Neulich traf ich Gott am Flaschencontainer, er wohnt hier im Viertel, aber wir hatten uns lange nicht gesehen. Der müde Zug um seine Augen war noch müder geworden, seine weißen Haare hätten einen Schnitt vertragen, und er trug wieder den alten grauen Wollmantel, auch Lederhandschuhe; es ist nun kalt geworden, und er scheint empfindlich zu sein. Er warf Champagnerflasche um Champagnerflasche in den Behälter. Nicht, dass ich dächte, er besaufe sich jeden Abend, sagte er, andererseits, ehrlich gesagt: Er tue es doch, ein bisschen jedenfalls. Champagnertrinken, überhaupt Lebensgenuss, Barbesuche, Tanz, Gesang sei geradezu Pflicht geworden, eine Demonstration gegen die Barbarei – da wolle er nicht abseits stehen. Außerdem schmecke es ihm und heitere ihn auf. Nur mit dem Magen müsse er aufpassen: die Säure. Er habe in zwanzig Milliarden Jahren nie Sodbrennen gehabt, aber in letzter Zeit …
Was ich von diesen Tabletten hielte, den Säureblockern?
Wir gingen einen Kaffee trinken. Ob es ihn nicht jucke, fragte ich: mal dreinzuhauen, den Mordgestalten zu zeigen, wo der Hammer hänge, Stichwort Sintflut, Stichworte Sodom, Gomorra.
Ja, aber wo fange man an, höre man auf? Tag für Tag sei das Übel in der Welt, überall, da hätte er viel zu tun. Er habe das Böse geschaffen, weil er gedacht habe: Wie solle man das Gute erkennen, wenn es das Böse nicht gebe? Wie könne man den Tag begrüßen, wenn man die Nacht nicht habe? Wie sei es möglich, das Leben zu schätzen, wenn es keinen Tod gebe? Nicht falsch, oder? Aber es quäle ihn, er sehe, was er angerichtet habe, bis zum Urknall zurück reue es ihn. Was solle er tun? Er sei Schöpfer, Rückbau sei seine Sache nicht, er wisse gar nicht, wie das gehe. Was er überhaupt hier mache, im Viertel, fragte ich.
Das sei eben die andere Seite, sagte er. Das großartige Leben, das wir hier geschaffen hätten, die Zivilisation, die Toleranz, die Kultur. Die kühlen Getränke. Er habe es nicht mehr ausgehalten draußen, er sei quasi hierher geflüchtet, rief er, nun lauter, und warf mit rudernden Armen beinahe seine Tasse um. Er sei ein Universumsflüchtling. Das Alleinsein. Die Ewigkeit. Die Weite. Dieses haltlose Herumschweben. Das könne sich kein Mensch vorstellen. Ob ich wisse, wie langweilig die Unendlichkeit sei? Natürlich wisse ich es nicht, ich könne es nicht wissen. Ob ich eine Ahnung hätte, wie fürchterlich es sei, den ganzen Tag Sphärenklänge zu hören, verdammte Scheißsphärenklänge! »Schreien Sie nicht so!«, flüsterte ich. »Die Leute schauen!«
»Sollen sie, sollen sie!«, rief er, wurde aber leiser. Er wisse es nämlich, sagte er nun ruhiger, und er habe eine Ahnung von alledem, ihm sei seine eigene Unsterblichkeit zuwider, seit einigen Milliarden von Jahren sei das schon so, und er habe uns, weil das so sei, seit langer Zeit beneidet. Seine eigene Schöpfung habe er beneidet, das müsse man sich mal vorstellen! Und deshalb sei er hier, weil er endlich einmal etwas haben wolle von dem, was er selbst geschöpft habe, ja, so drückte er sich aus, »geschöpft«, sagte er und fügte hinzu: Endlich sei er hier! »Blöder Zeitpunkt«, sagte ich.
»Kannst du laut sagen«, sagte er. (Immer duzt er mich, und ich sieze ihn, so ist das.) »Macht mich fertig, ehrlich gesagt, nicht, weil es mich in meinem Lebensgenuss stört, versteh das nicht falsch. Aber erstens bin ich schuld an allem, letztlich, zweitens kann ich euch nicht helfen. Echt nicht. Ihr müsst euch selbst helfen. Könnt ihr auch. Werdet ihr.« »Gott ist mit uns!«, sagte ich.
»Mach keine Witze!«, flüsterte er. Dann sagte er, er habe Konzertkarten für heute Abend und Fußballtickets für morgen – ob ich mitkommen wolle? Natürlich wollte ich, und so kam es, dass ich mit Gott im Konzert war und im Stadion. Aber ich werde nicht sagen, welches seine Lieblingsband ist und welche Farben sein Schal auf der Tribüne hatte. Obwohl ich es jetzt weiß.
Illustration: Dirk Schmidt