Kai-Uwe Gundlachs Bildserie "Edo" ist vom 1. Juli bis zum 3. September in der Micheko Galerie in München, Theresienstr. 18, zu sehen.
Kai-Uwe Gundlach ist Werbefotograf, er hat Kampagnen für BMW, Mercedes, VW, für Stilwerk, Prada und den Chemiekonzern Lanxess fotografiert. Was passiert, wenn sein Blick auf den Ort trifft, der so etwas wie das Zentrum jener Welt ist, die vor allem aus Werbung, Zeichen, Oberfläche besteht? Was passiert, wenn jemand wie Gundlach seine Kamera auf die Kreuzung 3-chome richtet, die verkehrsreichste Kreuzung der Welt, mitten in Tokios Konsum- und Hipsterviertel Shibuya?
Die Bilder flackern, bevor sie verschwinden. Gundlachs Porträts von Passanten in Shibuya sind eine Art optisches Nullsummenspiel. Die beiden Perspektiven, könnte man sagen, neutralisieren sich, heben sich auf, Werbung plus Werbung gleich Vakuum. Die Welt, die Gundlach mit erschaffen hat, implodiert, sie verliert sich in einem gierigen Schwarz, das etwas Unabänderliches hat, etwas Fatales, etwas übersinnlich Bedrohliches.
Gundlachs Fotos von Shibuya sind deshalb so spektakulär, weil sie die Normalität und den Alltag dieser einen Kreuzung wie ein Spektakel, wie ein Schauspiel inszenieren - und dabei gleichzeitig sehr viel über uns erzählen. Gundlach blendet alles aus, was um die Menschen herum ist, er taucht sie in ein merkwürdiges, bedeutungsvolles Licht, er findet sie allein in der Menge, er unternimmt im Grunde so etwas wie die Erfindung der Einsamkeit.
Da ist der Mann, der sich umdreht und in den Himmel schaut, als würde er damit rechnen, von der Sonne erschlagen zu werden. Da ist der Mann mit der weißen Brille, der geblendet wirkt, wie hypnotisiert. Da ist der Mann im Nadelstreifenanzug, der sich hinter seinem Gesicht schon lange aufgelöst hat und nur noch als Schatten, als Erinnerung durch diese Welt wandelt. Da sind stille, fast besinnliche Gruppenbilder. Da sind zwei Mädchen, wie im Gebet verharrend, in eine Ferne starrend, die nicht existiert.
Denn es gibt ja kein Jenseits, es gibt keine Metaphysik, es gibt nur das Heute, es gibt nur die Gegenwart, es gibt nur das, was man anfassen und kaufen kann - das ist die Botschaft von Shibuya. Shibuya ist dabei mehr als nur der Name eines Stadtviertels in Tokio. Die französische Zeitung Le Monde sprach schon 2001 von der »Generation Shibuya« und meinte damit jene japanische Jugend, die noch Kinder des radikalen Konsumismus waren, aber die die Ersten sein werden, die den langsamen Abstieg ihres Landes mitansehen werden. Shibuya steht für einen Höhepunkt, für einen Scheitelpunkt.
Im Schatten Chinas, mit den Problemen einer alternden Gesellschaft konfrontiert, den eigenen Wohlstand als Rückzugsgefecht erlebend: Die Menschen auf Gundlachs Fotos wissen mehr, als sie wissen wollen. Shibuya ist für sie schon längst eine Schimäre, so wie Gundlach es zeigt, ist es sogar eine Schreckensvorstellung. Shibuya, wie es wirklich existiert, ist eine Explosion von Licht und Farbe, von Lärm und Hektik, ein Drängen und Schieben, das vielleicht eine Richtung hat, aber kein augenscheinliches Ziel.
Shibuya, wie es die Kunst inszeniert, ist ein anderer Ort. Sofia Coppola hat das Viertel im Gegenwartsbewusstsein verortet, als sie 2003 den wesentlichen Teil ihres Films Lost in Translation hier spielen ließ. Schon damals war es eine halb tröstliche, halb verstörende Unbehaustheit, die sie in diesen Straßen fand. Gundlach geht noch einen Schritt weiter. Er löst die Straße auf und stellt damit die Frage, was eigentlich gerade mit einem der wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Schauplätze der letzten fünfzig Jahre passiert oder schon passiert ist.
Denn es war auf der Straße, wo seit den Sechzigerjahren jede neue Generation ihr politisches Bewusstsein erprobt hat. Es war auf der Straße, wo die Mode dieser Zeit erfunden wurde, wo Stil definiert wurde, wo die Filme der Nouvelle Vague spielten, wo sich die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem vermischten, wo mit Pop, Masse, Demokratisierung ganz wesentliche Wirkweisen des Westens zelebriert wurden. Die Straße war Freiheit und Versprechen. Die Straße war Mobilität. Und die Kreuzung war reine Bewegung.
Gundlach bremst die Gegenwart brutal aus. Er entzieht den Bildern nicht nur die Farben, er nimmt ihnen auch die Dynamik. Er verweigert und hinterfragt die Straße als Spielplatz unserer Selbstfindung. Er beschreibt einen Verlust an Gemeinsamkeit, Richtung, Perspektive, wie ihn alle westlichen Gesellschaften erleben. Gundlach erzählt dabei nicht die klassische kulturpessimistische Geschichte vom Elend des Einzelnen in der Moderne. Er zeigt ganz einfach, wie Einsamkeit sich heute anfühlt.
Man kann diese Bilder als meditativ empfinden oder als bedrohlich leer, als ästhetische Antwort auf ein existenzielles Vakuum oder als Dokumente des schwindenden Selbstbewusstseins des Westens zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Darin beweisen sie ihre analytische, fast seherische Dimension. Diese Fotos erzählen nicht nur von Shibuya. Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir uns selbst in ihnen. Sie sind Spiegel in unsere Zukunft.
Fotos: Kai-Uwe Gundlach