Der Traum vom schnellen Geld

Mit 1000 Euro in knapp einem Jahr möglichst viel Gewinn machen. Wir haben es versucht – mit einem Rennpferd, einem Konzert, mit Designermöbeln, Vinylplatten und mit Preisausschreiben. Was bringt am meisten ein? Und was floppt?

    Ein Auschnitt aus einem Geldschein aus Schottland.

    Artwork aller Geldscheine: Prill Vieceli Cremers

    Rennpferd

    Ein Pferd kaufen, das dann von Sieg zu Sieg ­galoppiert – und von Preisgeld zu Preisgeld? Unbezahlbar. Aber man kann es auch eine Nummer kleiner machen, so wie unsere Autorin: Anteile pachten

    Sie hat nicht mitbekommen, dass sie für eine Weile ans SZ-Magazin verpachtet war, ungefähr zu zehn Prozent. Sie, das ist Valuable Vista, eine ­schmale dunkelbraune Stute mit nachdenklichen Augen. Ihre Trainerin sagt, sie ist ein außergewöhnliches Pferd, das keine Fehler macht. Die für sie zuständige Arbeitsreiterin sagt »mein Goldstück« zu ihr. Der Jockey sagt, sie wird das schon machen.

    Meistgelesen diese Woche:

    Am Samstag, 9. Oktober, 15 Uhr 35, ist sie in Dortmund gemeldet, ein Rennen über 1600 Meter, die Siegerin verdient 25 000 Euro, die Zweite 11 000, die Dritte 6000. Denn das ist der eigentliche Grund für die ganze Geschichte: Valuable Vista ist ein Rennpferd und soll Geld verdienen, für ihren Besitzer, ihre Trainerin, ihren Jockey und fürs SZ-Magazin. Der ehrgeizige Plan ist der Preis der Winterkönigin, ein Stutenrennen in Baden-Baden für Zweijährige, dotiert mit 105 000 Euro, 60 000 für die Siegerin, das wären mehr als 5000 Euro Gewinn fürs Magazin. Für dieses Großereignis müssen sich die Stuten in vorherigen Rennen qualifizieren.

    Zum Beispiel eben in Dortmund. Und vorher in Baden-Baden, ihr erster Start. An einem heißen Septembertag schreitet Valuable Vista ruhig und unverschwitzt durch den Führring, der Blick aufmerksam, das Fell glänzt gesund. Keine zwei Minuten nach dem Start ist das Rennen vorüber, sie wird Fünfte, der Jockey Adrie de Vries ist überrascht, im Training war sie heißer gewesen, die Trainerin Yasmin Almenräder nickt aus Reflex, als sie gefragt wird, sind Sie zufrieden, eine Sekunde später schüttelt sie den Kopf und sagt, als Trainer ist man nie zufrieden, wenn man nicht gewinnt. Sie hat der Stute mehr zugetraut, aber bei so einem ersten Rennen ist ­natürlich alles neu, der Transport von Mülheim nach Baden-Baden, die Nacht in einer fremden Box, ständige Lautsprecherdurchsagen von Quoten und Dreierwetten, die vielen Menschen mit Hüten und Sektgläsern. »Erinnern Sie sich an Acatenango?«, fragt die Trainerin. »Der ist fünfmal zweijährig gestartet, beim ersten Start verstand er gar nicht, was er machen sollte, und wurde Letzter.« Als er drei und vier Jahre alt war, gewann Acatenango zwölf große Rennen in Folge, 1985, 1986 und 1987 wurde er Galopper des Jahres.

    Ein Rennpferd im Training kostet im Jahr
    rund 20 000 Euro Unterhalt

    Adrie de Vries verabschiedet sich und eilt zum nächsten Pferd, die Jockeys reiten an einem solchen Tag ein Rennen nach dem anderen, keine Pause, Elfi Bonsangue, die Arbeitsreiterin aus dem Stall Almenräder, führt die nun total verschwitzte Valuable Vista zur Dusche. Neben der Trainerin steht Michael Bergmann, cremeweißer Anzug, cremeweißer Hut, der die Stute auf einer Auktion gekauft hat und nun mit dem SZ-Magazin die vorübergehende Besitzergemeinschaft bildet. Er hebt entschuldigend die Schultern und sagt, das wird schon, dabei ist der Verlust für ihn am höchsten.

    Zehn Prozent des Gewinns gehen an den Trainer oder die Trainerin, zwei Prozent an den Stall, der Jockey bekommt Reitgeld, 75 Euro pro Rennen, plus fünf Prozent des Gewinns, der Rest gehört den Besitzern, die allerdings auch die Kosten tragen. Ein Rennpferd im Training, sagt Michael Bergmann, kostet im Jahr rund 20 000 Euro Unterhalt, für Futter, Training, Schmied, Impfungen und andere tierärztliche Kosten, Meldegebühren, Transport zu den Rennen, Gebühren für den Jockey. Mit der Pacht ist man vorübergehend an den laufenden Kosten und am Gewinn beteiligt, man erwirbt keinen Teil des Pferdes. Im Vertrag steht, das SZ-Magazin sei »nur in dem Maße an den erzielten … Renngewinnen beteiligt, wie es dem Maß der Kostenbeteiligung … an den Unterhaltskosten der Stute Valuable Vista in dem Zeitraum vom 01.07.–31.12.2021 entspricht«. Mit einem Sieg heute hätte Valuable Vista 3750 Euro verdient, für den fünften Platz gibt es nur 375 Euro. Laut der Abrechnung bleiben dem SZ-Magazin 43 Euro und 99 Cent, das sind genau 11,73 Prozent des Gewinns nach allen Abzügen.

    Die Trainerin muss auch weiter, zum nächsten Pferd, zum nächs­ten Rennen. Bergmann fragt: »Wie finde ich euch nachher? Ich hab Äpfel für Valuable mit.« Jeden Samstagvormittag fährt er mit klein geschnittenen Äpfeln auf die Rennbahn in Mülheim zu seinen Pferden, neben Valuable Vista gehört ihm ein kleiner Teil von Lancade. Dieses Pferd hat er – das hört sich jetzt an wie ein Märchen – in einer Weinlaune zusammen mit fünfzehn anderen Galoppfans für 19 000 Euro gekauft. 2020 gewann Lancade, die man Französisch ausspricht, einen Rennklassiker, das »German 1000 Guineas« in Düsseldorf, 35 000 Euro für den Sieger. Und sie gewann weiter, ein Züchter bot der Besitzergemeinschaft nun schon 110 000 Euro, sie möchten aber mehr für sie, vielleicht 150 000. Das, sagt Bergmann, ist der Sinn der Rennen: die Zuchtauswahl für den Sport zu treffen. Und wenn ein Pferd sich als der Zucht würdig erweist, wie Lancade, liegt darin der größte Gewinn.

    Das 1000-Euro-Projekt

    Diese Texte sind im Rahmen eines Experiments des SZ-Magazins entstanden, bei dem Journalistinnen und Journalisten versuchten, 1000 Euro innerhalb eines Jahres auf verschiedenste Art und Weise zu vermehren. Sämtlicher Gewinn wird dabei gespendet. Hier geht es zu allen Artikeln des 1000-Euro-Projekts.

    Ich habe lange nach einem Pferd gesucht. Ich wollte es anfassen und mitfiebern können, es sollte oben mitspielen, wie Lancade, und ich musste wieder aussteigen können, die knapp zehn Prozent nicht wirklich erwerben, sondern pachten. Über Anbieter wie ­vollblutmarktplatz.com und pferdewettenblog.de kam ich nicht weiter, die Besitzergemeinschaften sind auf längere Zeit angelegt, und oft steigt man nicht in ein Pferd mit ein, sondern in eine Stallgemeinschaft. Also probierte ich es über die Trainer.

    Die großen Trainer gewinnen die meisten Rennen. Henk Grewe aus Köln wurde 2019 und 2020 Trainer-Champion, vorher war es viele Jahre lang Peter Schiergen, auch aus Köln, mit je rund 80 Pferden im Stall. Riesenbetriebe, kaum eine Chance, sich mal in Ruhe mit dem Trainer zu unterhalten. Yasmin Almenräder aus Mülheim an der Ruhr ist eine der wenigen Frauen im Geschäft, sie spielt oben mit, obwohl sie nur 35 Pferde im Training hat.

    Im März haben wir telefoniert, sie hatte ein Pferd im Sinn, Lady Charlotte, aber dann wechselte Lady Charlotte den Besitzer. Anfang Juni der erste Besuch in Mülheim, ein sonniger Morgen. Yasmin Almenräder begleitet das dritte Lot, so nennt man eine Trainingsgruppe, zur Bahn, ihr Hund trabt hinterher, neben ihr geht die Tierärztin, die fünf Pferde galoppieren erst verhalten und dann immer schneller, ein schönes Bild, wie sie sich strecken und über den Rasen fliegen. Im Training, erklärt Almenräder, geben die Pferde höchstens 85 Prozent, im Rennen genauso, auf hundert Prozent kommen sie erst auf der Zielgeraden.

    Zurück im Stall zeigt sie mir die drei Pferde, die infrage kommen: Souldream, dreijährig, dunkelbraun, freundlich, er ist in Ausgleichsrennen gelaufen, das sind die unteren Ligen, die Listen- und Grupperennen sind die oberen Ligen. Ausgleichsrennen sind nicht hoch dotiert, für einen Sieg gibt es um die 3000 Euro. Souldream müsste im Sommer einige Male gewinnen, um mehr aus meinen 1000 Euro zu machen. Ähnlich schätzt sie Damanda Pride ein, eine vierjährige, kleine Stute mit rotgraumeliertem Fell. Die beiden sind, wie man so sagt, risikoarme Geldanlagen.

    Riskanter ist eine Beteiligung am dritten Pferd. Valuable Vista ist erst zwei Jahre alt und darum noch kein Rennen gelaufen, da ist alles drin, sie hat eine gute Abstammung, sagt Almenräder, ihr Vater ist Guiliani, dessen Großvater mütter­licherseits Monsun war, der bedeutendste deutsche Vollblut-Ver­erber über Jahrzehnte. Aber das muss nichts heißen, sagt Almen­räder, eine gute Abstammung haben viele Pferde, sie ist schnell, aber schnell sind auch viele Pferde. Die wirklich guten, sagt Almenräder, sind gelassen, einfach zu handhaben, schon von klein auf routiniert, und sie verrichten ihre Arbeit gern. »Pferde sagen es einem, wenn sie nicht wollen.« Und Wilma, wie sie Valuable Vista im Stall ­Almenräder nennen, will. Sie hat, sagt Almenräder, alles, was ein gutes Rennpferd braucht. Valuabale Vista soll hochdotierte Listen- und Gruppenrennen laufen.

    So ein Vormittag bei Yasmin Almenräder ist streng getaktet. Ständig geht es hin und her zwischen den Ställen, der Galoppbahn, auf der sie jeden Tag sechs oder sieben Lots trainiert, und der Führanlage, in der die Pferde Schritt gehen. Ständig will jemand was von der Chefin, da frisst ein Pferd nicht richtig, da bockt ein anderes am Tor zur Bahn, die Reiterin wird nervös, fragt, was soll ich tun? Ruhe bewahren, sagt Almenräder, die immer die Ruhe bewahrt.

    Die Rennen stehen in der Kritik

    Ihr Tag beginnt um fünf Uhr früh, mittags hockt sie im Büro in einem Stahlcontainer, vor ihr ein Haufen Brötchentüten fürs Team, und guckt mit der Tierärztin die Röntgenbilder der Zweijährigen durch. Wenn sich die Wachstumsfugen in den Vorderfußwurzelgelenken geschlossen haben, ist das Skelett belastbar, sodass sie starten dürfen, vorher ist es nicht erlaubt. Bei der nächsten Untersuchung ist Valuable Vista dran, dann zeigt sich, ob sie im Herbst auf die Bahn darf – und ob es für mich sinnvoll ist, bei ihr einzusteigen.

    Die Zweijährigen-Rennen stehen noch stärker als der gesamte Galopprennsport in der Kritik. Tierschützer meinen, dass sich zweijährige Pferde weder physisch noch psychisch für die Belastungen auf der Rennbahn eignen. Ein Gegen­argument, das immer kommt, ist eigentlich keines, weil es rein wirtschaftlich ist: Im ­internationalen Vergleich wäre der deutsche Galopprennsport tot, gäbe es keine Zweijährigen-Rennen mehr. Ein anderes beliebtes Argument: Die Pferde, die zweijährig rennfertig sind und an den Start kommen, werden dreijährig gut. Anders gesagt: Achtzig Prozent der sehr guten Drei- bis Vierjährigen sind zweijährig ­gelaufen. Wieder eine Binnensicht. Anruf bei Stephen Eversfield, einem Tierarzt, den mir mein persönlicher Lieblingspferdetierarzt, der von Galoppern leider nichts versteht, als sachkundig und objektiv empfohlen hat. Eversfield, das muss man allerdings dazu sagen, züchtet Vollblüter.

    Ginge es nach hartgesottenen Tierschützern, meint Eversfield, dürfte kein Pferd mehr geritten werden. Und wenn kein Pferd mehr geritten würde, gäbe es bald keines mehr. Denn wir brauchen heute Pferde nicht mehr als Nutztiere, sondern für Sport und Freizeit. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere: Das Vollblutpferd wird seit Generationen auf Schnelligkeit und Frühreife gezüchtet. Der Galopprennsport, sagt er, ist extrem gut überwacht, es gibt einen standardisierten Fahrplan zur Prüfung des psychischen und physischen Zustandes der Pferde, eine Art objektive Reifeprüfung. Kein Trainer und keine Trainerin würde ein unzureichend reifes oder unzureichend vorbereitetes Pferd ins Rennen schicken, sondern sehr genau prüfen, welchem Pferd sie oder er welche Leistungs­anforderungen stellt.

    Pferde, fügt er an, sind Lauftiere und auf der Bahn mit Feder­gewichten und geradeaus unterwegs, sie sind ausgelastet, anders als viele Pferde, die ihrem Bewegungsbedürfnis unzureichend gehalten ­werden.

    Wenn Pferde früh trainiert werden, so sagt es Yasmin Almen­räder, bleiben sie länger gesund. Der Körper wird durch die frühe leichte Belastung auf die spätere Beanspruchung vorbereitet und passt sich an. Das heißt nicht, dass sie Rennen laufen müssen, das gilt nur fürs Training. Und es gibt Zweijährige, sagt sie, die haben noch ein Babybäuchlein, mit denen fängt man erst später an.

    Die Untersuchung ergibt, dass Valuable Vista rennfertig ist. Damit ist die Sache klar: Sie wird’s. Bis Baden-Baden passiert erst mal nichts, außer dass sie sich gut macht, wie Michael Bergmann mir immer wieder per SMS berichtet.

    In Baden-Baden spaziert Bergmann an jenem Nachmittag im September hinüber zu den Stallungen. Es ist zwei Stunden her, dass Valuable Vista gelaufen ist, sie wirkt entspannt, nagt an Strohhalmen, Bergmanns Äpfel frisst sie nur mittelbegeistert, aber das ist normal, sie ist nicht gierig. Auf ihren Vorderbeinen klebt graue Tonerde zum Kühlen. Tage später berichtet Yasmin Almenräder am Telefon, Valuable Vista habe »den Ausflug gut weggesteckt, kein Gewicht verloren, war nicht müde, so soll es sein. Beim zweiten Rennen wird sie ganz anders anpacken«.

    Ende September schreibt mir Michael Bergmann: »Sie können das Rennen im Livestream auf deutscher-galopp.de verfolgen. Schauen wir mal, wo wir landen. Zutrauen ins Pferd haben sowohl Yasmin als auch Adrie.« Es wird spannend.

    Am Samstag, dem 9. Oktober, um 13.15 Uhr wieder eine SMS von Bergmann: »Valuable wird heute leider nicht laufen, sie hat Nasenausfluss und zeigt unklare Symptome. Da wäre es unverantwortlich, das Pferd starten zu lassen.« Angehängt ein Foto, die Nüstern eines Pferdes, aus denen Schleim läuft. Das ist bitter. Ich verfolge das Rennen im Livestream, leider ohne aufgeregt zu sein, Atomic ­Blonde gewinnt souverän, Trainer: Henk Grewe. Eine Woche später wird Valuable Vista immer noch behandelt, Streptokokken, der Preis der Winterkönigin findet ohne sie statt, obwohl sie qualifiziert war. Traurig. Die Siegerin: Lizaid, trainiert von Peter Schiergen.

    Souldream wurde im Sommer zweimal Vierter und hat 1050 Euro verdient, da wären mir keine hundert Euro geblieben. Damanda Pride hat zwei Ausgleichsrennen und 5900 Euro gewonnen, sie wäre die beste Investition gewesen. Valuable Vista war, bisher zumindest, die schlechteste Wahl. Für den 21. November, die Pacht läuft noch, ist sie in München gemeldet. Wer weiß, was wir noch von ihr hören werden.

    Verlust: 957,01 Euro.
    Erkenntnis: Ein kleinerer Anteil, aber dafür an einem Favoriten, wäre weniger riskant gewesen.

    Gabriela Herpell
    spielt nur ganz selten um Geld. Denn sie weiß, dass sie, wenn sie einmal angefangen hat, nicht gut aufhören kann. Nun überlegt sie, privat ihren Anteil an Valuable Vista zu halten. Es kann ja nur besser werden.

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    Ein Auschnitt aus einem Geldschein aus Paraguay.

    Möbel

    Alle lieben Antiquitäten, wertvoll sind sie oft auch. Und ein paar schöne Stühle auf Instagram zu verkaufen – das kann doch nicht so schwer sein

    Bisher habe ich mich für eine gute Verkäuferin gehalten. Von den Flohmärkten am Berliner Mauer­park oder auf der Münchner Theresienwiese ging ich immer mit einem Bündel Scheine nach Hause, es machte mir Spaß, den ganz frühen Vögeln, die morgens um sieben kamen, um für ihre eigenen Secondhand-Läden einzukaufen, schlechte Preise zu machen, die im Vergleich zu ihrem zu erwartenden Gewinn aber immer noch so gut waren, dass sie meine Levi’s-Jeans nicht liegen lassen konnten. Es blieb das Gefühl, eine geschickte Händlerin zu sein, was ich von meinem Vater zu haben glaube. Er handelt sogar beim örtlichen Herrenausstatter, wo die Preise für alle anderen keinesfalls flexibel sind. Für Papa schon.

    Ich weiß, das klingt ein bisschen übergeschnappt, jemand, der alle Jubeljahre mal ein paar alte Klamotten auf dem Flohmarkt verkauft, ist noch lange keine gute Verkäuferin. Verkaufen ist ein Handwerk, das viele Menschen mit großer Professionalität betreiben, aber ich bin mit einem gewissen Selbstbewusstsein an meinen Auftrag herangetreten: Reich zu werden mit meinem guten Geschmack. Ich tüftelte einen Nachmittag lang an einem Konzept, spannte eine Kollegin aus der Grafik des SZ-Magazins ein, um mir ein Logo für meinen Instagram-Shop zu basteln, denn das war Teil der Idee, ein neues Geschäftsfeld zu erobern: das Social-Media-Shopping. Und so war innerhalb weniger Tage aus dem Vorhaben, Geld mit Vintage-Möbeln zu verdienen, der Shop »SIT – alles zum Sitzen« geworden.

    Von Stühlen habe ich ein bisschen Ahnung, und ein spitzes Konzept schien mir professioneller als ein Gemischtmöbelhandel. Der eigentliche Grund aber war, dass wir zu Hause gar keinen Platz haben, um irgendwas Größeres als ein paar Stühle zu lagern. Wir leben zu zweit in einer Zweizimmerwohnung, in der wir laufend versuchen auszusortieren. Bevor ich losgelegt hatte, entpuppte sich meine Geschäftsidee schon als Problemidee: Denn ohne Lager­fläche keine Lagerbestände und somit keine Auswahl.

    Erst mal loslegen, dachte ich. Und suchte auf Ebay Kleinanzeigen nach Vintage-Stühlen. Was auffiel: Im Rheinland scheinen besonders viele Designliebhabende zu leben, richtige Schätze von Eileen Gray, Harry Bertoia, Grete Jalk oder Jean Prouvé verbargen sich da in Wesel, Krefeld und Düren. Nur, wie sollte ich das Zeug nach München bekommen? Die meisten Angebote waren für Selbst­abholer, das Verschicken teuer, und wenn ich mehrere Stühle kaufen wollte, war von Spedition die Rede, und Spedieren ist noch teurer.

    Ich musste mich also auf meinen Wohnort beschränken. München ist eine schöne Stadt, in der viele schöne Menschen leben, die bestimmt viele schöne Möbel zu Hause haben. Nur wollen sie die anscheinend selbst behalten, sie stellen sie jedenfalls selten auf Ebay Kleinanzeigen. Und wenn, dann münchengerecht zu horrenden Preisen, unbezahlbar für meine Zwecke.

    Schließlich war meine Idee, den Leuten günstig Stühle abzukaufen, von denen sie gar nicht wissen, dass sie was wert sind. Das hieß auch, ich durfte nicht nach Marken suchen, die alle designinteressierten Menschen kennen, wie Ray und Charles Eames, Vitra, Knoll International oder Herman Miller. So stieß ich nach abendelanger Ebay-Kleinanzeigen-Klickerei auf die Firma Kusch+Co, die es ­immer noch gibt und die in den Siebzigern und Achtzigern außergewöhnliche Stühle entwickelt hat. Ich entdeckte ihren Sóley-Stuhl, entworfen vom Isländer Valdimar Harðarson: ein Klappstuhl, filigrane Metallbeine, runde Sitzfläche, halbrunde hölzerne Rückenlehne. Ich fand vier ­davon bei Ebay Kleinanzeigen in München-Milbertshofen, sie hatten einen lilafarbenen Bezug, ich war sofort verknallt und habe sogar einen guten Preis verhandelt. Ursprünglich für 130 Euro angeboten, durfte ich sie für 107,50 pro Stück mitnehmen. Für vier Stühle waren das 90 Euro Ersparnis. Geschafft habe ich das durch einen Trick meines Vaters: Beim Zahlen größerer Summen in bar liefert er das Geld in kleinen Scheinen und zählt jeden Schein ab. Es ist ein Geduldsspiel – ich hätte der Verkäuferin ja auch das gesamte Geld in die Hand drücken können. Stattdessen blätterte ich die Scheine einzeln auf den Tisch der Verkäuferin in Milbertshofen: 10, 30, 50, 80, 100, 150, 180, 200 und so weiter, zwischendurch schaute ich immer wieder zu ihr auf. Bei 430 sagte sie: Stopp, ist okay. Ich glaube, sie hielt es einfach nicht mehr aus. Auf der Rückfahrt trium­phierte ich, zu Hause tat es mir schon leid.

    Eine rettende Nachricht von der Konkurrenz

    Für den Shop inszenierte ich die Stühle in unserem Schlafzimmer, weil das der einzige Ort in der Wohnung ist, in dem ich mit wenigen Handgriffen eine kleine Freifläche schaffen kann. Und ­stellte meine ersten vier Stühle bei »SIT – alles zum Sitzen« (@sit_zenbleiben) auf Instagram. Zwischendurch lautete der Spruch auch mal »SIT – alles fürn Arsch«, aber das war mir doch zu vulgär. Die Stühle sollten 189 Euro das Stück kosten, damit hätte ich pro Stuhl 81,50 Euro Gewinn gemacht. Ich sammelte jeden Tag neue Followerinnen und Follower, ich bekam ein paar Likes, mal sechs, mal 23, nur kaufen wollte die Stühle niemand. Meine Kundschaft war zu klein, bis heute folgen mir nur 70 Leute. Ich expandierte zu Etsy, da wurden die Stühle einige Male angeschaut, aber auch da kaufte niemand, ich glaube, für Etsy war der Preis zu hoch. Auch auf Ebay erstellte ich ein Konto, aber da hätte ich wieder das Spedierproblem gehabt. Und bei Ebay Kleinanzeigen verkaufte noch die Frau aus Milbertshofen ihren letzten Sóley-Stuhl für 130 Euro, ich konnte also schlecht meine vier für je 189 Euro danebenstellen.

    Ich verzweifelte schon ein bisschen, als die rettende Nachricht kam, von der Konkurrenz. Das Zeit-Magazin München wollte meinen Shop auf seinen Produktseiten empfehlen. Was für ein schöner Zufall! Genial! Das würde mein Durchbruch sein. Ich sorgte für Nachschub und kaufte weitere vier Stühle, damit mein Shop nicht so leer aussah, wieder von Kusch+Co, diesmal ein Design des Schweizers Bruno Rey, in Senfgelb, ein bisschen gewagt, aber ich fand, die Stühle sprachen für sich. Außerdem wollte die sehr erfolgreiche dänische Möbelmarke Hay den Rey-Stuhl bald wiederauflegen, sicherlich für ein Vielfaches meines Preises in Höhe von 159 Euro pro Stück (ich hatte 70 pro Stuhl bezahlt). Für mich waren die Stühle so gut wie verkauft.

    Das Zeit-Magazin München mit der Empfehlung von SIT erschien, die Followerzahlen stiegen, ich verkaufte zwei der Sóley-Stühle noch am selben Abend an einen Medizinstudenten aus Heidelberg, dessen Eltern am Sonntagmorgen zur Abholung kamen und mir einen Briefumschlag mit dem vollen Preis überreichten, sie hatten sogar auf 380 Euro aufgerundet, sehr nett. Den dritten Sóley-Stuhl verkaufte ich etwas günstiger an eine sehr gute Freundin, ich gab ihr einen sehr guten Rabatt. Den vierten kaufte ich mir selbst ab, zum Einkaufspreis. Die vier senf­gelben Rey-Stühle stehen nach wie vor an unserem Küchentisch. Ich zähle auf Sie!

    Verlust: 90 Euro.
    Erkenntnis: Schöne Dinge zu kaufen ist viel leichter, als sie zu verkaufen.

    Mareike Nieberding
    musste immer wieder an die Worte einer Freundin denken, die ihre Idee wie folgt kommentierte: »Andere ­würden damit vielleicht reich, für dich scheint es mir eher die beste Art, Geld zu verlieren.«

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    Ein Auschnitt aus einem Geldschein von den Bahamas.

    Preisausschreiben

    Ausfüllen, abschicken, gewinnen – eine Urform der Hoffnung auf das kleine große Glück

    Ich werde Geld, das nicht meines ist, ausgeben dürfen, und das weitgehend ohne Verantwortung dafür, was mit ihm passiert. Sollte ich Sachpreise gewinnen, werde ich sie bei Ebay verhökern. Ich möchte diese Verabredung kurz einordnen, weil sie für mich aus zwei Gründen eine besondere ist. Erstens steht mein Gewinn- und Glücksspielstatus seit ich denken kann auf »Ich hab noch nie was gewonnen«. Ich staune immer, mit welcher Beharrlichkeit manche Menschen bei sogenannten Hit­radios oder im Fernsehen anrufen, und dann noch erfolgreich. Im Radio brechen sie manchmal sogar in Tränen aus – im Fernsehen erscheint das Glück oft geschäftsmäßiger, es fährt dann im Abspann nur kurz als Schriftzug durch eine Bauchbinde: Gewonnen hat das Wohnmobil Gabi Schwoffenbach aus Langenselbold.

    Meine einzigen beiden Erinnerungen an die hier zu verhandelnde Definition von Glück sind keine leuchtenden. Einmal gewann mein Vater in einem Preisausschreiben ein Schneckenessen für die ganze Familie. Anders als die Schnecken geriet darüber von uns, vorsichtig gesagt, niemand aus dem Häuschen. Ein anderes Mal gewann ein Trinker am Spielautomaten der Kneipe, in der ich ­weite Teile meiner Jugend verbrachte. Er war gleich außer sich vor Freude und rief schon »Runde!«, als das Scheppern im Münzmaul des Automaten noch nicht aufgehört hatte. Dann stellte er fest, dass der Gewinn nicht mal zur Refinanzierung der ausgerufenen Runde reichte. Gramgebeugt schlich er nach Hause, holte einen größeren Schein und beglich die Rechnung.

    Zweitens bin ich ein Mensch, der häufig in Erwartungswerten denkt und handelt. Stochastik und Statistik waren die einzigen Studienfächer, in denen ich mich nicht blamiert habe. Am Pokertisch, beim Skat, das Leben ist lange nicht nur, aber es ist eben auch eine Abfolge wahrscheinlicher und weniger wahrscheinlicher Ereignisse. Wenn wie vor einer längeren Weile bei Sat.1 in einem Gewinn-spiel gefragt wird: »Wer ist portugiesischer Meister: a) FC Porto, b) SC Versandkostenfrei«, dann denke ich sonst sofort: Unwahrscheinlich, da was zu gewinnen. Sicher nur, dass der Versuch Geld kostet.

    Versandkosten sind nun das Erste, was ich produziere. Ich kaufe Unmengen an Briefmarken und nehme mir Zeit für die Wahl der Motive. Sie sollen nach Kinderzimmer aussehen, nach dem kleinen Cornelius, nein, besser: dem kleinen K-o-h-r-m-ä-l-i-u-h-s, der Postkarten bekrakelt, die bei der Ziehung aus Lostrommeln ja wohl bevorzugt werden dürften gegenüber mit kalter Akkuratesse gestalteten Karten von Erwachsenen. Ein Stapel Selbstklebender mit Bildern der Sesamstraße sowie dem Wikingerjungen Wickie liegen bald auf meinem Schreibtisch, daneben ein paar bunte Filzer. Ich bewege mich innerlich zurück auf die Frühpubertät, es wird rückblickend leider schon der schönste Moment dieses Versuchs gewesen sein.

    Im Umfeld meiner Aktion »Tombola« läuft es zunächst hervorragend. Ich bin im Freundeskreis jetzt häufiger Thema als sonst. Offenbar wirkt das Vorhaben auf manche kühn und spielt es weniger eine Rolle, dass diese Kühnheit aus der Kasse des Verlags fremdfinanziert ist. Mich erreichen ermunternde Nachrichten. Eine Freundin schreibt, beim zurückliegenden Silvester-Lotto seien zwei von 17 Autos zu uns nach Leipzig gelotst worden. Ein gutes Omen!

    Die Schönheit der Chance prickelt wie ein Gläschen Schaumwein, ach was, sie strahlt warm nach innen und kitzelt lustig. Dieser Kitzel hält eine kleine Weile an, und auch er ist ein Gewinn. Allerdings wird beim Freirubbeln irgendwelcher »Gewinnfelder« die Chance des Gewinnens dann zur Gewissheit des Gegenteils. Und bald merke ich, dass niemand meine Kinderpostmarken mit den Kinderbriefmarken und meiner Krakelschrift erwartet. Ich stelle fest, dass es Gewinnspiele heute im Wesentlichen aus zwei Gründen gibt. Der eine kann sein, Geld zu verdienen, weil teilnehmendes Klein- und Klickvieh mehr Mist macht, als die paar Hauptgewinne am anderen Ende des Spiels Kosten verursachen. Der andere, nach meiner Wahrnehmung inzwischen häufigere Grund ist, alle möglichen Daten abzugreifen, mit denen dann neuer Handel getrieben und auf die mit neuer Werbung geschossen werden kann.

    Anfangs spiele ich dieses Spiel noch verhalten mit. Ich lege mir eine Mailadresse auf den Namen »Reiner Hoffnung« zu, das scheint mir ein für alle Seiten vertretbarer Kompromiss. Die Gewinnspielmaschinen bekommen nicht meine echte Mailadresse und auch nicht meinen Klarnamen, aber ein programmatisches wie plausibles Ersatzangebot. Mein Alter Ego Reiner H. geht sehr bald allerdings in eine schwermütige Episode. Immer umfangreicher werden die Angaben, die er zu machen hat, immer eintöniger gerät die Aus­füllarbeit irgendwelcher Gewinnspielformulare, immer mehr Werbe­mails fluten das Postfach, ohne dass je ein echter Gewinn zwischen dem ganzen digitalen Müll annonciert würde.

    Datenprostitution statt Losbudenromantik

    Reiner H. rutscht ab. Er verbringt lange Spätabende auf dubiosen Forenseiten wie einfach-sparsam.de, wo tendenziell unsympathische Menschen der Kategorie Sparfuchs ihren Geiz mit ihrem Hang zum Glücksspiel auf deutschestmögliche Art verbinden. Reiner H. folgt auf edeka-simsalabim.de der entwürdigenden Aufforderung: ­»Reiben Sie an der Wunderlampe!«, ohne dass danach ein Wunder geschieht. Reiner H. gehorcht erschöpft und fast willenlos der Aufforderung auf schweizerkaese.de, doch bitte bei einem »Raclette Suisse® Gewinnspiel« mitzumachen: »Warum lieben Genießer ­Raclette Suisse®? (Mehrfachnennung möglich)«.

    Reiner H. sieht immer mehr und immer größere Big-Data-Bagger durchs Internet raupen. Wo ich auf Losbudenromantik gehofft hatte, steht Reiner H. jetzt zwischen diesen Baggern und lässt sich noch von den letzten leichtfertig angraben. Den Null- und Tiefpunkt erreicht er schließlich auf der Seite gardenplaza.de, auf der schon die bloße Inaussichtstellung eines Preises, den man dann ja wie gesagt eh nicht gewinnt, wirkt wie blanker Hohn. Mit zuckendem Lid sitzt Reiner H. eines Nachts vor dem Computer und betrachtet »eine Heißluftfritteuse von Ikohs für knapp 65 Euro«.

    Mir hat kein Therapeut dazu geraten, aber es fühlt sich heute besser an, Reiner H. zu »containern«, ihn zu betrachten als einen bösen Zwilling meiner zeitweisen Vergangenheit. Ich weiß nicht, wie es Reiner H. heute geht, ich habe sein Postfach länger nicht geöffnet, weil ich die Datenprostitution irgendwann nicht mehr aushielt. Dazu kam das ständige und stumpfe Eingeben endloser »Gewinncodes« (6c73hpajh … 67x4ca33d … 6mkpjr696). Dazu kam auch der kleine heiße Wahn, dass die ausgezeichneten Gewinne von Tag zu Tag dürftiger zu werden schienen (»Verlosung: 2 × 2 Frei­karten für das Wunderland Kalkar«). Dazu kam schließlich noch der Eindruck, dass das Gewinnspiel seinen einst hedonistisch-heiteren Charakter auch durch eine Inflation des Erzieherischen verloren haben könnte. Eine Region in Oberösterreich etwa veranstaltete eine Tombola nur für »Kunden, die in die Stadt radeln«.

    So hätte es noch ewig weitergehen können, aber eben nicht gut. Reiner H. (und ich) kreisten am Ende dieses Versuchs immer häufiger um eine Zeile des Rappers Dendemann, die einerseits Enttäuschung in sich trägt, andererseits aber auch nur eine grundgute Begleitformel sein könnte für das künftige Leben im Spätkapitalismus. Die Zeile lautet: »Alles, was ich will / Is’ endlich nix mehr wollen«.

    Verlust: 92 Euro.
    Erkenntnis: Die Teilnahme an Glücks- und Gewinnspielen kostet selten Geld – fast immer aber mehr als das.

    Cornelius Pollmer
    wundert sich anhaltend über die generalstabsmäßig organisierten Gewinnspielforen. In Erinnerung bleiben wird ihm besonders die Power-Userin »katze007«, diees binnen sechs Jahren auf mehr als 52 000 Beiträge auf der Seite gewinn-portal.de gebracht hat.

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    Ein Auschnitt aus einem Geldschein von den Bahamas.

    Vinyl

    Schallplatten sind wieder beliebt – nicht nur als Tonträger, sondern auch als Sammelobjekt. Und das klingt doch vielversprechend

    Etwa zu der Zeit, als in Berlin die ersten Blätter von den Bäumen fielen und die letzten Stimmzettel für die Bundestagswahl ausgingen, gestand ich mir meine vorzeitige Niederlage ein. Der Plan, binnen einiger Monate mit Schallplatten reich zu werden, war nach menschlichem Ermessen nicht mehr zu erfüllen. Ich würde eine Geschichte des Scheiterns erzählen müssen und beschloss, zumindest noch ein wenig die Verluste zu reduzieren. So lernte ich den Sommerschlussverkauf mal von der anderen Seite kennen.

    In einem Kreuzberger Plattenladen bekam ich 30 Euro für das Album Hell von Die Ärzte. Das kostete mich Überwindung, was nicht an der Musik lag. Die Ärzte waren mir immer egal. Es war eher dieser mitleidige Blick von Ralf, dem Inhaber des Ladens, als ich ihn fragte, ob er die Platte vielleicht wiederhaben wolle. Ich hatte sie acht Monate zuvor für 45,95 Euro bei ihm gekauft.

    Damals, in der ersten Euphoriephase des Projekts, stand die Ärzte-Platte – 181-Gramm-Doppelvinyl-Buch in Halbleinen – einige ­Wochen lang bei Ralf im Schaufenster, er hatte einen Zettel daran geklebt: »Limitiert«. Im Herbst würde ich dafür nach Ralfs Schätzung locker 80 Euro kriegen. Wow, sagte ich. Leider könne er mir aufgrund der strengen Limitiertheit nur eine einzige davon verkaufen, sagte Ralf. Heute bin ich ihm dankbar dafür, dass er nicht noch eine zweite hatte.

    Ich versuchte, die Platte im Internet für 80 Euro loszuwerden, dann für 60 und für 45,95 – nichts. Und das war nicht mein einziges Problem. In meinem Dienst-Plattenregal standen im Spätsommer noch 14 weitere Alben und Maxis, die ich für insgesamt 677,78 Euro gekauft hatte, darunter durchaus gute und seltene Sachen von Fela Kuti, The Notwist oder Incredible Bongo Band. Aber niemand wollte das haben, jedenfalls nicht für noch mehr Geld.

    Als ich Ralf die Ärzte-Platte im September originalverpackt zurückbrachte, rechnete er mir vor, warum er mir dafür nicht mehr als 20 Euro geben könne. Natürlich akzeptierte ich eine Minute später den Freundschaftspreis von 30 Euro. Nur 15,95 Euro Minus hätte ich rückblickend mit anderen Platten auch gerne gemacht.

    Die Grundidee von Vinyl als Renditeobjekt muss deshalb nicht falsch sein. Unter anderen Umständen, mit etwas mehr Glück und vor allem mit viel mehr Zeit hätte es auch funktionieren können. In den Neunzigerjahren galt die Schallplatte praktisch als ausgestorben. In der Welt der Streamingdienste hat sie aber eine Nische gefunden, nämlich die der Dinglichkeitsromantiker und Fortschrittsskeptiker, die auch im Jahr 2021 noch jeden Morgen auf die Zeitung im Briefkasten warten und kiloweise Bücher mit in den Urlaub schleppen. Leuten wie mir. Seit dem Ende der Nullerjahre steigen die Verkaufszahlen von Platten wieder stetig, im vergangenen Jahr hat die ­US-Musikindustrie mit Vinyl erstmals seit 1986 mehr umgesetzt als mit CD-Verkäufen.

    Und selbst ich, der Verkaufsversager, kann in Einzelfällen kleine Erlöse nachweisen. Mitunter auch sehr kleine. Ein Album des britischen DJ Scaramanga Silk (Einkaufspreis 24,69 Euro) bin ich für 25,99 Euro losgeworden. Im Vergleich zu den 41 095 US-Dollar, die kurz zuvor für eine andere Platte dieses Künstlers bezahlt worden waren, war das eine überschaubare Rendite. Für mich war es vor allem mal ein Anfang.

    Im Januar 2021 habe ich mich mit naiven Vorstellungen in die Welt der Vinyl-Sammler begeben. Ich dachte damals, ich würde mit Sentimentalitäten handeln. Ich sah mich über Flohmärkte ziehen, kleine Label-Bosse treffen, Privatnachlässe ersteigern, und malte mir aus, was ich für 1000 Euro alles kaufen würde, was ich schon immer mal haben wollte. Vielleicht eine Testpressung von Nirvana oder eine verschollen geglaubte Single von João Gilberto. Meine größte Befürchtung war: Was ist, wenn ich mich verliebe? Wenn mir eine Platte so ans Herz wächst, dass ich sie nicht mehr verkaufen will?

    Vinyl-Sammler sind Menschen mit einem aus­geprägten Reinheitsfimmel

    Heute weiß ich, dass man Schall­platten nicht sammelt, um sie sich anzuhören. So wenig, wie man in guten Whisky investiert, um aus jeder Flasche ein Schlückchen wegzutrinken. Professionelle Vinyl-Sammler sind Menschen mit einem aus­geprägten Reinheitsfimmel, einem peniblen Ordnungssystem und einer eigenen Sprache. Das wichtigste Wort heißt »Mint«. Es bezeichnet eine Platte, die so aussieht, als wäre sie nie angefasst und schon gar nicht je abgespielt worden. Der beste und letztlich einzige Beweis, um ein Sammlerstück im Mint-Standard zu verkaufen, ist die geschlossene Plas­tikfolie. Einmal ausgepackt, verliert eine LP so schnell an Wert wie ein Neuwagen, den man vom ­Autohausparkplatz runterfährt. Wenn überhaupt, dann dealt man hier also mit eingeschweißten Sentimentalitäten.

    Zweite Lektion: Es gibt in diesem Geschäft keine Ahnungslosen mehr. Leider. Nahezu alle relevanten Plattenverkäufe finden heute auf der Internetplattform »Discogs« statt. Im Oktober 2021 waren darauf fast 26 Millionen Tonträger von 7,8 Millionen Künstlerinnen und Künstlern gelistet. Man sieht mit ein paar Klicks von jeder Pressung jedes Albums den kleinsten und größten jemals weltweit bezahlten Preis sowie den Durchschnittspreis. Man kann seine eigene Sammlung über den Strichcode auf dem Cover einscannen und bekommt automatisch den Gesamt-Marktwert angezeigt. Wie bei einem Aktiendepot.

    Damit sind aber auch die Zeiten vorbei, in denen es sich vielleicht noch gelohnt hätte, in den Drei-Euro-Wühlkisten nach Raritäten zu suchen. Kein Flohmarkthändler, kein Ladenbesitzer und auch kein zurechnungsfähiger Ebay-Verkäufer – es sind in dieser Welt fast alle Beteiligten Männer – bietet heute noch eine Platte an, ohne schnell bei Discogs gecheckt zu haben, was dafür auf dem Weltmarkt ­bezahlt wird. Für mich hieß das: Transparenz versaute fast jedes Geschäft.

    Einige sachdienliche Hinweise von Sammlern, Händlern und Musikjournalisten, die ich um Rat gefragt habe: »Du musst dich auf Kleinstlabels konzentrieren.« – »Alles basiert auf Wissen.« – »Du brauchst Ausdauer, du kannst bei Discogs nicht das schnelle Geld machen.« – »In Russland werden für manche Pressungen von ­Modern Talking astronomische Preise gezahlt.« – »Wenn du etwas von The Mars Volta unter 200 Euro findest: sichere Bank.«

    Ich bin weder Kleinstlabel- noch Modern-Talking-Experte und versuchte es deshalb mit Schnelligkeit. Im Frühjahr investierte ich einen großen Teil meines Budgets in Vorbestellungen (»Pre-Orders«) von limitierten Sondereditionen. In der Theorie sollten diese Platten bereits vergriffen sein, wenn sie offiziell erscheinen, und dann schnell im Wert steigen. In der Praxis ging ständig irgendwas schief.

    Bei dem Taylor-Swift-Album Fearless in goldenem Vinyl wurde so oft der Versandtermin verschoben, dass am Ende keine Zeit mehr war, damit Geld zu machen. Bei Elton Johns bislang unveröffentlichtem Album Regimental Sgt. Zippo ging mein Gewinn für das absurd hohe Porto nach England drauf. Da bin ich ein Brexit-Opfer.

    Im April entdeckte ich bei Discogs ein Konzeptalbum von The Mars Volta für 185 Euro, die »sichere Bank«. Beim Kauf übersah ich, dass da noch 17 Euro für ein Einschreiben aus Reykjavík hinzukämen, ich hielt es dann trotzdem noch für eine halbsichere Bank. Bis ich lernte, dass offenbar auch 17-Euro-Einschreiben verlorengehen können. In der Beschwerde-Hotline der DHL teilte man mir Ende Mai mit, die Sendung sei in Deutschland »als normales Paket weiterbearbeitet« worden und habe eine neue Sendungsnummer erhalten. Die Spur dieser Zahlen führte beim übernächsten Beschwerdeanruf weit hinaus auf den Atlantischen Ozean: »Dieses Paket wurde von Hamburg aus verschifft«, es sei nun auf dem Weg zurück nach Island, »und den Dampfer zurückführen wegen dem Paket geht leider nicht«.

    Zum Schicksal des Plattensammlers gehört der Kampf mit dem Postwesen. Vinyl zu kaufen und zu verkaufen heißt: in DHL-Shops anstehen, Portokosten durchrechnen, versuchen, die Ausgaben für Kartons, Klebebänder und Schutzhüllen zu minimieren. Nicht nur bei Käufern aus dem Brexit-Gebiet muss man da höllisch aufpassen, wenn man seine mitunter bescheidenen Gewinnmargen nicht komplett an den Paket-Späti verschenken will.

    Ich habe lange überlegt, wie weit sich die Regeln dieses Experiments interpretieren lassen. Ob es ruchlos wäre, den Wert einer Schallplatte künstlich zu steigern, etwa über die Kontakte der SZ-Redaktion in die Musikbranche. Als ich im Herbst immer noch mehrere hundert Euro im Soll war, schwand meine Geschäftsmoral rapide. Zufällig war ein Kollege aus dem Feuilleton in diesen Tagen zu einem Interview mit den Ärzten verabredet. Die schon wieder.

    Die herzlich resolute Pressesprecherin der Band gewährte mir zu dem Treffen keinen Zutritt, aber es gibt ein Video von der entscheidenden Szene, die der Kollege aufgenommen hat. Da saßen also Farin Urlaub, Bela B und Rod González an einem Tisch, auf dem ein Schälchen Knabberbrezeln stand und die neue Ärzte-Single Noise lag, die mich 9,99 Euro gekostet hatte. Alle drei fanden offenbar den Gedanken charmant, dieser kleinen Schallplatte mit ihren Unterschriften zu einer stattlichen Rendite zu verhelfen. Ein Filzstift wurde herumgereicht, jeder malte noch etwas dazu. Farin Urlaub schrieb auf die Plattenhülle: »Don’t pay more than 2.000.000.000.00 €«.

    Der Ärzte-Fan, der die Platte ein paar Tage später ersteigerte, hielt sich an diesen Ratschlag. Aber er bezahlte immerhin 133,77 Euro – mein letztes und bestes Geschäft. War das geschummelt? Und wenn schon. Nach allem, was zuvor geschah, betrachte ich das als Notwehr. Die Ärzte finde ich neuerdings gar nicht mehr so übel.

    Verlust: 675,58 Euro.
    Erkenntnis: Man kann mit Schallplatten womöglich Geld ­machen, aber nicht das schnelle Geld.

    Boris Herrmann
    hat für diesen Text mehr Zeit am Postschalter als in Platten­läden verbracht. Auch deshalb entwickelte er im Lauf der Recherche eine Liebe zu Singles: Die passen in den Schlitz des Briefkastens.

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    Ein Auschnitt aus einem Geldschein aus England,

    Konzert

    Musikerinnen und Musiker, Publikum, Gläserklirren – ­gerade in der Pandemie eine tolle Vorstellung. Warum nicht selbst eine Veranstaltung organisieren? Das müsste sich doch auch finanziell lohnen

    Musik hat kein Gewicht. Ein Klavier schon. Dieses hier wiegt 286 Kilo und ist schwarz lackiert, ein »Steinway O-180«, ein kleiner Konzertflügel, Versicherungswert: 94 000 Euro. Er soll jetzt übers Wasser. Die Klavierträger haben ihm Beine und Lyra abmontiert und ihn senkrecht auf einen Rollwagen gestellt. Als sie ihn über die Uferbefestigung auf das Pontonboot schieben und sein Gewicht ganz auf dem Boot liegt, sinken die Pontons ein paar Zentimeter tiefer in den See. Die Klavierträger wechseln stumm einen Blick. Der Himmel über Berlin ist blau.

    Einer der Klavierträger, er stellt sich als Kutte vor, umfasst mit einer Hand die Reling, mit der anderen prüft er, ob der Gurt den Flügelkorpus hält. »Wie oft macht ihr das so?«, fragt Kutte. Mit seinem Kinn beschreibt er einen Kreis, der das Instrument, das Boot und die Insel meint, zu der wir fahren. Er sieht Ronny an, vielleicht, weil Ronny das Boot steuert. Ronny schweigt. »Das ist eine Premiere«, sage ich, ich kann nicht schwindeln. Für Ronny, der einen Flügel über den See fährt. Für die Insel im Tegeler See, auf der ­Hütten, Zirkuswagen, ein paar Häuser und viele Buchen, Erlen und Kastanien stehen. Und es ist eine Premiere für mich als Konzert­veranstalterin. Hätte ich gewusst, was bis zu dem Moment alles auf mich zukommt, hätte ich es vielleicht bei der Idee belassen.

    Ich sitze hinter dem Flügel auf dem Boot, eine Schwanenfamilie schwimmt vorbei, und habe die Worte des Chefredakteurs vom SZ-Magazin im Ohr. »Du bist keine Mäzenin«, hatte er vor Kurzem am Telefon gesagt, als er die Spielregeln für den Auftrag erklärte. Das Wort ärgerte mich. Als bräuchte klassische Musik zwangsläufig ­Mäzene. Als wären Menschen nicht bereit, ihre Wertschätzung für Kunst in Euro auszudrücken. »Es geht darum, das Geld zu mehren«, sagte er. Obwohl – wenn eine Welle über das Boot schwappte und den Flügel erwischte, bräuchte ich mir zumindest über die Geldvermehrung keine Gedanken zu machen. Das wäre versenkt.

    Als er im Januar anruft und sagt, er stelle ein Startkapital von 1000 Euro, ich könne machen, worauf ich Lust hätte, denke ich ­sofort an ein Konzert. Mit klassischer Musik. Ich brauche hin und wieder Live-Musik wie andere einen Besuch im Schwimmbad: Sie erfrischt mich, füllt die Reserven wieder auf, öffnet den Kopf. Seit Monaten schon fließen die Tage grau und leise ineinander. Die ­Corona-Fallzahlen steigen, Schulen, Restaurants, Kinos, Konzert­häuser: geschlossen. Alle haben zu kämpfen oder leiden still, Kinder, Jugendliche, Familien, Alleinerziehende, Hotelangestellte, Restaurantbetreiber. Musiker sitzen zu Hause und üben ziellos vor sich hin. Manche fragen sich, ob es ein Fehler war, sich in ein Musikerdasein begeben zu haben, als wäre klassische Musik nicht mehr als ein ­luxuriöses Nice-to-have. Trotzdem: Ich will nicht nur Konzerte besuchen, ich will jetzt selbst eins veranstalten.

    Wie ich das anstellen soll, davon habe ich nur eine vage Vorstellung. Als ich einem Freund, er ist Musiker, davon erzähle, dass ich jetzt ein Konzert plane, sagt er, er wisse nicht, ob er mich bedauern oder beglückwünschen solle. Ich denke noch, er meint nur das ­finanzielle Risiko.

    Was braucht es für ein Konzert? Kann ja nicht so schwer sein. Einen Ort, Publikum, Musik und jemanden, der oder die sie macht. Ich spiele Klavier. Aber das bringt mich hier nicht weiter. Mein ­Konzert braucht eine Musikerin, für die ich auch selbst Eintritt ­bezahlen würde.

    Die Pianisten sagen erst begeistert zu, dann winden sie sich wieder raus

    Es ist ein Sonntagnachmittag im Februar, als ich Julia Hagen frage. Sie ist Cellistin, 26 Jahre alt, wir hatten uns im Sommer 2020 in Salzburg kennengelernt, während einer Lockdown-Pause. Wir saßen nach einem Kammermusikabend zufällig nebeneinander, draußen, bis der Kellner die Stühle auf die Tische räumte. Mir fiel auf, dass Julia spricht, wie sie Cello spielt: mit Wärme, Tiefe, Humor. Und mit Angstfreiheit. Sie gehört nicht zu den Menschen, die sich lange mit Zweifeln aufhalten. Wenn sich für sie etwas richtig anfühlt, dann ist es für sie richtig.

    Im Februar ist die Leichtigkeit aus Salzburg verflogen. Wir gehen an der Spree spazieren, natürlich nieselt es. Julia hatte ihr letztes Konzert irgendwann vor Weihnachten gegeben, Woche für Woche wurden ihr Termine abgesagt, erst eine Japanreise, dann eine in Frank­reich und auch sonst überall. Sie sitzt viel zu Hause, spielt Cello, backt Kuchen. Es sei derzeit ein ständiges Hin und Her der Gefühle, sagt sie. Mal keime ein bisschen Hoffnung auf, dann wieder fühle sie sich ratlos, oft machtlos. Das Schlimmste sei dieses unsichtbare Achselzucken, das sich einschleiche. »Man gibt es ein bisschen auf«, sagt sie. Der Zuspruch des Publikums, dass es Konzerte vermisse, sowie die Beteuerungen mancher Politiker, wie wichtig Kultur für die Gesellschaft sei, sind in Debatten darüber verebbt, wie die Kurve flach zu bekommen sei. Es ist, als seien die Empathiereserven der Menschen füreinander aufgebraucht. Die Tränen der anderen scheint derzeit niemand mehr sehen zu wollen.

    Jetzt hat Julia nicht nur Lust, selbst ein Konzert auf die Beine zu stellen, sie hat auch Zeit. Im Sommer, wenn Corona kein Thema mehr wäre, träumen wir: Die Menschen hielten Gläser mit schimmernden Getränken, und sie würden sich volllaufen lassen mit Musik. Klar. Aber mit welcher? Kürzlich hatte ich mit dem Dirigenten Jukka-Pekka Saraste gesprochen. Er erzählte davon, wie Anfang der Neunzigerjahre die Menschen in Finnland während der Wirtschaftsrezession kein Geld hatten und trotzdem ins Konzerthaus strömten. Es gab keine leichten Programme, sondern Sinfonien von Schostakowitsch. Saraste sprach von einer »Katharsis«, die das Publikum in der Musik erlebt habe.

    Welche Musik würde jetzt in die Zeit passen? Julia und ich drehen Runden an der Spree und halten immer wieder an, um auf einen Zettel zu kritzeln, was uns zur Pandemie einfällt: Einsamkeit, Langsamkeit, Fernweh, Unklarheit, Heimlichkeit, Enge. Was noch? Gewichtszunahme, das auch. Könnte das alles in ein Konzertprogramm übersetzt werden? Der Komponist Igor Strawinsky sagte einmal, Musik drücke gar nichts aus, nur sich selbst. Ihm war aller Zweck, den manche der Musik auferlegen, zuwider. Wahrscheinlich hat er recht. Trotzdem löst Musik etwas aus, wenn auch in jedem etwas anderes. Wir würden unserem Publikum Papier und Stift in die Hand geben, mit der Bitte, aufzuschreiben, in welchem emotionalem Zustand sie in unser Konzert gekommen waren und wie sie danach wieder gingen. Vielleicht wäre das eine Art Beleg für ­einen Satz, den ich irgendwo mal gehört hatte: Man komme in ein Konzert als Individuum hinein und ginge als Gemeinschaft wieder heraus. Jedenfalls glaube ich im Februar noch, dass das Wichtigste die Wahl des Programms ist. Dass der Inhalt die Form bestimmt.

    Nach ein paar Stunden sind wir leer geredet, haben aber ein Konzept. Sieben Werke, sieben Zustände im Neuland der Pandemie. Wir finden uns sehr zeitgemäß.

    Welche Werke das sein würden, das würden wir mit den anderen Musikern zusammen entscheiden. Ein Cello allein reicht für unser Konzert nicht, finden wir, der Klang wäre nach einer Weile zu einsam. Wir brauchen zumindest eine Pianistin oder einen Pianisten, die können schon mal ein ganzes Orchester ersetzen, sind aber weniger aufwendig. Wir planen ein Konzert in einer Zeit, in der niemand mehr Pläne macht. Es wird sich sicher jemand finden, denken wir. Zusammen würden wir den Termin bestimmen und einen ­guten Ort finden. Einen speckigen Ballsaal aus den 1920er-Jahren (Atmosphäre). Oder eine Plattenbausiedlung (Musik für alle). Oder eine Galerie (Hipness).

    Aber die Pianisten, die wir fragen, sagen erst begeistert zu, dann winden sie sich wieder raus. Vielleicht, weil sie unser Vorhaben aussichtslos finden? Weil wir keine erfahrenen Veranstalterinnen sind, die Aufmerksamkeit versprechen? Aufmerksamkeit ist in der Musikwelt wie überall in Kultur und Unterhaltung eine feste Währung. Wenn es schon kein Geld gibt, dann wenigstens ein bisschen Ruhm. Dabei hat niemand bislang nach einer Gage gefragt, und selbst wenn: Wir haben ja nur eine Idee und 1000 Euro. Die würden wohl schon für die Miete eines Klaviers draufgehen. Und einen Klavierstimmer. Außerdem sieht es weiter schlecht aus für Veranstaltungen mit Publikum.

    Für Ende März hat der Berliner Senat Pilotprojekte mit neun Konzerten, Opern- und Theatervorstellungen vor Publikum geplant, mit personalisierten Tickets, Coronatests, Masken. Aber die In­fek­tionszahlen steigen weiter, der Senat ruft zur »Osterruhe« auf. Das Pilotprojekt wird ausgesetzt. Sollen wir unser Konzert streamen, ein Geisterkonzert ohne Besucher, wie es gefühlt alle machen? Aber fast das ganze Leben findet ja gerade vor dem Bildschirm statt. Julia ist dagegen. »Wirst sehen, das wird schon«, sagt sie. Wir haben keinen Ort, keinen Termin, keine Musiker. Dafür das Virus. Und Julias ­Optimismus.

    Es ist einer der wenigen Tage im Mai, an denen die Sonne scheint, als Julia uns in unserer Datsche in Berlin-Reinickendorf besucht. »Perfekt«, sagt sie. Sie läuft über die große Gemeinschaftswiese am Strand, das Wasser glitzert, frisches Grün leuchtet an den ­Bäumen, das Gras wächst dicht wie im Garten von Schloss Windsor. »Das Konzert machen wir hier«, stellt sie fest. Es klingt wie »und nirgendwo sonst«.

    Die Wiese liegt auf einer Insel. Keine Straßen, keine ­Autos, am Wochenende steuert eine kleine Fähre den schmalen Anleger an. Wer die verpasst, hängt eine ganze Weile am Ufer herum, muss ein Tretboot leihen oder schwimmen. Oft schon haben wir Freunde mit dem Stand-up-Paddle-Board abgeholt, weil sie die Fähre verpasst oder gar nicht erst gefunden haben.

    »Da sollte die Bühne stehen.« Julia deutet auf eine Stelle unter alten Bäumen, dahinter die Havel, zweifellos ein schöner Ort für ein Open Air. Vielleicht hört sie schon einen melodischen Mendelssohn oder dramatischen Schumann unter den hohen Baumkronen. In unserem Projekt wird Julia gerade zur Architektin und ich zur Statikerin, die die schöne Vision auf Machbarkeit überprüft. Hygiene­konzept, Ordnungsamt, Stuhlreihen, saubere Toiletten, so was.

    »Ich könnte zum Beispiel am 26. Juni«, sagt Julia. Der erste Samstag der Berliner Sommerferien, das ist in gut drei Wochen. Irgendwann muss man sich ja festlegen. Der Senat hat bis zum 18. Juni weitere Öffnungsschritte angekündigt, und wer weiß, was der August bringt. Eine vierte Welle?

    Steinway-Leute sind wahnsinnig nett, aber nicht verrückt

    Ich ahne, ich muss jetzt eine Menge Leute davon überzeugen, dass es völlig vernünftig und alternativlos ist, auf dieser Insel mit 1000 Euro Startguthaben ein klassisches Konzert auszurichten. Und wenn ich gedacht hatte, bei einem Konzert komme es auf ein ­schlüssiges Programm an, lerne ich spätestens von da an, dass, wie in der Musik, wie im Leben überhaupt, wenig wichtiger ist als ein gutes Timing.

    Als Julia wieder auf die Fähre steigt, dreht sie sich zu mir um: »Wir brauchen auf jeden Fall ein Klavier!«, ruft sie. Die Fähre legt ab, sie winkt mir fröhlich zu.

    An meiner Mail an die Firma Steinway & Sons in Berlin sitze ich mehrere Tage lang. Wie formuliere ich die Anfrage, jemandem wie mir einen Flügel zu bringen, für wenig Geld und, ähem, auf eine Insel, auf der es keine befestigten Wege gibt? Ich kenne die Steinway-Leute, sie sind wahnsinnig nett, aber sie sind nicht verrückt. Ich recherchiere Anfahrtsweg, Uferhöhe, Höhe der Bühne, auf die der Flügel gestellt werden muss (je höher die Bühne, desto teurer der Transport), mache ein Foto vom Pontonboot, zeichne in Google Maps mit einem pinkfarbenen Strich die Route des Bootes vom Festland bis zum Inselstrand. Das sieht irgendwie nach Urlaub aus. Das Anschreiben formuliere ich so ehrlich wie möglich und schließe mit der Feststellung: »Es wird nicht regnen.« Mehr als absagen können sie nicht, denke ich. Ich schicke die Mail ab.

    Zwei Tage später kommt die Zusage. Sie würden uns ein Instrument zur Verfügung stellen (ohne Saalmiete!) und für uns einen Spezialpreis für den Transport verhandeln wollen. Die Pandemie hat die ganze Branche ausgedörrt. Der Sommer liegt vor uns, jeder scheint Lust zu haben, etwas zu machen, und ich hatte unterschätzt, dass Menschen, die im Umfeld der Kunst arbeiten, anders ticken. Kunst muss nicht vernünftig sein, sie muss Kraft haben.

    Julia fragt Musiker an, jetzt kann sie Pianisten sagen, dass wir auch ein Instrument haben.

    Ich spreche mit dem Inselwart. Er heißt Ronny Kötteritzsch, ist gelernter Veranstaltungstechniker und hat ein Faible für Partys, Licht­installationen und transparente Stoffe im Wind. Seit einem Jahr hat es auf der Insel kein Fest gegeben. Er zögert. Bis ich ihm vom Flügel erzähle. »Ihr bringt ein Klavier, ernsthaft?« Er würde gleich den Inselbesitzer ansprechen. Er würde die Bühne bauen, Getränke mit dem Boot von Festland bringen, an wie viele Leute würden wir denken?

    Ich beschäftige mich mit Hygienekonzepten, Abständen, Personenzahlen, rufe bei Ämtern an, wo ich jeweils jemanden erreiche, der oder die gerade nicht zuständig für Genehmigungen von OpenAir-Konzerten ist, dann gebe ich es auf. Die Insel ist im Privatbesitz, was bedeutet, dass wir das Konzert auch als private Veranstaltung durchführen können. Das bedeutet auch, dass ich nicht groß Werbung machen kann für das Konzert, keine Erwähnung im Radio, kein Veranstaltungstipp im Stadtmagazin. Aber kommen dann überhaupt genug Leute auf die Insel? Und lassen diese Leute auch genug Geld da? Meine 1000 Euro sind schon längst verplant, für den Bühnenbau, für den Klaviertransport, außerdem, erfahre ich, werde ich eine technische Verstärkung einrechnen müssen, falls Wind aufkommt und den Klang fortträgt. Ich bin ja keine Mäzenin.

    Ich brauche Tickets, allein um eine Kontrolle zu haben, wie viele Menschen kommen, wegen des Hygienekonzeptes. Könnte ich Ticketpreise von 20 Euro pro Erwachsenem aufrufen, bräuchte ich etwa 100 Gäste, um die Fixkosten zu decken. Allerdings weiß ich noch nicht, was alles anfällt und was mir Menschen an Zeit und Arbeit schenken. Ich darf die Tickets ohnehin nicht verkaufen, dafür müsste ich ein Gewerbe anmelden. Also muss ich um Spenden bitten. Aber Quittungen ausstellen kann ich nicht, dazu müsste ich einen gemeinnützigen Verein gründen. Und dazu fehlt mir schlicht die Zeit. Spenden Deutsche ohne Quittung?

    Ich brauche eine Bühne, Lautsprecherboxen, ein Mischpult, Mikro­fone, einen Tontechniker, Stühle fürs Publikum, Desinfek­tionsmittel, eine Person, die die Toiletten reinigt, eine Einladungs­liste und jemanden, der den Überblick über Zu- und Absagen behält, damit wir nicht zu viele werden, wegen Corona. Ich brauche Leute, die sich Tickets und Coronatests anschauen, Spendenboxen und Leute, die darauf aufpassen, und Jens, den Fährmann der Insel, der an dem Tag extra Fahrten macht.

    Wer mir über den Weg läuft, hört von mir Konzert dies, Konzert das.

    »Hab immer einen Kasten kühles Bier da«, rät eine Freundin, die beim Theater arbeitet. Das halte die Stimmung der Leute oben, die helfen. Sie wippt auf dem Liegestuhl und blinzelt in die Sonne. »Was, wenn es regnet?«, frage ich. Die Freundin tippt auf ihrem Handy. Sie liest vor: »Profizelt Cappuccino mit Seitenwänden inklusive Auf- und Abbau. Preis auf Anfrage.« Sie zeigt mir ein Foto. Das Zelt sieht aus, als fiele es beim nächsten Windstoß um, von ästhetischen Fragen mal abgesehen. Ronny muss der Bühne doch ein Holzdach bauen, auch wenn es teurer ist.

    Ich brauche eine Bar. Das ist noch mehr Orga, aber mit dem Getränkeverkauf würde sich die Bar selbst finanzieren, und darüber hinaus würden wir mehr Kosten decken als durch die Spenden für die Kunst. Vermute ich. Die Bar braucht: Leute hinterm Tresen, Gläser, Wein, Crémant, Wasser, Wodka, Tonicwater, Wassereis für die Kinder und Eiswürfel, und all das muss auf die Insel. Kühlschränke, Brunnenwasser und einen Tresen gibt es schon. Strom auch.

    Ich schlafe wenig. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass Organisation nicht unbedingt mein Hobby ist. Man muss viele Bedürfnisse im Blick haben, und ich lade ja nicht zu einer Party nach Hause ein. Ich soll keinen Verlust machen, sondern »Geld mehren«, das dann gespendet wird, sprich: Eine Gage kann ich nicht zahlen. Die Musiker treten für Liebe, den Sommer und den guten Zweck auf. Also will ich dafür sorgen, dass sie alles haben, was sie brauchen. Eine Klavierbank mit Holzbeinen zum Beispiel wünscht sich einer, ­Metallbeine an Klavierbänken lehne er ab, schreibt er mir und setzt ein Smiley dazu. Solche Sorgen hätte ich in dem Moment auch gern gehabt.

    Was ist, wenn der Flügel vom Boot rutscht?

    Ich telefoniere mit Versicherungen. Ein Open-Air-Konzert, mit Flügel? Versicherungswert 94 000 Euro? Schwierig. Wir seien ja nicht in Italien.

    Ich checke jeden Tag die Wettervorhersage, aber längst nicht mehr auf der Wetter-App meines Smartphones, die ist zu pessimistisch. Ich schaue auf die Seite vom Deutschen Wetterdienst. Überall Dauer­regen in Deutschland, außer in Berlin. In Berlin soll ausgerechnet am Samstag, dem 26. Juni, die Sonne scheinen, 27 Grad.

    Ich frage alle, die es noch hören können, nach ihrer Idee für einen Namen für unser Event (Es wird simpel: »Klassisches Inselkonzert«) und verschicke Einladungen mit dem Link zu einer App, auf der man sich selbst an- und abmelden kann. Die Einladung geht an Menschen, die Julia oder ich kennen oder die einen Bezug zur Insel haben, und nur an Journalisten, mit denen wir befreundet sind, denn manche Journalisten neigen dazu, zu glauben, ihre Anwesenheit sei schon Spende genug. Ich fühle mich schäbig. Aber ich bin ja keine Mäzenin. Ich richte ein Paypal-Konto ein, falls jemand lieber online überweist.

    Ein paar Tage nachdem die Einladungen raus sind, bekomme ich meine zweite Corona-Impfung. Ich bin müde. Mein Telefon klingelt ständig. Der Tontechniker fragt, ob wir Monitoring wollen (ich weiß nicht mal, was das ist), der Bekannte, der sich um die Bar kümmert, will wissen, ob wir einen guten, aber teuren oder eher einen anderen Crémant bestellen (den guten), es fehlen noch Notenpulte, Pultleuchten, Orchesterstühle, die Geige haben wir noch nicht besetzt, und die Frage nach der Klavierbank mit Beinen aus Holz habe ich auch noch nicht gelöst.

    Wie hoch wäre der Schaden, wenn ich alles absage?

    Nach nur vier Tagen haben sich knapp 200 Personen angemeldet. Auf meinem Paypal-Konzertkonto ist tatsächlich schon Geld eingegangen, nicht nur Geld: Vorschussvertrauen. Jens, der als Fährmann der Insel jeden kennt, erzählt, mit wem er schon alles gesprochen habe, und alle wollten sie kommen. Im Sommer steuert Jens die Fähre »Odin«, im Winter hat er verschiedene Jobs, mal im Sicherheitsdienst, mal als Brandwächter bei Konzerten. »Und sie bringen euch ein Klavier, ja?«, fragt er noch mal. Die Vorstellung eines Konzertflügels, der übers Wasser kommt, scheint was mit den Menschen zu machen. Vielleicht auch deshalb, weil es in eine Zeit fällt, in der man sich daran gewöhnt hat, vernünftig sein zu müssen. Absagen ist keine Option mehr.

    Und dann ist der Tag da, hellblau, mit ein paar harmlosen Wolken. Anstelle eines Daches hat Ronny am Vormittag einen großen Lüster von den Bäumen über die Bühne gehängt, denn selbst meine pessimistische Wetter-App sagt null Prozent Niederschlag voraus. Der ­Flügel steht auf der Bühne. Wir haben sogar zwei Klavierbänke mit Holzbeinen. Auf dem Tresen glänzen Champagnerschalen. In zwei Kartons habe ich Schlitze geschnitten, das sind meine Spendenboxen. Es sind alle gekommen, Kinder, Erwachsene mit Picknick, alle Helfer, sogar ein Klavierstimmer. Vor ein paar Tagen hat noch die Geigerin zugesagt, die vier Musikerinnen und zwei Musiker haben es pünktlich zum Soundcheck geschafft. Malakoff Kowalski für ein Solo-Programm mit eigenen Stücken. Und für den klassischen Teil die Cellis­ten Julia Hagen und Konstantin Heidrich, die Bratschistin Karolina Errera, die Geigerin Larissa Cidlinsky und die Pianistin Annika Treutler.

    Als ich auf die Bühne steige und zum Mikrofon greife, kann ich unserem Publikum nicht erzählen, was sie spielen. Julia und ich haben uns von unserem Konzept aus dem Winter verabschiedet, weil die Besetzung so lange unklar blieb. Und dann hatten wir keine Gelegenheit mehr, darüber zu sprechen. Das Konzept ist jetzt: Gute Musiker entscheiden, was zur Stimmung passt. Die Abendsonne leuchtet durch die Blätter, ich bin als Veranstalterin und als Journalistin selbstverständlich völlig objektiv, wenn ich schreibe: Sie spielen, als hätten Haydn, Schumann, Mendelssohn, Schostakowitsch, Barrière, Kowalski die Musik extra für diesen Abend erfunden. Schade, dass wir keine Kritiker eingeladen haben.

    Kurz: Es läuft. Die Spendenboxen füllen sich, obwohl man Musik weder essen noch übers Sofa hängen kann. Sie fliegt vorbei. Trotzdem werden die Menschen mehr Geld für Musik in den Spendenboxen lassen als für Wein an der Bar. Aber das weiß ich da nicht. Ich habe noch einen schlimmen Moment.

    Als Kowalski auf dem Flügel in die intimste Stelle seiner Uraufführung taucht, schwimmt ein wummerndes Partyboot hinter ihm ins Bild. Ich schwitze. Er nimmt gleich die Finger von den Tasten und dreht sich nach dem Boot um, fürchte ich. Das Publikum wird murmeln, rascheln, aufstehen. Da dreht das Partyboot bei. Ich atme aus. Er sitzt und spielt, als hätte er nichts gehört. Ich sehe Gläser mit schimmernden Getränken auf der Wiese und Gesichter von Menschen, die sich mit Musik volllaufen lassen. Die Mückenstiche spüre ich erst am nächsten Tag. Dann kommt auch der Regen.

    Gewinn: 1093,69 Euro (3168,11 Spenden minus 2074,42 Ausgaben).
    Erkenntnis: Menschen geben mehr Geld für Musik aus als für Wein.

    Carolin Pirich
    bat ihren achtjährigen Sohn, Fanfaren auf seiner Trompete zu spielen, da es auf der Insel keinen Pausengong gab. Jetzt weiß sie auch die Lautstärke des Instruments zu schätzen, das er seit Kurzem lernt.