp entronnen, aber von ihm doch gezeichnet – und die Deutschland intellektuell neu gründeten. Als Ratzinger noch nicht Erzbischof von München und Freising war, empfahl der ganz liberale Historiker Arno Borst uns Studenten dessen Habilitationsschrift über den heiligen Bonaventura als eins der zehn wichtigsten Bücher, die im 20. Jahrhundert zum Mittelalter geschrieben wurden – andere Namen auf der Liste waren Johan Huizinga und Marc Bloch. Als ich in Rom als Doktorand arbeitete, war Ratzinger schon Präfekt der Glaubenskongregation, und wer in der Apostolischen Bibliothek zu tun hatte, sah den kleinen Mann mit den eulenartigen Augen, der sich wie auf Rädern fortbewegt, in der Mittagsstunde oft über den Petersplatz eilen, ins Heilige Offizium. Als ich ihm vorgestellt wurde und meinen Doktorvater erwähnte, säuselte er traunsteinerisch: »Arno Borst? Das ist doch unser Spezialist für die Katharer?« Das klang, als ob er sich den Namen gemerkt hätte für den Fall, dass man gegen die um 1230 vernichtete Sekte doch noch einmal vorgehen müsse.

Ratzinger, das zeigten alle Begegnungen und Vorträge, die ich im Lauf der Jahre erlebte, ist dreimal so schnell im Kopf wie ein normaler Mensch; diese blitzartige, alle Bezüge eines in der Diskussion auftauchenden Arguments erfassende Geisteskraft habe ich nur noch bei einem zweiten Wissenschaftler erlebt, dem Historiker Reinhart Koselleck. Aber Koselleck hat sich immer für den Menschen interessiert, mit dem er gerade sprach; Ratzinger dagegen pflegt in Gesprächen oft durch sein Gegenüber hindurchzublicken, ganz beschäftigt mit seinen Gedanken. Heute sagen ihm Insider der Kurie eine dramatische Unkenntnis von Menschen nach, die die eigentliche Ursache von Pannen in diesem Pontifikat sei: Der Papst sei vertrauensselig bis zur Naivität und setze darauf, dass die Zuständigen ihre Arbeit richtig machten.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie, wie Gustav Seibt das Papst-Werden von Kardinal Ratzinger miterlebt und warum er sich jetzt um ihn sorgt.)

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Als ich, mit meiner unkatholischen, nur von persönlichen Eindrücken belebten Vorkenntnis, über die Medien miterlebte, wie Kardinal Ratzinger erst das Ende des Pontifikats von Johannes Paul II. administrierte und dann Papst wurde, wurde mir geradezu mulmig. Einer der Professoren, denen ich so viel verdankte, erreichte das höchste, einsamste, schrecklichste Amt, das einen Intellektuellen treffen kann! Das zarte Männchen mit der dünnen Stimme musste einen Totengottesdienst durchführen, bei dem ihm fast eine Milliarde Menschen zuschauten! Wie hält man das aus? Arno Borst, der Ratzinger bekannte Doktorvater, hatte mir einmal gestanden, das mit dem Lampenfieber vor großen Vorlesungen höre nie auf, da könne man alt werden und erfahren sein, so viel man wolle.

Die Schrecklichkeit des Papstseins – in der Sixtinischen Kapelle pflegen die neu Gewählten ihre Mitkardinäle regelmäßig anzuflehen, diesen Kelch an ihnen vorübergehen zu lassen – fiel mir daher stärker auf die Seele, als wenn sie einen mir Unbekannten getroffen hätte. Denn als Historiker weiß ich, dass dieses Amt töten kann: nicht nur Johannes Paul I., der nach kaum hundert Tagen einem Herzschlag erlag, sondern vor ihm schon Paul VI., der regelrecht depressiv wurde in der Kälte und Einsamkeit dieser Aufgabe.

Und Joseph Ratzinger mit seinem umfassenden Wissen von der katholischen Tradition und den Irrungen der Kirchengeschichte musste diese Schwierigkeit mit stereoskopischer Deutlichkeit erkennen: In der katholischen Tradition hängt alles mit allem zusammen, und wer einzelne Forderungen erhebt, zur Abtreibungsfrage, zum Zölibat, zum Kondomgebrauch, zur Anerkennung der Homosexualität, der berührt auch unverhandelbare Grundfragen des Lebensschutzes, der Unverfügbarkeit von Geburt und Tod.

Ratzinger-Benedikt mag in Einzelfragen so liberal empfinden, wie keiner seiner Kritiker sich das vorstellen kann, aber er denkt in Systemen und Folgerungen. Er muss eine alte Institution als Gefäß einer göttlichen Offenbarung durch eine immer noch beispiellose Epoche geleiten, das ist sein Bewusstseinsstand.

Es gibt in dem Roman Rom von Emile Zola die Szene, in der der Held, ein junger Priester, Papst Leo XIII. nachts heimlich im Vatikan besucht, um mit ihm über die Kirche, Christus und die Probleme der Gegenwart zu sprechen. Unter den vielen laut schreienden Kritikern, nicht zuletzt unter den Romanschriftstellern, würde ich mir einen einzigen wünschen, der eine solche Szene über Benedikt XVI. in Angriff nähme.

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Der SZ-Autor Gustav Seibt, 49, studierte Geschichte in Rom, wo er den Kurienkardinal Joseph Ratzinger erlebte. Später beschrieb er den kompliziertesten Kirchenkampf der Moderne, bei dem das Papsttum und Italien sich um die Stadt Rom stritten, in seinem Buch Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt. Als Protestant ist er in katholischen Fragen eher entspannt.

Foto: Contrasto / Laif