Jede Woche sendet BBC Radio 4 eine Dreiviertelstunde Gardeners’ Question Time: Amateur-Gärtner stellen Profi-Gärtnern vor Publikum Gärtner-Fragen. Die Sendung gibt es seit 1947. In den Kategorien Leidenschaft, spezialistische Verästelung und Geheimsprache wird sie nicht einmal vom Seewetterbericht übertroffen. Derzeit läuft sie jeden Sonntagnachmittag, was insofern angemessen erscheint, als sie eine Art pantheistischer Gottesdienst ist. Schade nur, dass so viele Briten aus der Zielgruppe sie sommers um diese Zeit nicht hören können: Sie sind unterwegs, draußen, auf Gartenfestivals, Landwirtschaftsschauen und Gemüsewettbewerben.
Nur in England finden sie auf derart erhebende Weise zusammen: die Liebe zur Landwirtschafts- und Gartenschau, die Neigung zu mildem Exhibitionismus und eine Form der Exzentrik, die nach kontinentalen Maßstäben als solider Irrsinn gelten muss. Die Liebe zur Landwirtschaftsschau ist dabei die größere Schwester der Liebe zum Gärtnern. Sechzig Prozent der Briten gaben in einer Umfrage aus dem Jahr 2010 an, in den vergangenen vier Wochen gegärtnert zu haben. Der Rest hatte vermutlich gerade keine Lust darauf, befragt zu werden. Oder zuletzt vor viereinhalb Wochen gegärtnert.
Die Engländer würden sich selbst als gelassene, oft kühle Menschen des Nordens bezeichnen. Als zutiefst pragmatische und vollkommen normale Bewohner einer alles in allem recht hübschen Insel. Doch es gibt, das lässt sich ohne Übertreibung sagen, wohl keinen gelassenen, oft kühlen, zutiefst pragmatischen und vollkommen normalen Engländer, der nicht zugleich als bekloppt oder immerhin sonderlich beschrieben werden muss. Das macht die Bewohner dieser Insel zu einem der zivilisiertesten und liebenswertesten Völker des Erdballs.
Der Übersichtlichkeit wegen soll hier nicht von den übrigen Bewohnern des Königreichs die Rede sein, von Walisern, Schotten und Nordiren. Es ist ja schon eine beinahe fahrlässige Verallgemeinerung, von »den Engländern« zu sprechen. Wer die Insel bereist, muss alle paar Meilen glauben, ein neues Land betreten zu haben, was schon allein an der Vielfalt der teils herrlich unverständlichen Akzente liegt. Wer die Insel bereist, begegnet der rauen Herzlichkeit des Nordens, der brummigen Freundlichkeit der Midlands und der amüsierten Herablassung des Südostens.
Was jedoch allen eingeborenen Bewohnern der Insel gemein ist, ob sie an der schottischen Grenze großgeworden sind oder im Londoner East End, ist diese schwer zu fassende, kaum zu beschreibende, aber stets vorhandene »Englishness«. In einem ungenügenden Versuch ließe sich diese als einzigartige Mischung aus Stolz und Stoizismus, Wahnsinn und Verbindlichkeit umreißen, zu der sich bisweilen eine eigenwillige Kombination aus Verklemmtheit und Schamlosigkeit gesellt. Irgendwo dazwischen hat sich die Liebe zu einer besonderen Form des Gärtnerns angesiedelt. Der Autor Harry Mount schreibt in seinem scharfsinnigen und außerordentlich wunderbaren Buch How England made the English: »Eine Ader der Wärme und Wildheit der südlichen Völker läuft durch unsere Gärten.« Mag sein, dass in englischen Gärten das höfliche Niederringen der Natur als bestimmende, als gestaltende Kraft wirkt. Und doch sind es Wärme und Wildheit, die die unzähligen Gartenfestivals und Gemüsewettbewerbe bestimmen.
Es wäre grundfalsch zu behaupten, dass all das eine Insel des pastoralen Idylls ergäbe. England ist ein Land, in dem in mit Spielhallen und Kettenschnellrestaurants verschandelten Seebädern höchstens 16 Jahre alte Mütter in handbreiten Röcken rauchend an der Strandpromenade herumlungern und ihre weinenden Babys anschreien: »Fuck you! Shut up!« Aber es ist ebenso ein Land, in dem auf ländlichen Zusammenkünften ältere Herren in Knickerbockern auf vollendet lächerliche und doch würdevolle Weise öffentlich durchs Gras robben. Es ist das Land, in dem ein wütender Mob aus Zorn über soziale Ungerechtigkeit und latenten Rassismus mal eben ein paar Londoner Stadtviertel in Flammen setzt und die Obrigkeit spüren lässt, wie dünn der Firnis der Ordnung in Wahrheit ist. Und zugleich das Land, in dem sich bis heute Menschen dafür entschuldigen, dass sie angerempelt wurden.
Dass England noch immer eine Klassengesellschaft ist, lässt sich vielleicht am besten während der wenigen Monate beobachten, in denen auf einen milden Frühling mit gelegentlichem Niesel ein moderater Sommer mit gelegentlichem Niesel folgt. Jedes Jahr zwischen April und August begibt sich die englische Elite – zu der neben der alten Upperclass längst auch der Geldadel des Finanzplatzes in der Londoner City gehört – auf Sommertour. Zur »Englischen Saison« gehören verschiedene kulturelle und sportliche Veranstaltungen, darunter mehrere Pferderennen (u. a. Royal Ascot, Epsom Derby), die königliche Ruderregatta in Henley und das Opernfestival in Glyndebourne. Bei jeder dieser Veranstaltungen gilt ein strenger Dresscode. Das gemeine Volk wird, wenn überhaupt, am Rande des gesellschaftlichen Geschehens geduldet.
Im Schatten dieser elitären findet die wahre Englische Saison statt. Sie besteht aus eben jenen Leistungsschauen, bei denen Hobbygärtner mit Kürbissen, groß wie pazifische Atolle, und langmähnigen Lauchstangen gegeneinander antreten. Sie besteht aus Picknicks, Straßenfesten, Haustierschauen, aus Gurkensandwiches und Gummistiefeln, und sie findet unbedingt im Freien statt, bei jedem Wetter.
Der Autor Harry Mount schreibt: »Die Engländer sind nicht gut in makelloser, idealisierter Schönheit – ganz gleich, ob es um ihre Kleidung geht, ihre Kunst oder ihre Zähne. Ihre Sache ist vielmehr die Schönheit, die sich unaufgefordert aus offensichtlicher Vernachlässigung ergibt.« Besser lässt sich die Bodenständigkeit der Englischen Saison kaum beschreiben. Wer sie betrachtet, der blickt ins Innerste einer leidenschaftlichen, schönen Seele.