In der Zeitung las ich, zu den Reiterspielen in Hongkong seien 305 Pferde eingetroffen, alle per Luftfracht. Der Spediteur, ein Herr namens Atock, erläuterte, jedes Pferd habe in der Breite 112 Zentimeter Platz, und wenn es sich fürchte (was selten sei), werde es von einfühlsamen Begleitern gestreichelt, dann gehe das vorbei.Pferde in der Luft: Ist das nicht seltsam? Jahrtausendelang konnten Pferde nur in der Fantasie des Menschen fliegen, und Pegasus, das Flügelross, ist Symbol dichterischen Höhenflugs – »entrollt mit einemmal in Sturmes Wehen/der Schwingen Pracht, schießt brausend himmelan«, schrieb Schiller. Heute sagt Herr Atock: »Die meisten Pferde sind das Reisen gewohnt.«
Aber gibt es nicht ein menschliches Bedürfnis nach Staunen? Verwundert, bewundernd die Welt zu betrachten? Neidisch denkt man an Zeiten, als zum ersten Mal seit der Antike (da hatte ein Nashorn im Zirkus gekämpft) ein Rhinozeros nach Europa gelangte, 1515 war das. Es kam aus Indien nach Lissabon, 120 Tage reiste es, ein Nashorn auf einem Schiff. Kaum war es am Hofe von König Emanuel eingetroffen, ließ der es dem schon vorhandenen Elefanten gegenüberstellen. Man hatte gehört, die beiden Tierarten seien erbitterte Feinde. Das Nashorn wurde hinter einem Vorhang platziert. Als man den öffnete und das Tier sein Gegenüber erblickte, trottete es auf den Elefanten zu, der (er war jung) in so große Panik geriet, dass er eine Mauer niederrannte und durch die Öffnung floh.
Die Nachricht vom kampflosen Sieg des Nashorns verbreitete sich in ganz Europa. Dürer schrieb, das Tier habe »die Farbe einer Kröte und ist mit dicken Schuppen bedeckt«. So zeichnete er es, denn er hatte es nie gesehen: ein gepanzertes Rhino mit einem winzigen Zweithorn auf dem Rücken. Jahrhundertelang dachten Europäer, so sehe ein Nashorn aus.
Noch im Dezember 1515 schenkte der König dieses Nashorn dem Papst, um sich dessen Wohlwollen zu sichern. Bereits ein Jahr zuvor war ein Elefant, Hanno mit Namen, auf die gleiche Reise gegangen. Er hatte sich zunächst geweigert, das Transportschiff zu betreten. Sein Treiber, so hieß es, hatte sich verliebt und wollte in Lissabon bleiben; also flüsterte er dem Elefanten ins Ohr, er solle in ein trostloses Land mit gesundheitsschädlichem Klima gebracht werden. Als der König erschien und dem Mahout drohte, er werde ihn köpfen lassen, wenn der Elefant nicht schleunigst an Bord gehe, redete der erneut mit dem Tier: Er habe sich geirrt, es handele sich um ein anderes Land, das an Schönheit kaum zu übertreffen sei. So trottete Hanno aufs Schiff und reiste romwärts.
Das Nashorn aber, welches sich – an Seereisen gewöhnt – problemlos einschiffte, ging im Sturm vor La Spezia unter; es starb einen für Nashörner seltsam-raren, ihm persönlich unbegreiflichen Tod. Sein Kadaver wurde an Land gespült. Ausgestopft erreichte er Rom.
Wo waren wir? Beim Staunen. Muss es nicht ein wunderbares Bild gewesen sein, als die erste Giraffe nach Frankreich reiste? 1826 war das, man hatte ins Deck der Brigg I Due Fratelli ein Loch geschnitten. Daraus ragte der Kopf des unter Deck stehenden Tieres, vorm Wetter durch einen Baldachin geschützt. Um den Hals trug es, als Amulett, ein Band aus Pergament, beschrieben mit Koransuren. Damals reisten solche Tiere mit Militäreskorten, die sie gegen den Andrang Neugieriger schützten. Wobei auch die Pferde in Hongkong mit Polizeischutz vom Flughafen zur Olympia-Anlage fuhren, aber eher, um zu verhindern, dass am Zaumzeug die Tibetflagge flattert.
Gegen die Begeisterung, welche die ersten Giraffen in Paris oder Wien auslösten, war jedenfalls die Manie um Knut, den Eisbären, eine Kleinigkeit. Ihr Pfleger in Paris, ein Ägypter namens Atit, wurde berühmter als heute Knut-Betreuer Dörflein, und seine müde Art, das Tier stundenlang zu striegeln, ist bis heute sprichwörtlich. Peigner la girafe, »die Giraffe kämmen«, nennt der Franzose das Verrichten einer sinnlosen Arbeit.
Übrigens habe ich mich früher mehr auf Olympia gefreut, um nicht zu sagen: Heute freue ich mich nicht mehr. Das hat auch mit dem Staunen zu tun. Als ich nichts über Doping wusste, konnte ich offenen Mundes bewundern, was Sportler leisteten. Heute weiß ich viel. Mit dem Staunen ist es vorbei, mit Olympia, was mich angeht, auch. Wissen kann die Welt langweiliger machen, das ist auch wahr.
Illustration: Dirk Schmidt