Die Seifenblase zerplatzte, als die Maklerin triumphierend die Doppeltür zum Wohnzimmer aufstieß. Bis dahin waren wir ihr mit wachsendem Vertrauen, ja mit klopfendem Herzen gefolgt – ins vierte Arrondissement, in eine stille Gasse hinter der Rue de Rivoli, in ein schmal-brüstiges, leicht vergammeltes Gebäude, in einen winzigen, schmiedeeisernen Lift. Offenkundig war die Frau unserer Traumwohnung auf der Spur. Balken an den Decken, reichlich Himmel, diskrete Einbauschränke, gebrauchsfertige Küche … Nur, was stimmte nicht mit dem Wohnzimmer? Es war geräumig und hatte hohe Fenster, aus denen man obendrein auf eine Pariser Sehenswürdigkeit blicken konnte – das Centre Pompidou.
Die Agentin gab sich keine Mühe, Befremden über unsere langen Gesichter zu simulieren. Sie war solche Reaktionen gewohnt. Ihre Hoffnung, unter den Klienten auf einen unbeirrbaren Liebhaber progressiver Architektur zu stoßen, hatte sich zum x-ten Male nicht erfüllt. Meine eigene Enttäuschung aber wurzelte in der Erinnerung. Hatte ich in jüngeren Jahren dieses Gebäude nicht bewundert oder wenigstens seine viel gerühmte Kühnheit respektiert? Nun aber konnte ich die objektive Erkenntnis nicht länger unterdrücken: Das Centre Pompidou nebst neuerer Umgebung ist eine architektonische und städtebauliche Abscheulichkeit, die vom energischen Herrn Sarkozy möglichst bald in die Luft gesprengt werden sollte. Ist das ein vertretbarer Standpunkt oder nur ein Alterssymptom? Feindseligkeit gegenüber dem Neuen gilt als klassisches Vergreisungsmerkmal. Haben die Jahresringe sich auf meinen Intellekt weniger veredelnd als versteinernd ausgewirkt? Noch ein Exempel: Die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der eine riesige Retrospektive (natürlich im Pompidou) gewidmet war, trieb meinen Blick verzweifelt zu den Notausgängen. Von ein paar netten Spielereien abgesehen – die unendlich trostlosen Hervorbringungen der Zeit, als deren Genosse ich mich betrachten muss, entlockten mir nur griesgrämiges Gemurmel. »Diese geistige Sahara sollte man auf einem Rennkamel überqueren dürfen!«
Beim Überschreiten von Altersgrenzen bin ich in einem wortwörtlichen Sinne zum Reaktionär geworden: Ich reagiere, und zwar allergisch. Als ob ein robustes Kindermädchen mir meinen Geschmack, meine Ansichten und mein Vokabular vorschreiben möchte, stampfe ich auf und zerre an dem eisernen Griff. Die Gouvernante ist allgegenwärtig, doch namenlos: Zeitgeist, Political Correctness oder pensée unique bezeichnen sie nur dürftig, aber die Versuchung, gegen ihre Regeln zu verstoßen, ist unwiderstehlich. Lieber will ich mir den Mund verbrennen, als ihn mir verbieten zu lassen – und schon hüpfen, strafende Blicke herausfordernd, abgeschaffte Wörter von meinen Lippen: Zigeuner, Tschechei, Päderast …
Andererseits ist mein Zähneknirschen nicht zu überhören, wenn das Wörterbuch des Gutmenschen dominiert: Heuschrecken, Drogenkultur, menschenverachtend …
Nur, wann ging das los? Wer mit 16 nicht links sei, habe kein Herz, meinte Churchill; wer es mit sechzig immer noch sei, keinen Verstand. Insofern begann die Vergreisung bei mir relativ früh. Mein argentinischer Landsmann Ché Guevara, für den ich 1968 noch gefühlvoll in die Harfe griff, wurde mir bald suspekt. Die Siebzigerjahre in Asien trieben mir die Anfälligkeit für den Sozialismus aus. Einen leichten Rückfall hatte ich, dank Enrico Berlinguer, Anfang der Achtziger in Italien. Elf Jahre in Washington aber festigten den Hang zu einem gemäßigt radikalen Individualismus der extremen Mitte.
Der kleine Fascho jedoch ist mir erst seit der Rückkehr nach Europa zugewachsen und »verdankt sich« dem deutschen Regietheater. Wenn ein krachlederner Baron Ochs die Hand der Mariandl in seine Hosentür einführt – um nur eine der milderen Entgleisungen zu nennen –, greife ich zur Handgranate.
Hier weitere Fragen über das Alter:
Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 6:
Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?