Gestrandet

Die Krise, die Angst: Manche Griechen sind so verzweifelt, dass sie lieber sterben, als ihre Würde zu verlieren. Sie gehen dafür an den Ort, der ihr ganzes Leben geprägt hat: das Meer.

Seit mehr als zwei Jahren kämpft die griechische Bevölkerung gegen den Bankrott ihres Landes. Die meisten Griechen haben auf große Teile ihrer Löhne und Gehälter verzichtet, haben Massenentlassungen und gleichzeitig eine drastische Erhöhung der Lebensmittel- und der Benzinpreise akzeptiert, gegen die Einführung neuer Steuern protestiert – und sie am Ende doch hingenommen. Alles unter der Voraussetzung, dass ihr Land Mitglied der Eurozone bleiben kann.


Slideshow: In diesem Film spricht die vielfach prämierte Fotografin Eva Leitolf über ihre Arbeit an dieser Foto­strecke. Außer­dem zeigen wir dazu Bilder von Clementine Schneider­manns Arbeit "Kapitel einer Krise", die im Rahmen von Eva Leitolfs Lehr­veran­staltung "Payday. Geld, Märkte, Global­isierung und Wider­stand" ent­standen ist. Diese Arbeit wird ab dem 8. September im Rahmen des Foto­grafie Festivals im CEPV in Vevey zu sehen sein.

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Aber nach den jüngsten Verlautbarungen war ihr Kampf wohl vergeblich. Im Juli ist die Arbeitslosenquote auf knapp 24 Prozent geklettert, in den Schlangen vor den Armenküchen warten täglich Tausende auf eine warme Mahlzeit. Eltern geben ihre Kinder bei SOS-Kinderdörfern ab, weil sie sie nicht mehr ernähren können, mehr als 300 000 Griechen haben allein dieses Jahr ihr Auto abgemeldet, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Nach Angaben der griechischen Arbeitsmarktaufsicht haben bis zu 500 000 der zwei Millionen Festangestellten von privaten Unternehmen seit Monaten keine Löhne mehr bekommen. Im griechischen Fernsehen werden Menschen interviewt, die sich absichtlich mit HIV infiziert haben, um vom Staat wenigstens Sozialhilfe zu bekommen. Denn wer gesund, aber ohne Job ist, erhält unabhängig vom vorherigen Verdienst monatlich etwa 400 Euro – für ein Jahr. Danach gibt es keinen Cent mehr.

Und dennoch: Auf weitere Hilfen aus Europa kann Griechenland nicht mehr hoffen. In einem Interview sagte Bayerns Finanzminister Markus Söder neulich: »An Athen muss ein Exempel statuiert werden, dass diese Eurozone auch Zähne zeigen kann. Schuld an den Problemen in Griechenland sind die Griechen und sonst keiner.« Zurzeit prüft die sogenannte Troika aus IWF, EU und EZB, ob das Land die hohen Auflagen für fällige Kredittranchen erfüllt. Kommt sie zu einem negativen Ergebnis, stellen die Euro-Partner ihre Hilfen ein und Griechenland bleibt keine Wahl: Bankrott, Euro-Austritt, Wiedereinführung der Drachme. Dann droht nach Meinung vieler Experten der totale Zusammenbruch.

Aber abseits all dieser Schlagzeilen verzeichnet Griechenland schon jetzt den höchsten Anstieg der Selbstmordrate in seiner jüngeren Geschichte: Im Jahr 2008 nahmen sich in Griechenland knapp 300 Menschen das Leben. Laut der Weltgesundheitsorganisation hatte Griechenland damals die niedrigste Selbstmordrate in Europa. Doch seit Beginn der Krise hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Schätzungen der Hilfsorganisation Klimaka gehen davon aus, dass sich seit Anfang 2010 weit mehr als 2000 Griechen das Leben genommen haben.

Erst Ende Juni stürzte sich ein 45-jähriger Bankangestellter vom Hügel der Akropolis vor den Augen vieler Touristen hundert Meter in den Tod. Anfang April hatte der Suizid eines 77-jährigen Rentners auf dem Syntagma-Platz vor dem griechischen Parlament eine Welle der Empörung in Griechenland ausgelöst. Der ehemalige Apotheker gab in seinem Abschiedsbrief an, er wolle nicht warten, bis er nach Essbarem im Müll suchen muss, er habe schließlich noch eine Würde, die es zu verteidigen gelte. Der Psychologe Aristidis Violatsis, der für Klimaka arbeitet, sagt: »Das sind zwei bekannt gewordene Fälle von mehr als zwei- oder gar dreitausend Fällen. Inoffiziell gehen wir von einer noch viel höheren Dunkelziffer aus.«

Die hohe Dunkelziffer resultiere daraus, dass Suizid in Griechenland immer noch ein Tabuthema sei. Die gesellschaftlich allgegenwärtige griechisch-orthodoxe Kirche ist Staatsreligion, knapp 97 Prozent der Bevölkerung sind griechisch-orthodoxen Glaubens. Und die Kirche verweigert Suizidopfern in der Regel ein christliches Begräbnis. Deshalb erklären viele Familien den Selbstmord eines Verwandten zum Unfall. Auch an den sieben griechischen Stränden, die wir Ihnen hier zeigen, starben Menschen; dass sie sich umgebracht haben, gibt die Hafenpolizei nur inoffiziell zu. Die Fotografin Eva Leitolf suchte diese Orte auf. Ioannis Xousos, Gewerkschaftspräsident des öffentlichen Rettungsdienstes EKAV in Attika, sagt: »Fast alle Opfer setzten ihrem Leben ein Ende, weil sie in einer schweren ökonomischen Krise steckten. Oft sind es Kleinunternehmer, die Konkurs anmelden mussten, oder Familienväter, die vor der Krise einen Hauskredit aufgenommen haben, dann arbeitslos geworden sind, und jetzt die Raten nicht mehr bezahlen können.« Im Juni gingen bei der Hotline der EKAV mehr als 350 Anrufe von selbstmordgefährdeten Personen ein. In 50 Fällen kam jede Rettung zu spät.

Fotos: Eva Leitolf