In einem kleinen Buchladen in Alnwick, Northumberland, nördlich von London, wurde vor gut zehn Jahren ein Poster entdeckt, das aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges stammt. In schönen kompakten Versalien, gekrönt von der Krone König Georgs VI., steht darauf eine simple Botschaft an die britische Bevölkerung: »KEEP CALM AND CARRY ON«.
Der Satz stammt nicht, wie gern behauptet wird, von Winston Churchill und wurde seinerzeit auch niemals öffentlich plakatiert. Das Plakat wurde von der Regierung lediglich für den Fall vorgehalten, dass die Deutschen tatsächlich die Inseln entern würden. Nach seiner Wiederentdeckung erlebte das Motiv einen wundersamen Boom, wurde weltweit reproduziert, kopiert und adaptiert. Es trifft einen Nerv in einem gesellschaftlichen Klima aus Hyperaktivität, Ungeduld und Ennui. Wir würden so gern endlich einmal zur Ruhe kommen, aber irgendetwas hält uns davon ab. Was ist es, das uns umtreibt?
Die menschliche Neigung, in unübersichtlichen Situationen aktionistisch zu handeln, auch wenn das Handeln unabsehbare und am Ende negative Konsequenzen hat, hört auf den wissenschaftlichen Namen »Action Bias«. Das Wort bias – die Älteren kennen es noch vom Kassetten-Deck der Stereoanlage, wo es die Vormagnetisierung des Magnetbands bedeutete – meint die systematischen Fehleinschätzungen und typischen Abweichungen vom rationalen Handlungskalkül.
Man könnte den gesellschaftlichen Action Bias leicht für einen Kollateralschaden der hektischen Neuzeit halten, eine Art kulturelles oder zivilisatorisches ADHS. In der Antike genoss bekanntlich Muße ein viel höheres Ansehen als Ausweis gehobener Bürgerlichkeit und finanzieller Autonomie. Erst die »protestantische Ethik« brandmarkte Müßiggang als Faulheit und verlangte, dass ein jeder sich Gott zum Gefallen abstrampelte. Als »Neoprotestantismus« beschreibt der Soziologe Wolfgang Streeck in seinem jüngsten Buch Gekaufte Zeit den heutigen Zeitgeist, dessen Anhänger dem »humankapitalistischen Selbstverwertungsfanatismus« frönten und stolz seien auf ihr »minutiös durchgetaktetes Leben«. Demnach wäre die allgemeine Überbetriebsamkeit eine Zivilisationskrankheit jüngeren Datums.
Tatsächlich aber ist die Disposition hinter dem Action Bias viel älter, wenn sie uns nicht gar in den Genen liegt. Die evolutionsbiologische Herleitung wählt jedenfalls Rolf Dobelli in seinem Brevier Die Kunst des klaren Denkens: »In einer Jäger-und-Sammler-Umgebung, für die wir optimiert sind, zahlt sich Aktivität viel stärker aus als Nachdenken. Blitzschnelles Reagieren war in der Vergangenheit überlebenswichtig. Nachdenken konnte tödlich sein.«
Schon Mediziner der Antike kannten das Prinzip ut aliquid fiat – und verordneten sehenden Auges sinnlose Therapien und wirkungslose Medizin, »damit etwas getan wird«. Bis heute basieren große Teile des aufgeblähten Gesundheitssystems auf diesem Prinzip. Am endemischsten jedoch ist der Action Bias in der Wirtschaft: Schnell zu handeln, irgendetwas anzuzetteln, um bloß nicht stillzustehen, gebietet die institutionelle Logik. Wo wir hinsehen, können wir dem Action Bias bei der Arbeit zuschauen. Besser gesagt: Ein erheblicher Anteil der täglich geleisteten Arbeitsstunden
besteht aus schlecht begründeter, opportunistischer oder schlicht simulierter Aktivität.
Der britische Historiker und Soziologe Cyril Northcote Parkinson hat bereits Mitte des letzten Jahrhunderts amüsiert beobachtet, dass Büro-kratien mit zunehmender Größe dazu tendieren, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie wachsen, ohne dass die zu bewältigenden Aufgaben mitwachsen würden. Danach formulierte er das Parkinson’sche Gesetz, das in Reinform lautet: »Jede Arbeit dehnt sich so lange aus, bis sie die dafür vorgesehene Zeit vollständig ausfüllt.«
Es gibt tausend Gründe und Motive, Arbeit aus dem Nichts zu erschaffen: Budgetposten müssen verteidigt, Vorgesetzte oder Aktionäre wollen besänftigt, Planlosigkeit soll bemäntelt werden. Gegenüber der eigentlich zu erledigenden Arbeit besitzen diese Bullshit- und Placebo-Aktivitäten meist kurzfristig höhere Priorität – »Prio eins«! Die produktive Arbeit hat Mühe, sich gegen ihren missratenen Zwilling zu behaupten.
Kurt von Hammerstein-Equord, ein deutscher Heeresoffizier des Ersten Weltkrieges, der im Zweiten Weltkrieg aufgrund seiner skeptischen Einstellung von Hitler persönlich kaltgestellt wurde, teilte seine Offiziere gedanklich in vier Lager ein: Die Dummen und Faulen, die in jeder Armee neunzig Prozent ausmachten, seien für Routineaufgaben geeignet. Die Klugen und Fleißigen müssten in den Generalstab. Die Klugen und Faulen aber seien prädestiniert für die höchsten Führungsaufgaben, denn nur sie brächten »die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen« mit. Hüten müsse man sich hingegen vor den Dummen und Fleißigen. Denen dürfe man keine Verantwortung übertragen, denn sie würden »immer nur Unheil anrichten«. Eigentlich böte dieses Raster auch heute noch gute Orientierung bei der Rekrutierung von Eliten.
Allein, die Realität in den Unternehmen sieht anders aus. Hier kommen diejenigen nach oben, denen der Hyperaktionismus nur so aus den Poren trieft. Im oberen Management, unter den sogenannten Top-Entscheidern, gilt ungebrochen das Ideal des dezisionistischen Machers (also eines Menschen, dem wichtiger ist, dass entschieden wird, als wie entschieden wird), der die in jeder Organisation waltenden Beharrungskräfte durchbricht. Selbst ins mittlere Management, aufgrund seiner inhärenten Trägheit lange Zeit als »Lehmschicht« apostrophiert, ist die Botschaft von der Notwendigkeit der andauernden Neuerfindung inzwischen eingesickert. In Carmen Losmanns verdienstvollem Dokumentarfilm Work Hard, Play Hard, der den Kulturwandel – vielmehr: die Change-Kultur – der heutigen Angestelltenwelt zum Thema hat, begegnet uns eine subalterne Managerin der Deutschen Post AG mit dynamisch-asymmetrischer Kurzhaarfrisur, die als ihre Mission angibt, den »kulturellen Wandel nachhaltig in die DNA jedes einzelnen Mitarbeiters zu verpflanzen«. In einem Workshop ausgewiesener »Change-Agenten« des Konzerns spekuliert sie darüber, ob es womöglich erst eine »Burning Platform« braucht, um die mentalen Voraussetzungen für ihr Unterfangen zu schaffen.
»Alles bleibt, wie es ist«.
Solche Sätze, so hirngewaschen sie auf der Kinoleinwand erscheinen, fallen täglich hundertfach in Konferenzräumen der deutschen Wirtschaft. Niemals wird man hingegen in einem Entscheider-Meeting den Satz hören: »Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Es gibt zu viele Unwägbarkeiten. Deshalb warten wir lieber mal ab.« Die Reporting-Strukturen verlangen von jeder und jedem Einzelnen andauernde
Rechenschaft darüber, dass etwas unternommen wird und nicht etwa nichts.
Und weil in einer Angst-getriebenen Kultur keiner allein verantwortlich sein mag, sucht man Rat bei Change-Beratern, Trend- und Zukunftsexperten. Sie sind die Schrittmacher und Stichwortgeber aktionistischer Management-Entscheidungen. Wer ihnen opportunistisch folgt, kann sich hinterher zumindest darauf berufen, nicht träge, nur schlecht beraten gewesen zu sein. Aber wie gut sind die Zukunftsprognosen anerkannter Experten?
Philip Tetlock, ein kalifornischer Psychologieprofessor, wollte es genau wissen. Mitte der Achtzigerjahre startete er sein Langzeitexperiment und identifizierte 284 anerkannte Experten auf den Feldern Politik und Wirtschaft, die er unter Zusicherung von Anonymität um eindeutig falsifizierbare Zukunftsprognosen bat. Die Antworten glich er dann mit den realen Entwicklungen ab und sammelte auf diese Weise knapp 28 000 Daten-Einträge an belastbarer Empirie ein.
Die Ergebnisse, veröffentlicht 2005 im Buch Expert Political Judgement, sind ein Schlag ins Kontor der Experten-Zunft. Im Großen und Ganzen war die Güte der Prognosen nicht besser als der nackte Zufall. Sie wären »von einem Dartpfeile werfenden Schimpansen geschlagen worden«, schreibt Tetlock. Die Qualität variierte je nachdem, ob Experten einen breiteren Fokus und größere Demut vor zukünftigen Unwägbarkeiten aufwiesen oder an »Overconfidence« litten, an übertriebenem Selbstvertrauen und Überschätzung des eigenen Spezialthemas.
Der eigentlich überraschende Befund jedoch: Beide Lager verlieren gegen die konservative Null-Hypothese (»no change rule«). Im Klartext: Jemand, der immer und überall prognostiziert: »Alles bleibt, wie es ist«, hätte in Tetlocks Experiment eine höhere Trefferquote gehabt als das Gros der Experten. Bei allen, deren Geschäftsmodell darin besteht oder davon abhängt, Wetten auf die Zukunft einzugehen, müsste dieses Ergebnis eine heilsame Skepsis auslösen: gegen den allseits im hohen Ton des Alarmismus verkündeten »disruptiven Wandel«.
Die simple Wahrheit hinter diesem Zukunfts-Bias: Menschen mögen keinen Wandel. Sie tolerieren ihn nur dann, wenn eine klar erkennbare Verbesserung ihrer Lebensumstände damit einhergeht. Anders als Change-Manager und Berater ziehen sie keinen Nutzen aus der Veränderung um ihrer selbst willen, der Innovation als Selbstzweck. Als die britische Radiostation BBC 4 im Jahr 2005 ihre Hörer befragte, welches die beste Erfindung seit 1800 sei, gewann mit absoluter Mehrheit von 59 Prozent: das Fahrrad. Das Internet landete mit vier Prozent der Stimmen abgeschlagen auf Platz sieben.
Was also tun gegen den Action Bias in Geschäft und Alltag? Als Antidot gegen die »Neomanie«, die naive Begeisterung für das Neue, bietet Nassim Nicholas Taleb, derzeitiger Star unter den Management-Einflüsterern und Erfinder der »Schwarzen Schwäne«, in seinem aktuellen Opus magnum »Antifragilität« eine einfache Faustformel an: Technologien, die es schon seit über fünfzig Jahren gibt, werden auch in fünfzig Jahren noch Bestand haben. Bei jüngeren Technologien sollten wir davon ausgehen, dass das meiste vom »Bullshit-Filter der Geschichte« ausgesiebt wird. Die Zukunft in fünfzig Jahren dürfte demnach viel mehr Ähnlichkeit mit der Gegenwart haben, als wir gemeinhin annehmen.
Schützenhilfe für die Stein-Strategie des aktiven Abwartens und Füße-Stillhaltens kommt zudem aus unerwarteter Richtung: Frank Partnoy war Wall-Street-Anwalt und berät Firmen, die ihr Geschäft mit High-Frequency-Trading machen, also mit Wertpapierhandel im Millisekundenbereich. Sein unorthodoxes Buch Wait. The Art and Science of Delay zeigt, wo überall Warten über Schnelligkeit triumphiert: von Tennis-Profis, die einen Wimpernschlag länger zögern, bevor sie sich für eine Ecke entscheiden, über Comedians, die das Publikum in Rage bringen, indem sie die Pointen hinauszögern, bis zu Medizinern, die eine bessere Diagnose stellen, indem sie gegen die eigenen Bias ankämpfen und ihr abschließendes Urteil über den Patienten möglichst lange offenhalten. Die Gabe, vor wichtigen Entscheidungen innezuhalten, scheidet gute Strategen von Trend-Opportunisten.
Partnoys Kernbotschaft lautet deshalb: »Die besten Profis verstehen, wie viel Zeit sie zur Verfügung haben, um eine Entscheidung zu fällen, unter Maßgabe dieses Zeitfensters warten sie dann, so lange sie irgend können.« So wie die Anleger-Legende Warren Buffett, den Partnoy als leuchtendes Beispiel für die Kunst des Lauerns, des Wartens, des langen Atems anführt. Seine Investmentstrategie beschrieb Buffett einmal als »Lethargie an der Grenze zum Faultierhaften«. Angela Merkel hat das längst begriffen und in Regierungspolitik umgemünzt. Auch wir könnten uns eine Scheibe davon abschneiden. Die größte Baustelle, um den Action Bias an den Wurzeln zu bekämpfen, ist und bleibt die Arbeitswelt: Es gibt viel zu tun – lassen wir es bleiben!
»Relax! You’ll Be More Productive« war im Februar 2013 ein Beitrag in der New York Times überschrieben, der den aktuellen Forschungsstand zum Thema Produktivität referiert: »Paradoxerweise könnte der beste Weg, mehr erledigt zu bekommen, sein, weniger zu tun.« Ein wachsender Korpus interdisziplinärer Studien belege, dass, wer mehr Zeit mit rekreativen Tätigkeiten außerhalb des Büros verbringt, nicht nur gesünder lebt, sondern in absoluten Zahlen produktiver ist. Vielleicht begreifen unsere Arbeitgeber ja irgendwann, dass viel nicht viel hilft und weniger oft mehr ist – wenn schon die Gewerkschaften das Thema Arbeitszeitverkürzung aus unerfindlichen Gründen drangegeben haben.
Vielleicht muss man aber noch grundsätzlicher ansetzen: Jeder – Politiker, Manager oder Experte – wird einstimmen, dass die einzige Konstante der Wandel ist und das Tempo dieses Wandels ein nie gekanntes Ausmaß erreicht hat. Aber wahrscheinlich trügt – Internet hin, Finanzkrise her – der Eindruck, dass wir in besonders bewegten, dynamischen und aufregenden Zeiten leben. Vermutlich handelt es sich bei dieser kollektiven Wahrnehmung um eine Form der »Gegenwartseitelkeit«, wie es der
Zukunftsforscher Matthias Horx nennt: die Überzeugung, einen exponierten Platz in der Geschichte einzunehmen, an dem die Dinge eskalieren und sich dramatisch zuspitzen.
Selbst die psychosomatischen Reaktionen auf die gefühlte Beschleunigung, Stress und Überforderung der modernen Existenz, sind keineswegs neu. Die Modekrankheit Burn-out mit ihren Symp-tomen Erschöpfung und Überreiztheit war vor exakt einem Jahrhundert ähnlich verbreitet wie heute. Damals nannte man sie »Neurasthenie«, und jeder europäische Großstadtbewohner, der mit der Zeit ging und es sich leisten konnte, litt darunter.
Die Spirale aus Gegenwartseitelkeit und gesellschaftlichem Action Bias zu durchbrechen würde bedeuten, die Gegenwart und die eigene Rolle darin nicht so wichtig zu nehmen. Es würde heißen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, dem tagesaktuellen Bullshit zu entsagen und sine ira et studio, gelassen und zielgerichtet, dem eigenen Tagwerk nachzugehen:
Keep calm and carry on!
Foto: Wayne Levin