Entziehungsberechtigter

Sascha* hat ein Problem mit seinen Eltern. Weil die eines mit dem Alkohol haben.

Zuhause: eine Dreizimmerwohnung in Hamburg
Schule: Gesamtschule Mümmelmannsberg
Eltern: beide arbeitslos
Geschwister: ein Bruder, eine Halbschwester
Taschengeld: 20 Euro im Monat plus 10 Euro aufs Konto
Berufswunsch: Kfz-Meister
Lieblingsessen: Minutensteak mit Kartoffeln und Soße
Lieblingsstar: Jackie Chan
Größter Wunsch: ein BMW
Sommerferien: zwei Wochen mit der Jugendgruppe nach Schwerin

An einem Nachmittag um halb fünf, gleich nach der Schule, rannte Sascha K.* durch das säuerlich riechende Treppenhaus, nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock, schloss die Tür zur Wohnung auf und stürmte ins Wohnzimmer.

Dort saßen die Eltern wie immer auf der Couch. Sascha wusste, heute musste es raus. Seit Monaten schon hatte er es sich vorgenommen: mit den Eltern zu reden. Im Regal gegenüber der Couch lief der Fernseher, eine Talkshow auf SAT1, und auf dem Couchtisch standen ­ ebenfalls wie immer ­ ungefähr 15 Dosen Bier. Aber an diesem Tag fühlte sich Sascha alt genug für sein erstes Gespräch unter Erwachsenen.

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Er stellte sich also vor den Couchtisch, bereit, den Mund zu öffnen. Aber der ging erst nicht auf. Wäre er schon ein Jahr älter, hätte er wenigstens schon den Stimmbruch hinter sich ­ er hätte seine Eltern vielleicht angebrüllt. Aber so? Sascha ist für sein Alter klein, fast schmächtig. Alles, was bisher in seiner Macht stand, war, von zu Hause weglaufen. Einmal hat er es gewagt, aber es bloß bis zu seiner Schwester geschafft, die ein paar Straßen weiter wohnt. Das hat natürlich überhaupt nichts gebracht. Nach drei Tagen musste Sascha zurück zu den Eltern.

Von der Couch blickten sie Sascha nun an. »Ihr Blick war immer so glasig«, sagt Sascha heute. Dann nahm Sascha seinen Mut zusammen, erinnerte sich noch ein letztes Mal daran, was sein Vater ihm beigebracht hatte: dass er immer seine Meinung sagen soll. Damit niemand ihn unterbuttern könne. »Aber in höflichem und vernünftigem Ton. Klar, ne?«, hatte der Vater gesagt.

Und dann plötzlich, in höflichem und vernünftigem Ton, piepste Sascha: »Ich will nicht, dass ihr jeden Tag so viel trinkt! Bitte hört auf!« Er sagte, er könne das Gebrüll nicht mehr aushalten, wenn die Eltern betrunken waren, jeden Tag dieses Geschrei, das durch die kleinen Fenster bis nach draußen schallte und in den Gassen der Siedlung verhallte. Selbst Saschas Freunde flüsterten schon, das mit Saschas Eltern sei ja voll krass. »Wenn die so viel getrunken hatten, waren sie immer so aggressiv«, sagt Sascha. »Sie haben sich gegenseitig angeschrien. Noch schlimmer haben sie mich angeschrien.«

Renate* und Dieter K.*, die Eltern: Renate, Mitte vierzig, Dieter, ein bisschen jünger, beide haben ausgebleichte Tätowierungen auf ihren dünnen Unterarmen und zusammen zwei Kinder, Robin und Sascha. Renate hat auch noch eine ältere Tochter mit einem anderen Mann. Sie war mal mit Dieter verheiratet, hat sich aber zu Beginn der neunziger Jahre scheiden lassen. Heute leben sie wieder zusammen. Das Sozialamt bezahlt ihnen eine Dreizimmerwohnung und dort wohnen sie mit Sascha, seinem älteren Bruder Robin und dem Kater Blacky, im dritten Stock eines Hochhauses. Arbeit haben sie keine.

Die Gegend, in der die Familie K. wohnt, nennen Sascha und seine Freunde nur »Mümmel«, doch in Wirklichkeit heißt sie Mümmelmannsberg, die Älteren sagen Bunny Hill. Ein Stadtteil von Hamburg gleich bei der Endstation der U3 ­ Hochhaussilos aus grauem Stein, verziert mit bunten Balkons, wie man sie in den frühen siebziger Jahren hübsch fand. Und dahinter rauscht die Autobahn.

Heute, einige Monate nachdem Sascha mit seinen Eltern über ihr Trinken gesprochen hat, sind die Bierdosen vom Couchtisch tatsächlich verschwunden. Zwar sitzen die Eltern immer noch jeden Tag auf der Couch, aber sie trinken dabei nicht mehr, »versprochen ist versprochen«, sagt Dieter, der Vater. Der Sascha habe das natürlich nicht verstanden mit dem Alkohol, sagt er. »Kann er ja nicht. Der kennt das ja nicht, wie das ist, wenn man den ganzen Tag nur rumsitzt. Wenn man nichts zu tun hat. Dass man dann trinkt.« Die Eltern haben versucht, es dem Sohn zu erklären, und dann haben Renate und Dieter zu ihrem Sohn gesagt, er solle ihnen eine Woche geben. Innerhalb einer Woche würden sie aufhören, versprochen.

Sascha, mit seiner piepsigen Stimme, hatte es geschafft und die Eltern waren noch nicht einmal böse geworden.

Jetzt, ohne das Bier, sagt die Mutter, müsse sie zugeben, dass sie ein bisschen faul sei. »Ich gucke im Moment eigentlich ganz gern fern.« Sie hat es auch mal mit Kochen versucht, aber das bringe nichts, weil keiner ihr Essen mag. »Der Sascha, zum Beispiel, ne! Der isst doch kein Gemüse!« Also hat sie sich wieder auf die Couch gesetzt, die sie abends zu einem Bett auszieht. Da schläft sie dann mit Dieter drauf. Und morgens klappen Dieter und sie das Bett wieder zusammen und setzen sich hin. Dann stopfen sie sich Zigarettenhülsen der Marke »Power«.

Ihrem Sohn aber wollen sie Durchsetzungskraft und Übersicht beibringen in dieser schwierigen Welt, sagen sie, und sie ihm einfacher machen. Selbst wenn das bedeutet, dass die Mutter seit vier Jahren im selben Trainingsanzug rumläuft, damit Geld übrig bleibt, um ein Paar Puma-Turnschuhe für Sascha zu kaufen. 250 Euro hat die Familie im Monat. Das Paar Puma-Turnschuhe, das Sascha im Moment trägt, kostet 90 Euro. »Aber die braucht er doch«, sagt Renate, die Mutter. »Sonst wird er hier nicht akzeptiert.«

Renate und Dieter haben sich vorgenommen, aus dem dünnen Jungen einen Mann zu machen, sagen sie, einen, der in »Mümmel« bestehen kann. Fast stolz weisen sie auf sein »gottloses Mundwerk« hin, dass er sich nichts bieten lasse, doch als Sascha in den ersten Minuten unseres Gesprächs zunächst einsilbig antwortet, offensichtlich ein bisschen verlegen, haut der Vater ihm auf den Unterarm und fährt ihn an, mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme: »Mann, Sascha, jetzt sei doch nicht so nervös!« Auf Sascha ruht die Hoffnung dieser Familie, dass er vielleicht irgendwann manches besser kann als sie selbst. Renate hat zwar mal eine Ausbildung zur Textilverkäuferin gemacht, aber schon lange nicht mehr gearbeitet, und Dieter sagt, er habe »leider nichts gelernt«, grinst und macht dazu eine Handbewegung, als hätte er sich gerade verbrannt.

Nur: Welche Chancen hat Sascha in dieser Umgebung? Die seines Bruders Robin, der auf eine Sonderschule musste und den heute ein Arbeitsbeschaffungsprojekt als Straßenkehrer und Gärtner beschäftigt? Sascha wird nach den Ferien in die sechste Klasse gehen, dort ist er der einzige Deutsche. Die anderen Schüler kommen aus der Türkei und aus Afghanistan, Osteuropa, ein paar aus Afrika –­ trotzdem »ist es leistungsmäßig nicht so einfach für Sascha«, wie die Mutter es ausdrückt. Vieren und Fünfen kriegt er.

»Na und, Dicker?«, sagt Sascha. Schließlich ist sein Bruder Robin sein Vorbild und der hat nur die Sonderschule besucht. Inzwischen ist Robin zwanzig. So wie er wolle er werden, hat sich Sascha überlegt, cool sein, sich mit Autos auskennen und »Power-Klamotten« tragen, Nike, Fila oder Puma, aber vielleicht »weniger Scheiße bauen«, also nicht in Kindergärten einbrechen wie der Bruder, nicht die Nächte auf der Polizeiwache verbringen, nicht saufen. Er will einen anständigen Beruf lernen, Kfz-Meister, und sich später einen Opel aufmotzen, ein normales Leben haben, einerseits.

Andererseits, wenn jemand im Geschäft oder am Bankautomaten seine Geheimzahl eintippt, dann tritt Sascha von hinten heran, linst über die Schulter und merkt sich die Ziffern. Was er damit will? »Nur so eine Angewohnheit«, sagt er. Noch konnte er mit keiner der gemerkten Nummern etwas anfangen. Doch bald wird er sich entscheiden müssen: Wird er mit den fünf Euro, die seine Eltern ihm jede Woche geben, auskommen oder wird er sich woanders noch Geld besorgen müssen? Wird er anfangen, sich zu schlagen, ein Messer tragen vielleicht, um sich gegen die Türken in der Siedlung durchsetzen zu können? Dieses Jahr beschützen ihn die Älteren noch auf dem Nachhauseweg, erzählt er, doch dieser Schutz gilt nur für ein Kind. Nächstes Jahr wird Sascha sich selbst verteidigen müssen. »Pah!«, sagt er da. Irgendwie, wenn man älter wird, baut man halt Scheiße, die 14- und 15-Jährigen, die er kennt, bauen fast alle irgendwann Scheiße, das sei hier so.

Und er? Baut er Scheiße? »Eigentlich nicht«, sagt Sascha da, doch am nächsten Tag fährt er mit fünf Freunden aus Mümmelmannsberg in die Stadt und schon in der U3 fühlen sie sich wie eine kleine Gang. Sie wollen in die Alster-Schwimmhalle, wo es ein Zehnmeterbrett gibt, eine Rutsche und wie in Mümmelmannsberg mehr Ausländer als Deutsche. Sascha springt dort zum ersten Mal in seinem Leben vom Zehnmeterbrett, das muss man können, am besten mit einer »Arschbombe«. Während der übrigen Zeit geht es darum, den anderen Besuchern im Schwimmbad das Leben zur Hölle zu machen. Also verursacht Sascha Staus in der Röhre der Wasserrutsche. Es kommt zu schmerzhaften Unfällen, die Rutschenden krachen dem Vordermann mit den Knien in die Wirbelsäule. Eine Sirene beginnt zu heulen, während der Bademeister von außen an die Röhre hämmert. Sascha bleibt ruhig. Fast wird er erwischt. »Na und, Dicker?«, sagt er da, »dann fliegen wir halt raus. Wir wollen doch sowieso bald gehen!«

Auf dem Rückweg reden Sascha und die Freunde über Alkohol: »Meine Eltern trinken gar nicht«, sagt Fariz*, Saschas bester Freund. »Mein Vater ist ja Muslim.«

»Glückspilz«, antwortet Sascha . »Aber meine saufen ja auch nicht mehr.«

Da sagt Fariz, er sehe Saschas Vater schon noch ab und zu ein Bier trinken. Die anderen Freunde nicken. Ein kurzer Moment der Stille tritt ein. Dann blitzen Saschas Augen, er ist sich ja selbst nicht sicher: »Ja, ein Bier vielleicht!«, sagt er schließlich. »Aber ein Bier ist ja nicht das Problem, oder?«

Und dann kriegt Saschas Gesicht diesen genervten, abwartenden Ausdruck, den er sich in letzter Zeit angewöhnt hat, bei dem er die Stirn in Falten legt, der ihn schützen soll. So guckt er dann und schweigt. Überhaupt will Sascha nie der Erste sein, der etwas sagt, auch nicht der Lauteste, was ihn von fast allen anderen in Mümmelmannsberg unterscheidet. Ruhig bleiben, nie rumbrüllen, nicht wie die Eltern früher, das sei wichtig hier, sagt er. Das habe er in »Mümmel« gelernt. Und noch etwas habe er gelernt, sagt er und grinst plötzlich: »Ihre Geheimnummer ist 9781, stimmt's?«

Und ob man noch ein Geheimnis hören wolle? Er sei erst zwölf, sagt Sascha dann, nicht 13. Er habe lediglich behauptet, er sei 13, denn er habe gehört, es gebe zehn Euro Aufwandsentschädigung, wenn ein Reporter komme und über ihn schreibe. Was denn jetzt eigentlich mit dem Geld sei?

*Alle Namen sind von der Redaktion geändert.


Foto: Konrad R. Müller