Ich bekam zum ersten Mal Angst vor seinem Tod und beschloss, für ihn da zu sein

Jahrelang konnte Johannes Waechter nichts mit dem Hobby seines Vaters anfangen. Jetzt fuhr er mit ihm nach Helgoland - aber nicht nur, um Vögel zu beobachten.

Beim Ausbooten habe ich plötzlich Angst um ihn. Unser Schiff ist gerade vor Helgoland angekommen, jetzt müssen die Passagiere auf kleine Boote klettern, die sich in der Dünung heben und senken. Mein Vater steht an der Ausstiegsluke, er ist 74 Jahre alt, und weil er trotz dicker Brillengläser den Boden vor seinen Füßen nicht mehr gut erkennen kann, hat er sich einen tastenden Gang angewöhnt. Vorsichtig streckt er einen Fuß nach vorn, als ihn zwei Matrosen unter den Achseln packen und ihm aufs Boot helfen. Da steht er dann und schwankt etwas.

Ich bin zum ersten Mal auf der Insel, er zum dritten Mal. Sein erster Besuch fand im Oktober 1959 statt, da war er 23 und hatte nach zwei Semestern Jura gemerkt, dass er etwas anderes studieren wollte als sein Vater. Er schrieb sich für Wirtschaftspädagogik ein und fuhr kurz vor Beginn des neuen Semesters für zwei Wochen nach Helgoland, allein, zum Vogelbeobachten. Eine Postkarte ist erhalten, die er an seinen Bruder schrieb: »Lieber Dieter, ich bin hier sehr zufrieden, sonnig, steifer Wind. Viele Vögel, auch seltene Arten. Dein Jürgen«

Die Fahrt nach Helgoland ist die zweite Reise, die wir in diesem Jahr zusammen unternehmen; im April waren wir in Danzig und Umgebung, auf den Spuren unserer Vorfahren. Ich weiß daher, was mich erwartet, einige Spleens gilt es zu akzeptieren. Mein Vater geht zeitig zu Bett, liest gern Zeitungsartikel, Speisekarten und Straßenschilder vor und kocht sich morgens, wenn er die Gelegenheit dazu hat, einen Topf Hirsebrei, in den er Leinsamen, Weizenkeime und Haferkleie rührt.

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Ich ziehe ihn damit auf, er lässt es an sich abperlen, mit der Gelassenheit eines Mannes, der seinen Platz im Leben gefunden hat. So haben wir uns gut verstanden in Polen, haben viel gelacht und viel geredet. Dort erzählte er mir alles, was er über unsere Vorfahren und die Zeit vor der Flucht im Januar 1945 weiß, nun möchte ich möglichst viel über die Jahre nach dem Krieg erfahren, als er erwachsen wurde. Was hat ihn damals beschäftigt? Warum hat er sich unter den ganzen Hobbys, für die man sich begeistern kann, ausgerechnet das Vogelbeobachten ausgesucht?

Böiger Wind treibt Regenwolken auf Helgoland zu, dreißig Meter unter uns branden die Wellen ans Kliff. Wir sitzen auf einer feuchten Bank und kauern uns zu zweit unter einen Regenschirm. Genauso habe ich mir das Vogelbeobachten vorgestellt – ungemütlich und ergebnislos, denn außer ein paar Möwen ist weit und breit kein Vogel in Sicht. Das war damals anders. Mein Vater holt die Liste der Vögel heraus, die er 1959 gesehen hat, 63 Arten stehen auf dem leicht vergilbten Blatt. Alles ist mit Schreibmaschine getippt, sehr ordentlich. Viele der Vogelnamen habe ich noch nie gehört. Spornammer? Sanderling? Stein-wälzer? Basstölpel? Das sei doch jemand, der schlecht Bass spielt, witzle ich.

Mein Vater geht gnädig über den Kalauer hinweg und erklärt, dass der Basstölpel ein großer Meeresvogel ist, den man leicht an seinen schwarzen Flügelspitzen erkennen kann. »Den habe ich gesehen, als ich schon auf dem Rückweg war. ›Da fliegt ein Basstölpel‹, rief jemand. Plötzlich tauchte er neben dem Schiff auf.«
So kenne ich meinen Vater, einen ehemaligen Lehrer und Schuldirektor: Nach 51 Jahren erinnert er sich daran, wie ein Vogel ein paar Sekunden lang in seinem Blickfeld auftauchte. Der Felsenkleiber damals in Delphi, der Baumpieper, den er bei seinem Schülerjob im Moor hörte – oft hat er von diesen Höhepunkten seines Ornithologenlebens erzählt. Vielleicht zu oft, denn auch gute Geschichten werden langweilig, wenn man sie immer wieder hören muss.

Was kann die Natur, was die Popkultur nicht kann?

Irgendwann stand seine Liebe zur Natur für mich im Gegensatz zu meiner Begeisterung für die Popkultur. Ich konnte nicht verstehen, was an Vogelgezwitscher so toll sein sollte, nahm ihm sein Desinteresse an Pop sogar ein bisschen übel: Vom Oktober 1966 bis zum Juli 1967 lebte mein Vater in London, in diesen entscheidenden Monaten, als Jimi Hendrix den Durchbruch schaffte und die Beatles Sgt. Pepper herausbrachten. Was hätte er dort alles erleben können! Doch statt ins Swinging London einzutauchen, lauschte er in der Royal Festival Hall den Londoner Philharmonikern.

Ja, ich gestehe: Ich fand ihn ein bisschen peinlich. Seine Ordentlichkeit, sein Ruhebedürfnis, das völlige Fehlen einer exzessiven Ader. Aber dass Kinder ihre Eltern peinlich finden, ist, glaube ich, normal und in meinem Fall zum Glück lange her. Nach dem Ende der Pubertät habe ich erkannt, wie gut ich es mit meinen Eltern getroffen habe und was für ein liebenswerter Mensch mein Vater ist. In seiner Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit ist er mir zum Vorbild geworden, und ich kann seine Eigentümlichkeiten schon deshalb nicht mehr peinlich finden, weil ich mich dann selbst peinlich finden müsste, so ähnlich bin ich ihm inzwischen.

Wir tragen beide die gleiche Frisur und gehen unseren Frauen bisweilen mit unserer peniblen Art auf die Nerven. Wir sind keine tiefen Denker, keine Hitzköpfe, die mit dem Lauf der Dinge hadern, sondern leidlich ausgeglichene Menschen, die das Leben mit Humor nehmen und das Glück eher in der Normalität suchen als in den Extremen. Zuletzt vererbte er mir seine Vorliebe für die Gartenarbeit und gab mir Tipps zur Einrichtung eines Komposthaufens. Wenn jetzt noch die Vögel dazukämen …

Mit dem Fernglas suche ich nach Spornammer und Steinwälzer, aber Helgoland ist gerade ziemlich vogelfrei. Das ist, zugegeben, unsere eigene Schuld, wir sind zur falschen Zeit hier. Die Zugvögel machen im Frühjahr und im Herbst Station, im August sind nicht mal mehr die Trottellummen da, deren Felssprung alljährlich die Touristen begeistert. Sehnsüchtig schauen wir herum und entdecken immerhin einen großen schwarzen Vogel, der mit hoch aufgerecktem Hals auf dem Meer schwimmt. Mein Vater späht mit dem Fernglas hinab. »Ein Kormoran«, sagt er und reicht mir das Glas.

Erst sehe ich gar nichts, dann bin ich überrascht, wie groß der Kormoran durch die Linse erscheint. Mein Vater ist ein sparsamer Mensch, Luxus ist ihm verdächtig, nur seine Ferngläser haben Spitzenqualität. Sein jetziges hat vor zwölf Jahren fast 2000 Mark gekostet, für sein erstes, ein gebrauchtes Zeiss-Glas, bezahlte er 1956 200 Mark – mehr als das Doppelte seines damaligen Monatslohns als Banklehrling. Auch das ist eine Geschichte, die ich oft gehört habe, aber bis heute habe ich nicht darüber nachgedacht, wie viel sie über ihn sagt. Als mein Vater nun aus seiner Jugend erzählt, kommen mir die alten Geschichten auf einmal viel interessanter vor als früher.

»Wir waren freier als die Kinder heute«, sagt er gleich als Erstes. Nach der Flucht aus Danzig, eine Woche im Schiff über die Ostsee, kam die Familie im Haus einer Tante in Oldenburg unter. Drei Familien mit elf Kindern lebten dort, viel Spielzeug gab es nicht, Fernsehen oder Kino erst recht nicht, und so entdeckten mein Vater und sein Bruder die Natur. Sie streiften durch die Wälder und Wiesen in der Umgebung, beobachteten Schmetterlinge und hielten Frösche in selbst gebauten Terrarien.

Mit zehn bekam mein Vater sein erstes Vogelbuch, ein Zigarettenbilderalbum mit dem Titel Aus Deutschlands Vogelwelt. Die Vögel, das verstehe ich langsam, waren für ihn dasselbe wie für mich die Platten: Sie halfen ihm, seine Identität zu finden. Über 400 Vogelarten gibt es in Deutschland, nach und nach lernte mein Vater, etliche davon zu unterscheiden. Er fand Anschluss an eine Gruppe, die regelmäßig Vogelwanderungen machte, auch seine erste Freundin, Brunhild hieß sie, ging auf diese Wanderungen mit.

»Worüber hast du dich mit deinen Eltern gestritten?«, frage ich. Er denkt lange nach, aber es fällt ihm wenig ein. Er strengte sich in der Schule an und trug ohne zu murren den grässlichen Plastikmantel, den die Eltern für ihn ausgesucht hatten. Früher hielt ich ihn deshalb für brav und angepasst. Jetzt sagt mein Vater: »Meine Eltern haben mich nicht festgehalten. So wie wir euch hoffentlich auch nicht.«

Mit 15 trampte er mit seinem Bruder von Oldenburg nach München, mit 16 machte er eine dreiwöchige Radtour durch Holland, seinen 18. Geburtstag feierte er irgendwo im Schwarzwald, auch wieder auf einer Rad- und Tramptour. 1958 ging er nach Berlin, die Studenten wohnten noch nicht in WGs, sondern bei einer Wirtin zur Untermiete, aber schon damals war Berlin ein Anziehungspunkt für alle, die etwas freier leben wollten. Mein Vater sah Willy Brandt und Präsident Kennedy und tat kurz nach dem Mauerbau das Mutigste, was jemals jemand in unserer Familie getan hat: Mit einem gefälschten Ausweis schmuggelte er den Bruder seiner damaligen Freundin Regine aus Ost-Berlin in den Westen.

Der Regen hat aufgehört und ich folge meinem Vater den Klippenrundweg entlang. Mir fällt ein, wie traurig und verwirrt ich war, als ich bei unserer Polen-Reise zum ersten Mal den tastenden Gang bemerkte, den er sich wegen seiner schlechten Augen angewöhnt hat. Mein Vater war immer gesund und kräftig, nun war da diese Alterserscheinung. Ich bekam zum ersten Mal Angst vor seinem Tod und beschloss, für ihn da zu sein, so wie er es für mich war.

Am Lummenfelsen sehen wir eine große Kolonie von weißen Vögeln, die in den Spalten und Simsen der Felswand sitzen. Trottellummen können es nicht sein, die sind ja schon weg. Möwen? Mein Vater gibt mir das Fernglas. Ich beobachte, wie einer der Vögel aufsteigt. Als er die Flügel ausbreitet, erkenne ich die schwarzen Spitzen. »Das muss ein Basstölpel sein«, sage ich stolz. »Donnerwetter«, sagt mein Vater. Er gibt mir seinen Bleistift, damit ich meine eigene Liste anfangen kann.

Bild: Klaus Fürmaier