Da staunste, was?

Bisher galten Babys als süß, niedlich, herzig - und vollkommen unbeholfen. Jetzt haben Neurobiologen herausgefunden: In unseren Kleinen steckt jede Menge Mitgefühl, Moral und logisches Denken.

Sie wirft den Schnuller runter. Ich hebe ihn auf. Sie wirft ihn runter. Ich hebe ihn auf. Sie wirft ihn runter. Ich hebe … Langweilige Geschichte? Nun ja, wenn Sie Kinder haben, wissen Sie, wovon ich rede. Meine Tochter ist gerade ein halbes Jahr alt, ihr Lieblingsspiel ist Wirf-den-Schnuller. Das kann ewig gehen. Und ich hebe ihn immer wieder auf und frage mich: Warum macht sie das? Warum wird ihr nicht langweilig? Und – was hat sie davon?

Millionen von Eltern fragen sich das – und heben dann doch den Schnuller wieder auf, ohne eine Antwort zu finden. Es ist noch gar nicht lang her, da nahmen Pädagogen, Psychologen und Neurologen an, das Verhalten von Babys und Kleinkindern sei im Grunde unlogisch. Irrational. Chaotisch. Eine Abfolge von ziellosen Aktionen, Trial & Error. Man dachte, Babys seien nicht in der Lage, zwischen Vorstellung und Realität zu unterschieden, und Zusammenhänge verstünden sie sowieso nicht. Das ist falsch.

Die Forscher haben in den letzten Jahren begonnen, nach dem Warum zu fragen. Florian Heinen ist einer von ihnen. Heinen ist Professor für Kinderneurologie an der Haunerschen Kinderklinik in München, ein leicht ergrauter Mann von 50 Jahren. Er deutet hinter sich, als wolle er in die Vergangenheit weisen, und sagt: »Die Wissenschaft hat sich jahrelang damit begnügt, nur zu beschreiben, was Babys tun. In der Entwicklungsneurologie und -psychologie wurde immens viel Aufwand betrieben, um im Grunde Banalitäten in Worte zu fassen. Wir haben immer nur von außen geschaut, statt zu erforschen, was im Gehirn wirklich abläuft.«

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Jetzt aber wollen die Forscher wissen: Was genau passiert da eigentlich, wenn das Kind Dinge runterschmeißt, mit den Armen rudert, nach Spielzeug greift? Wichtige Impulse gaben dabei vor allem zwei Amerikanerinnen – die Neurologin Lise Eliot und die Kinderpsychologin Alison Gopnik. Lise Eliot hat den Bestseller Was geht da drinnen vor? geschrieben, eine 750 Seiten starke Untersuchung der neurologischen Vorgänge im Hirn des lernenden Babys. Alison Gopnik hat die andere Seite studiert, die kognitive und sprachliche Entwicklung, besonders die des kausalen Lernens; zuletzt erschien in Deutschland ihr Buch Kleine Philosophen, gerade hat sie im Magazin Scientific American nachgelegt und neue Thesen veröffentlicht. Der Stand der Dinge: Babys können weit mehr, als wir bisher gedacht haben. Sie nutzen sogar so etwas wie wissenschaftliche Methoden.

Babys und Kleinkinder sind zum Beispiel in der Lage, mit statistischen Mustern zu arbeiten. Ein Beispiel: Ein Team an der Universität von Rochester hat einen Test gemacht, bei dem acht Monate alten Kindern Laute vorgespielt wurden, die an menschliche Sprache erinnern, »bi«, »ro«, »da«; immer wieder, bi-ro-da, bi-ro-da. Wurde dann aber die Reihenfolge durchbrochen, bi-ro-bi, bi-ro-bi … hörten die Babys aufmerksamer und länger zu. Anders gesagt: Sie interessierten sich einfach mehr dafür. Alison Gopnik und ihre Kollegen ziehen daraus den Schluss, dass schon Babys in der Lage sind, statistische Regelmäßigkeiten und Abweichungen zu unterscheiden und ein tieferes Interesse zu entwickeln, sobald es um ungewohnte, also neue Informationen geht.

Die Babys nutzen ihre Erkenntnisse auch. Alison Gopnik erzählt von folgendem Versuch: Ihr Team konstruierte ein Gerät, das, je nachdem, was für Gegenstände man darauf legt, Musik spielt und bunt leuchtet. Die Forscher legten abwechselnd zwei Holzblöcke auf das Gerät, einen gelben und einen blauen. Bei den gelben leuchtete das Gerät etwas häufiger, bei den blauen nicht ganz so oft. Viele Erwachsene hätten Schwierigkeiten, da nur mit ein paar Blicken zu unterscheiden, welcher Block mehr bringt, die meisten würden wohl anfangen mitzuzählen. Im Gegensatz zu den Kindern: Wenn man denen nach einer gewissen Zeit die zwei Blöcke gab, legten fast alle den gelben auf die Maschine. Obwohl sie gerade mal acht Monate alt waren, erkannten sie, dass das eine Ereignis wahrscheinlicher ist als das andere.

Der Neurologe Florian Heinen sagt: »Das Gehirn entwickelt viel früher, als man bisher angenommen hat, Muster für passend – nicht passend; groß – klein; nah – fern; wahrscheinlich – unwahrscheinlich … Und wir unterschätzen die Komplexität, die in solchen Unterscheidungen liegt. Wir nehmen immer an, Kinder würden alles unbewusst richtig machen. Irrtum, es entwickeln sich schon ganz früh sehr komplexe Möglichkeiten, das Gehirn des Babys und die Welt in Beziehung zueinander zu setzen. Klar, die meisten Eltern denken sich das sowieso – aber dass es tatsächlich so ist, kann die Wissenschaft erst jetzt belegen.«

Meine Tochter kann noch nicht krabbeln, sie liegt auf dem Bauch und zappelt mit den Armen und Beinen. Sie erwischt kein Spielzeug, sie bewegt sich nicht vorwärts. Was ist der Sinn des Zappelns?

Auch Wissenschaftler dachten lange Zeit, das Strampeln und Zappeln sei völlig zwecklos. Dabei sind auch das schon Tests, motorische Feldforschung, erklärt Florian Heinen. Das Kind lernt die Schwerkraft kennen, es testet, wie weit seine Gliedmaßen reichen, es lernt, wie sein Körper an Gegenstände stößt und wie sich das anfühlt. Es wiederholt bestimmte Bewegungen so lang, bis in seinem Babygehirn der entsprechende neuronale Kanal als effizient markiert ist.

»Natürlich führen Kinder keine Experimente durch oder analysieren Statistiken in der reflektierten Art, wie erwachsene Wissenschaftler das tun«, erklärt Alison Gopnik, »dennoch sieht es so aus, dass die Gehirne von Kindern Informationen auf eine Art verarbeiten, die sich mit den Methoden der wissenschaftlichen Forschung vergleichen lässt.«

Dabei entwickeln Kinder auch sehr früh schon eine Form der Empathie, das hat Gopnik mit einem weiteren Versuch belegt. Sie zeigte Kindern, die 18 Monate alt waren, eine Schale voll rohem Brokkoli und eine voll Keksen – und ließ sie auch probieren. Dann aß sie vor den Augen der Kinder selbst aus beiden Schüsseln und tat so, als schmecke ihr der Brokkoli besser als die Kekse. Schließlich fragte sie die Kinder: Gibst du mir auch was? Das Verblüffende: Die meisten Kinder gaben der Wissenschaftlerin vom Brokkoli – obwohl sie selbst den auf keinen Fall noch mal probieren wollten. Die Kinder konnten sich also in ihr Gegenüber einfühlen, und das schon mit eineinhalb Jahren.

Meine Tochter wirft den Schnuller zum zwanzigsten Mal runter. Ich frage mich, ob ich ihr irgendwie begreiflich machen könnte, dass sie mehr vom Schnuller hat, wenn sie ihn nicht runterwirft, sondern einfach in der Hand behält. Wie soll ich ihr das beibringen?

Am besten gar nicht, denn die jüngsten Forschungen der Kinderpsychologie haben ergeben: Wenn Kinder merken, dass ihnen gerade etwas beigebracht wird, verändern sie ihre Methode – und werden weniger kreativ. Auch das hat Gopnik mit der leuchtenden Maschine gezeigt: Wenn sie Kindern im Alter von etwa 18 Monaten sagte, sie wisse nicht, wie die Maschine funktioniere, man könne es ja mal zusammen ausprobieren, machten die Kinder begeistert mit und entdeckten unter vielen verschiedenen Gelb-blau-gelb-blau-Sequenzen ziemlich schnell die, mit denen die Maschine in Gang zu setzen war. Wenn die Forscherin aber lauter verschiedene Sequenzen vorführte und den Kindern sagte, ich führe dir das jetzt mal vor, und dann mach es selbst – dann imitierten die Kinder die ganze vorgeführte Sequenz. Obwohl sie ja gemerkt hatten, dass nur ein bestimmter Teil nötig gewesen wäre.

Wenn das so ist – gehen wir dann eigentlich mit unseren Kindern richtig um? Müssen wir unsere Erziehungsmethoden überdenken? Alison Gopnik warnt: »Es gibt in den letzten Jahren einen ständigen Drang, die Kindergärten immer schulischer zu machen, also das Ausprobieren zu bremsen. Das ist die falsche Richtung. Wir wissen jetzt, dass Spielen das Gebiet ist, auf dem das eigentliche Lernen stattfindet!« Und auch der Münchner Professor Heinen bestätigt: »Wir lernen aus der Kognitionsforschung, welche Freiräume das Gehirn in seiner Entwicklung braucht.« Beide sagen also, das Spiel ist nicht der Gegensatz zum Lernen, sondern zum großen Teil selbst die Lernmethode. Es ist nicht nutzlos, es gehorcht nur anderen Regeln als wir Erwachsene.

Meine Tochter hat den roten Ball entdeckt. Sie stupst ihn an, er rollt davon, ich lege ihn wieder vor sie, sie stupst ihn an, er rollt davon … Wie lang wird es noch dauern, bis sie erkennt, wie weit sie ihn rollen darf, um gerade noch dranzukommen?

»Wir erkennen jetzt«, sagt Professor Heinen, »wie vermessen es ist, immer von Unreife zu sprechen. In Wirklichkeit sind schon die ersten Lebensmonate eine ungeheuer wichtige und kreative Experimentalphase.« Andere Tiere kommen auf die Welt und können sofort laufen, die meisten sind voll einsatzbereit. Aber der Mensch ist erst mal monatelang ein hilfloses Bündel. Bislang wurde das – auch in der Wissenschaft – vor allem als Nachteil gesehen. Aber Gopnik erklärt: »Baby-Hirne sind flexibler als die Gehirne von Erwachsenen. Sie haben viel mehr Verbindungen zwischen den Neuronen – viele davon sind zwar nicht besonders nützlich, aber mit der Zeit sortieren sie die weniger nützlichen aus und stärken die nützlichen.«

Bei Babys und Kleinkindern ist also noch alles offen – beim Erwachsenen dagegen sind die Alternativen verbaut. Die Neurologin Lise Eliot schreibt in
ihrem Buch Was geht da drinnen vor?: »Synapsen, die nicht angeregt werden, sterben – weil eine Sprache nicht gehört, ein Instrument nicht gespielt, ein Sport nicht betrieben oder eine Liebe nicht gespürt wird.« Was wir bisher als Phase der Unreife betrachten, könnte man also sehr gut auch als eine Phase der Möglichkeiten sehen: Noch ist das Kind nicht so routiniert und eingeengt wie der Mensch, der es später mal wird.

Könnten wir Erwachsenen uns diese Offenheit eigentlich bewahren? Ist es nicht schade, dass wir unseren Horizont so verengen? Schon, aber es ist leider dringend nötig, damit wir funktionieren. Denn ohne Verengung keine Entscheidungsfähigkeit. »Wenn wir als Erwachsene genauso flexible Hirnmuster hätten wie Babys, dann wären wir genauso hilflos«, sagt Alison Gopnik, »aber es gibt Momente, in denen wir durchaus wieder den Babys ähnlicher werden. In der Meditation, wenn wir uns ganz in Musik versenken. Oder manchmal, in Urlauben, wenn man mit großen Augen und Unvoreingenommenheit durch ein fremdes Land reist.«

Für den Anfang könnten wir lernen, unseren Kindern mit mehr Geduld zu begegnen. Und es wäre schon mal ein guter Schritt, wenn wir unseren Sprachgebrauch ändern: »Das Baby kann noch nichts.« – »So weit ist es noch nicht.« – »Dafür ist es noch zu klein.« All diese Formulierungen benennen das Kind als unfertigen Menschen, der erst in den vollständigen Zustand finden muss. Dabei darf man das Ganze auch genau andersrum sehen: Das Kind kann im Grunde alles, es muss bloß noch ein bisschen sortieren. Oder um es mit den Worten von Professor Heinen zu sagen: »Was wir unseren Kindern entgegenbringen sollten, ist vor allem eines – Respekt.«