Es hätte so ein schöner Sommer werden können: Er begann mit einer Liebe auf den zweiten Blick, denn noch versteckte sich die kleine Jamuna Toni hinter einem Strohballen, vor sich eine Wand aus Menschen, die sich an den Absperrseilen im Elefantenhaus drängten. Alle wollten die neue Sensation im Münchner Tierpark bestaunen: das Elefantenbaby. Also nahm ich meine Tochter auf die Schultern.
»Da hinter dem Strohballen, da ist sie«, sagte ich. »Wo?« Und endlich kam sie rausgewackelt, zerzaust, strohbedeckt. Sie steckte ihren Kopf in einen Eimer, kniff einen Pfleger mit dem Rüssel in den Schritt und warf sich in den Kehricht – die Menge quiekte, die Digicams klickten und meine Tochter hatte dieses Leuchten in den Augen, das sie sonst nur hat, wenn sie bei Ikea in Bällen badet. Sie war sofort verzaubert, im April, als die Bäume anfingen zu blühen. Linda zweieinhalb Jahre, Jamuna Toni vier Monate alt, zwei Töchter unter Gottes Sonne, hatten sich gefunden und Lindas Plan war: Sie würden zusammen groß werden. Fortan war jeder Elefant ein Jamuna Toni. Es hieß auch nicht mehr: Wir gehen in den Tierpark – wir gingen zu Jamuna Toni. Nicht zu den Pinguinen, nicht zu den Löwen, nicht zu den Orang-Utan Babys. Jeden Sonntag waren wir da. Wir sahen, wie sie ihren Kopf in einen Eimer steckte oder den Pfleger in den Schritt kniff, wie sie im Stroh herumtollte und sich im Kehricht wälzte. Manchmal knickte sie ein oder stolperte über ihre Füße. Niemand dachte sich was dabei. Ihre Augen schienen irgendwie traurig, so traurig wie die von E. T. Heute, ja, heute weiß man, Jamuna Toni war krank von Geburt an und sie hatte Schmerzen. Die Knochen. Sie brachen wie Glas. Vor elf Tagen, am 14. Juni 2010, musste Jamuna Toni eingeschläfert worden. Sie wurde nur sechs Monate alt.
Schon bei unserem letzten Besuch hatte ich eine Ahnung. Da war dieses Schild vor der Tür des Elefantenhauses: Jamuna Toni sei krank. Drinnen war es still und leer. »Wo ist Jamuna Toni?«, fragte meine Tochter. »Jamuna ist im Krankenhaus«, sagte ich, »sie kommt bald wieder.« Zwei Tage später war sie tot. Ihr Bild zierte die Titelseiten der Zeitungen. Und meine Tochter? Freute sich, als sie vor dem Zeitungskasten stand: »Schau mal, Papa, Jamuna Toni!« Ich schwieg.
Wie sagt man seinem Kind, das noch ohne jede Todesahnung ist, dass alles endlich ist, dass es jeden jederzeit treffen kann? Nicht nur alte Menschen, sondern auch Elefantenbabys. Was sagt man seinem Kind, und was macht das mit ihm? Eine Frage, die immer weitere Fragen aufwirft: Soll ich mich auf den Himmel herausreden, so wie alle, weil es tröstlich ist für beide Seiten und Kinder einem ja alles glauben, oder rückt man besser gleich mit der Wahrheit heraus?
Psychologen behaupten, Kinder bis drei Jahre vermissen das, was sie nicht mehr sehen, auch nicht. Also wäre totschweigen eine Option. Was aber, wenn meine Tochter ihre Jamuna Toni nicht vergisst? So wie sie zum Beispiel Tante Marlene, die nette Hotelbesitzerin, nicht vergessen hat, bei der wir vor einem Jahr waren. Was, wenn sie Fragen stellt? Zum Beispiel beim nächsten Zoobesuch?
Die Entwicklungspsychologie weiß: Die Angst vor dem Tod steigt mit dem Alter. Also macht man alles nur noch schlimmer, je länger man wartet. Ich erinnere mich, wie es war, als meine erste Katze weglief. Ich war vielleicht fünf. Tagelang streunte ich durch den Wald, der an unseren Garten grenzte, um sie zu finden. Nach einer Woche wollte ich nachts einen Kassettenrekorder in den Wald stellen, mit einem Band, das pausenlos ihren Namen rief. Damit sie nachts zurückfindet. Sie fand nie zurück.
Wir hatten danach noch andere Katzen, aber das war nicht das Gleiche. Etwas in mir war zerbrochen, nennen wir es ruhig Urvertrauen.
Gestern war ich mit Linda wieder im Elefantenhaus. Sie fragte, wo Jamuna Toni sei. Ich zeigte auf den nächstbesten Elefanten und sagte: »Da ist sie, sie ist ganz schnell ganz groß geworden.« – »Werde ich auch ganz schnell groß, Papa?«, fragte Linda. »Ja«, sagte ich, »viel zu schnell.«
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Thomas Bärnthaler, 41, hat inzwischen eine Jahreskarte für den Tierpark Hellabrunn. Am meisten ist ihm der frei fliegende Pfau ans Herz gewachsen, der immer wieder versucht, sich unauffällig an seine Fersen zu heften. Meist kurz vor Schließung.
Illustration: Dirk Schmidt