»Man muss seine Abgründe kennen«

Der französische Schauspieler Vincent Cassel gilt als ein Mann, den auch Männer ganz schön männlich finden. Dabei legt er selbst viel Wert auf seine feminine Seite. (Andererseits - könnte das vielleicht das Geheimnis seiner Wirkung sein?)

SZ-Magazin: Glauben Sie, dass die Franzosen eine Schwäche für markante Nasen haben?
Vincent Cassel:
Warum fragen Sie das?

Weil es so scheint, als würde man es in Frankreich mit einer großen Nase weit bringen. Denken Sie an Jean-Paul Belmondo und Gérard Depardieu.
Deren Nasen sind ganz anders als meine. Meine Nase ist ja eher schief. Sie ist auch nicht von Natur aus so gewesen. Ich habe sie mir mehrmals gebrochen.

Mehrmals gleich. Wie ist das passiert?
Ein Fahrradunfall, eine Prügelei. Einmal bin während der Dreharbeiten blöd gefallen, ein anderes Mal habe ich Austern gegessen, wurde ohnmächtig, bin auf die Nase gefallen, wieder gebrochen.

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So ein Pech. Was macht man gegen eine gebrochene Nase?
Nichts. Den Schmerz aushalten.

Tut es sehr weh?
Eigentlich nicht. Es fühlt sich an, als wäre man von einer Sekunde auf die nächste stark erkältet.

Warum prügeln sich Männer eigentlich?
Weil es manchmal ihre einzige Möglichkeit ist, sich auszudrücken.

Und warum sitzen Männer allein an einer Bar und trinken Whiskey?
Weil Frauen in der Nähe sind. Wenn keine Frau da ist, sitzt kein Mann an der Bar.

Kommen Sie, es gibt so viele Bars, in denen nur Männer sind.
Männer unter sich fühlen sich natürlich sicherer und freier als unter Frauen. Ist doch bei Frauen genauso. Die trinken dann vielleicht keinen Whiskey, sondern Tee. Und spielen Bridge.

Ja, genau. So sind die Frauen.
Sagen wir, Männer und Frauen sind sehr unterschiedlich und haben große Schwierigkeiten, einander zu verstehen. Ich glaube, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter eine Utopie ist.

Aha.
Mir hat mal ein Freund etwas sehr Interessantes zum Unterschied zwischen Männern und Frauen gesagt: »Frauen vergessen nicht, aber vergeben. Männer vergeben nicht, aber vergessen.« Männer sind wie große Hunde.

Sie gelten als Mann, den sogar Männer beeindruckend männlich finden.
Weil ich Gangster spiele? Und Gangster so maskulin sind? Ist das nicht etwas einfach gedacht? Ich meine, klar habe ich eine maskuline Seite. Hoffe ich zumindest. Aber ich habe auch eine feminine.

Wie äußert sich diese Seite?
In meinem Geschmack. An meiner Art bestimmte Situationen zu lösen. An meiner Sicht der Dinge.

Können Sie Ihren Geschmack beschreiben?
Ich finde ihn einigermaßen raffiniert. Gerade was Kleidung betrifft. Und Einrichtung. Ich lege sehr viel Wert auf Ästhetik.

Wie gut verstehen Sie sich mit Frauen?
Ich hatte nicht viele Frauengeschichten in meinem Leben. Sehr wenige sogar. Ich habe die letzten 18 Jahre mit derselben Frau verbracht und zwei Kinder mit ihr. Jetzt ist sie meine Ex-Frau, und wir werden für den Rest unseres Lebens miteinander zu tun haben. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

Die Männer, die Sie spielen, sind aggressiv, wütend, aufbrausend. Sie hingegen wirken jetzt sanft, fast milde.

Die Wut ist ein Teil von mir und ich benutze sie in meiner Arbeit. Aber ich verzichte darauf, sie an anderen Menschen auszulassen.

Ihre Filmpartnerin in Die Schöne und das Biest, Léa Seydoux, hat gesagt, Sie würden sie einschüchtern.
Das kann sie nur am Anfang gesagt haben. Ich habe mich so zum Clown gemacht, dass sie das unmöglich immer noch finden kann. Das ist meine Art, mich zu konzentrieren: Ich bringe die anderen zum Lachen.

Sind Sie ein guter Teamplayer?
Ich stehe jedenfalls nicht in Konkurrenz zu meinen Kollegen. Ich spiele mit ihnen, nicht gegen sie. Ich glaube, man muss es gut miteinander haben, damit etwas Gutes dabei rauskommt.

In Ihrer Kindheit waren Sie nicht so verträglich. Was haben Sie angestellt, dass Sie von so vielen Schulen geflogen sind?

Es waren alles Internate. Wenn ich in irgendeiner Weise traumatisiert bin, dann liegt das an den Jahren in den Internaten. Die haben mich fertiggemacht. Meine Eltern haben mich viel zu früh von zu Hause weggeschickt. Ich bin der Ansicht, dass es die allererste Pflicht von Eltern ist, sich um ihre Kinder zu kümmern. Wenn man sich um seine Kinder kümmert, hat man seine Pflicht der Gesellschaft gegenüber erfüllt.

Nach den Internaten waren Sie auf einer Zirkusschule. Lernt man da Zaubern und Seiltanzen und so?
Genau. Dinge, die man im Zirkus vorführt: Akrobatik, Jonglieren, klassischer Tanz – das sind die Pflichtfächer im ersten Jahr. Wir haben natürlich auch normale Schulfächer gehabt, die Zirkusfächer kamen hinzu. Im zweiten Jahr konnte man Seiltanz, Voltigieren, Trapez, die Clownkunst erlernen. Aber ich wollte nie Zirkuskünstler werden. Ich wollte lernen, mich zu bewegen. Wenn man auf einer Zirkusschule war, kann man mit einem Stuhl tanzen oder Kung Fu kämpfen. Viele Schauspieler meiner Generation haben nicht gelernt, sich zu bewegen. Sie laufen alle gleich. Man muss seine eigene Art haben, zu laufen. Seine Laufpersönlichkeit.

Sie haben jahrelang getanzt, auch Ballett. Eher ungewöhnlich, nicht?
Aber es gibt einem so viel mit. Ich war kein großer Akrobat, konnte nicht besonders gut jonglieren, aber im Tanzen war ich ehrgeizig. Ich habe mich früh fürs Kino und das Theater interessiert, und dafür kann man Ballett brauchen.

Hat das Ballett Sie leidensfähig gemacht?
Man leidet im Ballett, das ist unumgänglich. Und ich finde das gut. Man gewöhnt sich ab zu sagen: Ich kann das nicht. Man denkt es nicht einmal mehr. Es gibt so viel im Ballett, das man erst nicht kann und dann doch, weil man sich durchkämpft. Wobei ich nicht alles geschafft habe. Ich habe gelernt, wie ich so tue, als könnte ich alles.

Wie geht das?
Ich zeige etwas nicht so Anspruchsvolles, das aber so gut, dass alle denken, ich kann viel mehr.

Sie haben mal gesagt, ein Schauspieler müsse nicht nur seinen Körper beherrschen, sondern auch seine Seele. Was meinen Sie damit?
Man muss seine Schwächen und Abgründe kennen. Und manchmal muss man sie auch zeigen, wenn man spielt. Natürlich weiß niemand, wann man wahrhaftig ist und wann nicht. Aber man muss sich preisgeben können. Das meine ich damit.

Immer wieder erlebt man Schauspieler, die erst mit 40 oder 50 berühmt werden. Hätten Sie so lange durchgehalten?

Ich glaube nicht. Ich habe viel Mist gemacht: Straßentheater, Werbung, Fernsehen, alles uninteressant. Dann, mit 27, hatte ich plötzlich drei Filme: Seitensprung für Anfänger, Lügen der Liebe und vor allem Hass von Mathieu Kassovitz. Drei Hauptrollen, dann bin ich die Ferien gefahren. Ich dachte, jetzt sieht die Welt dich in drei Rollen. Wenn die Leute dich nicht mögen, hörst du auf. Die Leute haben mich gemocht.

Vincent Cassel,
47, wurde mit den Filmen Hass und Die purpurnen Flüsse von Mathieu Kassovitz bekannt, weitere Erfolge waren Public Enemy No. 1 und Black Swan. Nun spielt er neben Léa Seydoux in Die Schöne und das Biest ein Ungeheuer - eine ungewöhnliche Rollenwahl für ihn.
(Foto: getty)