An einem warmen New Yorker Septembertag im Jahr 1920 parkte der italienische Anarchist Mario Buda sein Pferdefuhrwerk unweit der Kreuzung von Wall Street und Broad Street, direkt gegenüber der J. P. Morgan Company. Er stieg seelenruhig aus und verschwand unbemerkt in der Menge. Einige Straßenzüge entfernt fand ein verblüffter Postangestellter seltsame Zettel, auf denen gewarnt wurde: »Lasst die politischen Häftlinge frei oder ihr findet alle den sicheren Tod!« Unterschrieben waren sie mit: »Die Anarchiekämpfer Amerikas.« Die Glocken der nahe gelegenen Trinity Church schlugen zwölf Uhr. Als sie verklungen waren, explodierte der Wagen voller Dynamit und Eisenschrott in einem Feuerball.
»Pferd und Wagen wurden in Stücke gerissen«, schreibt Paul Avrich, ein namhafter Historiker des amerikanischen Anarchismus. »Aus den Bürofenstern regneten Glasscherben auf die Straße und bis in das zwölfte Stockwerk hinauf gingen Markisen an den Fenstern in Flammen auf. Die Leute flohen in Panik, während eine große Staubwolke die Umgebung einhüllte. In einem Büro der Morgan-Bank starb Thomas Joyce aus der Effektenabteilung an seinem Schreibtisch unter Trümmern aus Putz und Mauerwerk. Draußen waren die Straßen mit unzähligen Leichen übersät.« Buda war zweifellos enttäuscht, als er erfuhr, dass sich J. P. Morgan selbst nicht unter den 40 Toten und mehr als 200 Verletzten befand – der Großkapitalist weilte in seiner Jagdhütte im fernen Schottland. Dennoch hatte es ein armer Einwanderer geschafft, mit etwas gestohlenem Dynamit, einem Haufen Altmetall und einem alten Pferd das Allerheiligste des amerikanischen Kapitalismus einem noch nie gekannten Terror auszusetzen.
Budas Karren war im Wesentlichen der Prototyp der Autobombe: Es war das erste Mal, dass ein Fahrzeug, das in fast jedem städtischen Umfeld unscheinbar bleibt, eingesetzt wurde, um große Mengen schweren Sprengstoffs in die unmittelbare Nähe eines bedeutenden Anschlagziels zu transportieren. Doch es dauerte lange, bis Buda Nachahmer fand: bis zum 12. Januar 1947. An diesem Tag fuhr die Stern-Bande einen Lastwagen mit Sprengstoff in eine britische Polizeiwache im palästinensischen Haifa, tötete dabei vier Menschen und verletzte 140. Die Stern-Bande, eine faschistische Splittergruppe der zionistischen, paramilitärischen Irgun unter Führung von Avraham Stern, ging bald danach dazu über, auch Palästinenser mit Lastwagen- und Autobomben zu ermorden.
Danach wurden Fahrzeugbomben nur sporadisch eingesetzt – wobei sie in Saigon (1952), Algier (1962) und Palermo (1963) beträchtliche Massaker anrichteten – aber das Tor zur Hölle wurde erst 1972 mit vol-ler Wucht aufgestoßen: als die nordirische IRA die erste Autobombe aus Ammonsalpeter und Heizöl zusammenbastelte. Diese sogenannten ANFO-Bomben der neuen Generation, für deren Bau nur gewöhnliche, industriell erzeugte Bestandteile und Kunstdünger nötig waren, konnten billig hergestellt werden und hatten eine unglaubliche Durchschlagskraft: Sie hoben den städtischen Terrorismus von einem handwerklichen auf ein industrielles Niveau und ermöglichten so den Bombenterror gegen ganze Stadtzentren sowie die vollständige Zerstörung von Hochhäusern aus Stahlbeton und kompletten Wohnblöcken.
»Die (Neu-)Entdeckung der Autobombe geschah vollkommen zufällig«, erklärt der Journalist Ed Moloney in seinem Buch A Secret History of the IRA: »Die Ereignisse nahmen Ende Dezember 1971 ihren Lauf, als der Generalquartiermeister der IRA, Jack McCabe, bei einer Explosion tödlich verletzt wurde. Er hatte in seiner Garage im nördlichen Randgebiet von Dublin ein selbst gemachtes, experimentelles Gemisch auf Düngerbasis, das als ›schwarzes Zeug‹ bekannt war, mit der Schaufel vermengt. Das Oberste Hauptquartier warnte, der Umgang mit dem Gemisch sei zu gefährlich, aber Belfast hatte schon eine Lieferung erhalten und jemand kam auf die Idee, sie loszuwerden, indem man sie zusammen mit einem Zünder und einem Zeitschalter in ein Auto packt und dieses dann irgendwo im Stadtzentrum von Belfast stehen lässt.« Die anschließende Explosion beindruckte die IRA-Führung schwer.
Das »schwarze Zeug« – womit die IRA bald lernte, gefahrlos umzugehen – befreite die Untergrundarmee von den Schwierigkeiten, Sprengstoff zu beschaffen. Die Autobombe steigerte die zerstörerische Wirkung und verringerte gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass die Freiwilligen verhaftet wurden oder sich selbst unbeabsichtigt in die Luft sprengten.
Am Freitag, dem 21. Juli 1972, platzierten Freiwillige der IRA 20 Autobomben und verdeckte Sprengsätze in den Außenbezirken des heute umfriedeten Stadtzentrums, die zeitlich so eingestellt waren, dass ihre Zündung etwa in Fünf-Minuten-Intervallen erfolgen sollte. Die erste Autobombe ging vor der Ulster Bank im Norden Belfasts hoch und riss einem katholischen Passanten beide Beine weg; die nachfolgenden Explosionen beschädigten zwei Bahnhöfe, das Ulster Busdepot auf der Oxford Street, verschiedene Eisenbahnknotenpunkte und eine Wohngegend an der Cavehill Road, in der sowohl Katholiken als auch Protestanten lebten.
»Auf dem Höhepunkt des Bombenanschlags ähnelte das Zentrum von Belfast einer Stadt unter Artilleriebeschuss; die Gebäude waren von dichten Rauchwolken ein-gehüllt, während eine Explosion nach der anderen fast völlig die hysterischen Schreie der panischen Menschen übertönte«, schreibt Moloney. Eine Reihe telefonischer Warnungen der IRA sorgte nur noch für mehr Chaos. Bürger flohen vor einer Explosion, nur um von einer zweiten wieder zurückgetrieben zu werden. Sieben Zivilisten und zwei Soldaten kamen um, mehr als 130 Menschen wurden schwer verletzt.
Von diesem Moment an entwickelte sich die Autobombe zu einer halbstrategischen Waffe mit den Fähigkeiten einer Luftstreitmacht. Sie konnte nun wichtige städtische Knotenpunkte und (militärische) Hauptquartiere ausschalten sowie die Bevölkerungen ganzer Städte terrorisieren. Der ebenso rücksichtslose wie brillante Einsatz von Autobomben durch die Hisbollah im Libanon der Achtzigerjahre als Gegenmaßnahme gegen die überlegene Kriegstechnik der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Israels ermutigte bald darauf ein Dutzend anderer Gruppen, ihre Aufstände und Dschihads auf heimischem, städtischem Boden auszutragen. Einige der Bomben-bauer der jüngeren Generation stammten aus den Terrorschulen, in denen die CIA und der pakistanische Geheimdienst ISI mit saudischer Finanzhilfe ab Mitte der Achtzigerjahre die Mudschaheddin für den Terrorkrieg gegen die damaligen russischen Besatzer in Kabul ausbildeten.
Zwischen 1992 und 1998 starben bei 16 größeren Attentaten mit Fahrzeugbomben in 13 verschiedenen Städten 1050 Menschen und fast 12000 wurden verletzt. Von globaler Bedeutung ist dabei, dass es der IRA und der radikal-islamischen ägyptischen Gama’a al-Islamiyya gelang, in den beiden wichtigsten Schaltstellen der Weltwirtschaft – London (1992, 1993 und 1996) und Manhattan (1993) – Schäden in Milliardenhöhe zu verursachen und eine Neuordnung des globalen Rückversicherungswesens zu erzwingen.
Im neuen Jahrtausend, 87 Jahre nach dem ersten Massaker an der Wall Street, sind Autobomben fast so elementar und so global wie iPods und Aids. Sie sind die Allzweckwaffe des urbanen Terrorismus. Sie übersäen die Straßen von Bogota bis Bali mit Kratern. Attentate mit Autobomben haben ihren Weg nach Sri Lanka, Tschetschenien und Russland, in die Türkei, nach Ägypten, Kuwait und Indonesien gefunden. Die Lektionen all dieser Vorgänger hat Osama bin Ladens Al-Qaida gut gelernt: mit Selbstmordanschlägen wie jenen im Jahr 1993 gegen die US-Botschaften in Nairobi und Dar-es-Salaam (mehrere hundert Tote), dem Anschlag im Oktober 2002 auf einen Nachtclub auf Bali (202 Tote) oder dem im Juli 2005 auf Hotels im ägyptischen Sharm El-Sheikh (88 Tote).
Autobomben haben also einen globalen Siegeszug hinter sich, und dafür gibt es eine Anzahl von Gründen.
1. Autobomben sind Tarnkappenwaffen von überraschender Wucht und zerstörerischer Effizienz. Lastwagen, Transporter oder sogar Geländewagen können problemlos das Äquivalent von mehreren konventionellen 1000-Pfund-Bomben in der Nähe eines hochrangigen Zieles deponieren. Dank der ständigen Veränderungen durch einfallsreiche Tüftler verstärkt sich ihre zerstörerische Kraft stetig. Und der volle Schrecken droht uns erst noch: explodierende Sattelschlepper mit einer tödlichen Sprengweite von mehr als 200 Metern oder schmutzige Bomben, die in genug Atommüll eingebettet sind, um das Zentrum Manhattans über Generationen hinweg nuklear zu verseuchen.
2. Autobomben sind außergewöhnlich billig: Es bedarf lediglich eines gestohlenen Autos, dazu vielleicht Düngemittel im Wert von 400 Dollar und einige nachgebaute Elektronikteile, um 40 oder 50 Menschen zu ermorden. Ramzi Yousef, der führende Kopf hinter dem Anschlag auf das World Trade Center im Jahr 1993, prahlte, seine höchsten Auslagen habe er für Ferngespräche gehabt. Der Sprengstoff selbst, ei-ne halbe Tonne Harnstoff, kostete 3615 Dollar, dazu 59 Dollar Tagesmiete für ei-nen drei Meter langen Umzugswagen. Zum Vergleich: Die Marschflugkörper, die klassische Reaktion Amerikas auf Terro-ristenattentate im Ausland, kosten pro Stück 800000 Euro.
3. Anschläge mit Autobomben sind einfach zu planen und zu organisieren. Der Bombenanschlag in Oklahoma City am 19. April 1995 ging nicht auf das Konto des Irak oder irgendeiner islamistischen Gruppierung, sondern auf das zweier fanatisierter amerikanischer Golfkriegsveteranen, zweier Laien, die sich ihr Wissen angelesen hatten. Er kostete 168 Menschen im Alfred P. Murrah Federal Gebäude das Leben und die Experten bestaunten fassungslos das Ausmaß der Zerstörung: Die Explosion beschädigte 312 Gebäude und ließ in bis zu zwei Meilen Entfernung Glas splittern. Weit entfernte Seismografen verzeichne-ten die Detonation als ein 6,0-Erdbeben auf der Richterskala.
4. Autobomben funktionieren von ihrer Natur her willkürlich: »Kollateralschäden« sind praktisch unvermeidlich. Wenn die Logik hinter einem Anschlag die ist, Unschuldige zu ermorden und Panik zu verbreiten, sind Autobomben ideal. Zahllose Anschläge der IRA, der ETA und der Terroristen im Irak folgen diesem Prinzip. Die Anschläge vom 11. September waren, wenn man so will, nur der unvermeidliche nächste Schritt vom Selbstmordattentäter im Lastwagen hin zu Verkehrsflugzeugen.
5. Autobomben sind höchst anonym und lassen wenige verwertbare Spuren zurück. Buda kehrte still und heimlich nach Italien zurück und überließ es dem Vorläufer des FBI und seinen Direktoren William Burns und J. Edgar Hoover, sich lächerlich zu machen, als sie ein Jahrzehnt lang eine falsche Fährte nach der anderen verfolgten.
Es war die Hisbollah, jene in Beirut Mitte 1982 aus einem Bündnis der islamischen Amal-Bewegung mit anderen Pro-Khomeini-Grüppchen entstandene Terrorgruppe, die nochmals eine neue, eine noch teuflischere Dimension in den Autobombenterror einführte: Sie verschmolz die ANFO-Autobombe der IRA und das Kamikaze-Prinzip. Das Ergebnis waren die Selbstmordattentäter, die mit Sprengstoff bepackte Lastwagen erst in die Eingangshallen der Botschaften und Kasernen in Beirut steuerten, später auch in israelische Kontrollpunkte und Patrouillen im Südlibanon.
Nie zuvor in der Geschichte war eine einzelne Stadt Schauplatz für ein solches Ausmaß sich bekämpfender Ideologien, regionaler Fehden oder ausländischer Verschwörungen und Einmischungen wie Beirut in den frühen Achtzigern. Nachdem sich dort so viele Menschen derart stark ins Zeug legten, um einander aus den verschiedensten Gründen umzubringen, wurde Beirut für die technische Entwicklung von urbaner Gewalt das, was der tropische Regenwald für die Evolution der Pflanzen ist.
Als die multinationalen Streitkräfte, die angeblich in Beirut waren, um den sicheren Abzug der PLO aus der Stadt zu überwachen, erst inoffizielle, dann offizielle Verbündete der Regierung der Maroniten in ihrem Bürgerkrieg gegen die muslimische Drusen-Mehrheit wurden, rückten die Vereinigten Staaten und Frankreich zu Zielscheiben der Hisbollah und ihrer syrischen und iranischen Förderer auf. Der erste Vergeltungsschlag gegen Reagans Politik geschah am 18. April 1983, als ein Kleinlaster mit 2000 Pfund ANFO-Sprengstoff an Bord plötzlich aus dem fahrenden Verkehr ausscherte und Kurs auf die Auffahrt der US-Botschaft an der Küste Beiruts nahm.
Der Lastwagen rauschte an den entgeisterten Wachposten vorbei und rammte die Tür der Eingangshalle. »Sogar für Beirut«, schreibt der ehemalige CIA-Agent Robert Baer, »war es eine gewaltige Explosion, die überall im Umkreis Fenster zersplittern ließ. Die USS Guadalcanal, die fünf Meilen von der Küste ankerte, schwankte durch die Wucht der Erschütterung. Am Explosionsort hob sich der Kern des siebenstöckigen Botschaftsgebäudes mehrere Meter in die Höhe, blieb scheinbar eine Ewigkeit in der Luft stehen und fiel dann in einer Wolke aus Staub, Menschen, zersplitterten Möbeln und Papier in sich zusammen.«
Vielleicht war es hervorragende Spionagearbeit, vielleicht nur reines »Glück« – der Bombenanschlag fiel jedenfalls mit dem Besuch von Robert Ames, dem Nachrichtendienstoffizier der CIA für den Nahen Osten, zusammen. Bei der Explosion kamen er (»seine Hand trieb eine Meile von der Küste entfernt im Meer, der Ehering befand sich noch immer an seinem Finger«, schreibt Bear) und alle sechs CIA-Angehörigen der Station Beirut ums Leben. »Nie zuvor hatte die CIA so viele Offiziere bei einem einzelnen Angriff verloren.«
Weitere Anschläge mit Hunderten von Toten folgten, schließlich begannen sich die multinationalen Streitkräfte im Februar 1984 aus dem Libanon zurückzuziehen. Es war Reagans erstaunlichste außenpolitische Niederlage. Wie es Bob Woodward, der Reporter der Washington Post, recht grob ausdrückte: »Im Grunde zogen wir den Schwanz ein und ließen den Libanon im Stich.« Die amerikanische Präsenz im Libanon, fügte Thomas Friedman von der New York Times hinzu, wurde durch »lumpige 12000 Pfund Dynamit und einen gestohlenen Lastwagen« beendet.
Und heute? Wieder scheinen die USA einen Krieg gegen die Autobombe zu verlieren – die Rede ist natürlich vom Irak, wo, wie jeder aus der täglichen Nachrichten-lektüre weiß, ein wahres Inferno mit Zehntausenden von zivilen Todesopfern durch Tausende von Autobomben zu beklagen ist. Einige der Sprengsätze der letzten Jahre waren gigantisch, wie die Bombe in dem gestohlenen Tanklaster, die Mussayib verwüstete. Doch das Außerordentlichste ist die schiere Häufigkeit: In einem Zeitraum von 48 Stunden explodierten bei Selbstmordanschlägen im Juli 2005 mindestens 15 Autobomben in und um Bagdad.
Inzwischen hat nicht nur die Zahl der Anschläge durch Autobomben dramatisch zugenommen. Alarmierenderweise sind seit diesem Jahr auch neue Bombentypen zu beobachten: Explodierende Tanklaster, die mit Chlorgas gefüllt sind – das ist die neueste Bedrohung. Sie töten auch durch giftige Dämpfe: ein erster Schritt zur schmutzigen rollenden Chemiebombe. Schon aus rein egoistischen Gründen sollten wir hoffen, dass Bagdad keine Metapher für unser aller Zukunft ist.