Der Schädel meines Vaters schimmelt. Ein wenig nur, an der Seite, aber er schimmelt. Vielleicht war er zu lange auf dem Speicher meiner Mutter.
Ich habe den Schädel erst seit Kurzem wieder, seit ich meine Umzugskartons abgeholt habe, die ich 1999 nicht mit nach Afrika nehmen wollte. Schon damals fragte ich mich, was ich mit dem Ding eigentlich machen sollte. Natürlich habe ich niemanden umgebracht, auch meinen Vater nicht, und ich habe auch kein Grab geplündert.
Es war so: Im Frühjahr 1995, damals arbeitete ich im Medienressort dieser Zeitung, klingelte das Telefon. Ein Mitarbeiter der Anthropologischen Staatssammlung in München bat mich, zu ihm ins Büro zu kommen, er habe etwas für mich. Am Telefon könne er nicht darüber reden. Und ich solle mich bitte beeilen, die Sache müsse schnell geklärt werden.
Von der Redaktion, die damals noch in der Innenstadt lag, waren es nur wenige Trambahnstationen bis zur Staatssammlung. Und was dort gesammelt wird, wurde mir im Büro des Anthropologen klar, als ich zunächst seine skeptischen Blicke sah und dann den Pappkarton aus Jordanien auf seinem Schreibtisch. In der braunen Kiste der Amman Food Industries Company waren einst 72 Portionen Sandwichsauce der Marke Afico verpackt gewesen. Der Wissenschaftler öffnete den Deckel und zog den Totenkopf heraus.
Es war nicht der erste Schädel eines Toten, den ich in meinem Leben sah, aber der Anblick hatte etwas Verstörendes, vor allem, weil der Kopf nun mir gehören sollte: »Sie sind Michael Bitala, oder?«, fragte der Mann, der mich angerufen hatte, und erzählte folgende Geschichte: Ein Biologie-Professor und Direktor eines naturgeschichtlichen Museums im Irak habe ihm den Schädel geschickt. Da die Versorgungslage durch das UN-Embargo so schlecht sei, müsse der Mann die Exponate seines Hauses verkaufen. Es handle sich hier um den 1400 bis 1800 Jahre alten Schädel eines männlichen Sassaniden, einem Volk in Persien, zum Todeszeitpunkt schätzungsweise fünfzig bis sechzig Jahre alt. Der Professor hätte gern 2000 Mark dafür, und das Geld solle das anthropologische Institut seinem »Freund« Michael Bitala übergeben. Der würde es ihm dann in den Irak schicken.
Der Mann, der mich als »Freund« bezeichnete, war mein Vater. Er ist Iraker, und ich hatte seit vielen Jahren nichts von ihm gehört. Dass er mich jetzt als Freund und nicht als seinen Sohn bezeichnete, war mir sehr recht, denn offensichtlich handelte es sich um eine Straftat. Darauf wies mich auch der Anthropologe hin: Er könne den Schädel nicht kaufen, das verstoße gegen internationales Recht. Auch wenn er ihn noch so gern hätte, schließlich sei es ein seltenes Exemplar. Aber gestohlene Kunst- und Kulturgüter dürfe sein Institut nicht erwerben. Deshalb solle ich den Schädel jetzt mitnehmen.
»Was soll ich denn mit dem Schädel?«, fragte ich. »Sie können ihn auf dem Schwarzmarkt verkaufen«, antwortete der Wissenschaftler. »Gibt es einen Schwarzmarkt für Sassanidenschädel?« – »Ja, den gibt es«, sagte der Mann und nannte ein Viertel in Schwabing. »Aber ich stelle mich doch nicht mit einem Schädel im Karton auf die Straße und warte auf Interessenten.« – »Nehmen Sie den Schädel einfach mit. Und dann vergessen wir die Sache.«
Auf der Rückfahrt saß ich wieder in der Trambahn. Nur dass ich diesmal einen Karton mit einem Schädel auf dem Schoß hatte, was dazu geführt hat, dass ich mich seitdem in öffentlichen Verkehrsmitteln oft frage, was die Menschen so alles mit sich herumtragen. Zu Hause schob ich den Totenkopf samt Karton unter mein Bett.
Ich schickte meinem Vater 2000 Mark, weil er ja offensichtlich aufgrund des Embargos bedürftig war, und schrieb dazu, dass ich seinen Schädel nicht verkaufen würde. Was dazu führte, dass er mehr Geld wollte, ich könnte den Schädel ja noch verkaufen. Dieser Briefwechsel hat unseren zuvor schon spärlichen Kontakt nicht eben verstärkt.
Der Schädel blieb vier Jahre lang unter dem Bett, dann kam er für elf Jahre auf den Speicher meiner Mutter. Jetzt aber, wo ich ihn wiederhabe, ruht er in meinem Bücherregal, wo ich ihn jeden Morgen betrachte und mich frage, wie der Sassanide wohl zu Lebzeiten seine Tage verbracht hat. Und wie er es fände, dass sein Kopf ein paar Tausend Jahre später in einer Münchner Wohnung herumliegt.
Aber was mache ich mit ihm? Jetzt, da er schimmelt, ist er mir noch unheimlicher als zuvor. Sind die Schimmelsporen des Sassaniden gefährlicher als zum Beispiel Schimmel in Kaffeemaschinen? Wäre es – allein aus hygienischen Gründen – nicht sinnvoll, ihn einfach in die Mülltonne zu werfen?
An anderen Tagen überlege ich mir, ob ich ihn an ein anderes anthropologisches Institut schicken sollte. Ohne Anschreiben natürlich, immerhin steht in dem Brief, der die Herkunft des Schädels klärt, auch mein Name und der meines Vaters. Ohne ein erläuterndes Schreiben aber ist der Totenkopf wissenschaftlich gesehen nicht viel wert.
Oder soll ich, wie es mir der Münchner Krimiautor Friedrich Ani »zwecks guter Geschichte« empfohlen hat, den Schädel nachts am Isarufer ablegen? Das würde, so Ani, »eine schöne Mordermittlung« geben. Ich solle ihm jedenfalls Bescheid geben, wenn es so weit ist.
Aber ein Gedanke schlägt alle anderen: Der Sassanide muss eine Bestimmung haben. Der Schädel liegt nicht 1400 bis 1800 Jahre irgendwo herum, damit ich ihn einfach wegwerfe oder sonstwie entsorge. Ich werde ihn in Zukunft mit Respekt behandeln. Ich werde ihm mit einem Schwamm und etwas Spülmittel den Schimmel vom Knochen waschen und abwarten. Ein Totenkopf, der solch einen Weg hinter sich hat, kann noch nicht am Ziel seiner Reise sein.
Illustration: Ricardo Vecchio