Rückblickend war es der windige Weihnachtsmann am Ausgang vom Tengelmann, der das Fass zum Überlaufen brachte, als er meiner Tochter noch schnell ein Säckchen zusteckte. Nina hatte in den Tagen zuvor schon drei andere Säckchen von irgendwelchen Weihnachtsmännern bekommen. Dann kam Weihnachten, kurze Zeit später ihr fünfter Geburtstag, ich musste der Völlerei eine Ende setzen. Also sagte ich: »Am Geburtstag gibt’s aber keine Tütchen!«
Wer kleine Kinder hat, kennt die Dinger, ohne die heute kein Kindergeburtstag mehr denkbar ist: Jedes Kind bekommt zum Abschied ein Tütchen, mit Schokolade, Gummibärchen, Luftballons, einem Armband für Mädchen, einem Spielzeugauto für Jungen. Manche meiner Bekannten sagen, diese Tütchen gab es schon immer, aber die meisten kennen sie nicht aus ihrer eigenen Kindheit. Mich nervt vor allem, dass Nina nun bei jeder Geburtstagseinladung sofort wissen will, ob es da Tütchen gibt. Mit ihren fünf Jahren sollte sie langsam damit klarkommen, wenn zur Abwechslung mal ein anderes Kind im Mittelpunkt steht und beschenkt wird. Nun bringt es sicher wenig, ausgerechnet am Geburtstag meiner Tochter die Tütchen zu verbieten. Schließlich bekämen ja nur die anderen Kinder Tütchen, aber nicht meine Tochter. Aber warum soll ich fördern, was ich ablehne, dachte ich. Und: Woher kommt dieser Unfug eigentlich?
Von den Amis, vermutet Helmuth Berking, Autor eines Buchs mit dem Titel Schenken. Mit den Tütchen werde der Neid der Gäste besänftigt. Und die herausgehobene Stellung des Geburtstagskinds ebenso bestätigt wie relativiert. Das wäre typisch, die Amerikaner zeichneten sich dadurch aus, »ihre eigene Ideologie des Individualismus zu feiern und ihr gleichzeitig radikal zu misstrauen«. Die Kulturhistorikerin Regine Falkenberg hat eher die Achtundsechziger im Verdacht. Früher bedeutete Kindergeburtstag Topfschlagen, Eierlaufen und Sackhüpfen, der Sieger wurde belohnt. Dieser spießbürgerlich motivierte Leistungsdruck war wohl nicht länger haltbar. Statt Bonbons für den Sieger, meint Falkenberg, gab es nun Tütchen für alle. So oder so sind die Tütchen eine Erscheinung unserer Zeit, bis weit ins 20. Jahrhundert waren nicht einmal Kindergeburtstage üblich, außer vielleicht bei den Reichen.
Ein Blick in die Fachliteratur zeigt, wie verfehlt der Tütchen-Brauch ist: Der Soziologe Marcel Mauss erläuterte in seinem Klassiker Die Gabe, dass es vor allem archaische Gesellschaften auszeichnet, Geschenke sofort mit Gegengeschenken zu erwidern. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss erkannte den pädagogischen Wert des Schenkens ohne Gegenleistung: Wer dies beherrsche, der sei »nicht mehr das hilflos greinende Kind, ausschließlich von den Geschenken der anderen abhängig und durch Ängste zu Wutanfällen und Eifersüchteleien getrieben«. Der Philosoph Jean Baudrillard äußerte, geben ohne zu nehmen sei ein Ausweis der Macht, der Empfang einer Gabe also eine Demütigung.
Bleibt das Problem, dass sich meine Tochter durch Geschenke absolut nicht gedemütigt fühlt. Der Erziehungswissenschaftler Friedrich Rost findet das auch normal, Kinder verstünden Geschenke nun einmal als Ausdruck von Liebe. Der Buchautor Helmuth Berking warnte mich sogar, dass ich »unter Konkurrenzgesichtspunkten möglicherweise ein schlechter Vater« bin, wenn ich mich dem Tütchenbrauch verweigere. Und Regine Falkenberg, die sich lange mit der Geschichte des Kindergeburtstags beschäftigt hat, tröstete: Bald seien die Tütchen kein Thema mehr, dann werde meine Tochter mit ihren Freundinnen am Geburtstag kochen oder ins Kino wollen.
Wir haben an Ninas Geburtstag drei Stunden lang Spiele gemacht. Nach jedem Spiel gab es für alle eine Belohnung. Mit Ausnahme von Nina, die vor lauter Aufregung nachts schlecht geschlafen hatte, waren die Kinder toll bei der Sache. Am Ende gab meine Frau deshalb jedem noch ein Überraschungsei mit. Ich halte diese Eier für genauso armselig wie Tütchen, und wahrscheinlich würden mir Lévi-Strauss und Baudrillard zustimmen. Bei den Kindern selbst sind die Eier hervorragend angekommen.
Foto: Luise Aedtner