Vorhang auf für meine dunkle Seite

Unser Autor spielt ein Kuscheltier seiner Kinder immer besonders fies: Es schimpft, trinkt und beleidigt. Dabei fragt er sich, wieso ihm das so viel Spaß macht.

Anschmiegsam, liebreizend, vollkommen harmlos – so sind nicht unbedingt alle Kuscheltiere.

Illustration: Jan Soeken

Es ist schwierig mit Johanna. Sie hat meistens furchtbare Laune. Wünscht man ihr einen guten Morgen, raunzt sie zurück: »Was ist jetzt schon wieder?« Setzt man ihr Gemüse vor, tut sie so, als würde sie mir in den Schoß speien. Nachts geht sie heimlich auf Raubzüge durch die Supermärkte und räumt die Chipsregale und Biervorräte leer, behauptet sie jedenfalls. Angeblich klaut sie auch mein Geld und kauft damit ein, worauf sie Lust hat. Wenn man sie schimpft oder kritisiert, verfällt sie in Weinen und Weh­klagen. Wird sie wütend, fängt sie zu zittern an. Sie zittert oft. Alle in meiner Familie müssen ständig damit rechnen, von Johanna beleidigt zu werden – »Trottel«, »Depp«, »du bist ein furchterregender Anblick« – meistens schimpft sie über mich, ab und zu zeigt sie mir den Mittelfinger. Meiner Lebensfrau hingegen macht sie Avancen, manchmal wird sie dabei regelrecht zudringlich. Immer wieder prahlt sie damit, dass sie das gefährlichste Landraubtier der Erde sei – erwähnte ich, dass sie eine Eisbärin ist? Allerdings geht sie mir nur bis zum Knie, und sie trägt gern Tüllröcke. Im Übrigen sei sie nicht unser ­Kuscheltier. Wir seien ihre Kuscheltiere.

So gibt sich Johanna, wann immer ich sie mit meiner rechten Hand an ihrem Nacken halte, um ihren Kopf bewegen zu können, und sie mit einer Piepsstimme sprechen lasse. Und das tue ich sehr oft. Ehrlich gesagt freue ich mich morgens schon darauf. Schnell hinter einer Statistik verstecken: Laut einer knapp zehn Jahre alten Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung unter 1100 Deutschen wollen fast jede fünfte Frau und jeder neunte Mann beim Reisen nicht auf das eigene Stofftier verzichten. Das Thema – beim Reisen nicht aufs Stofftier verzichten – ist sehr spezifisch, und die Vorstellung, dass in so einer Umfrage viele nicht ehrlich antworten, weil sie sich für ihr kindisches Wesen schämen, scheint mir naheliegend. Will ­sagen: Anscheinend beschäftigen sich echt viele Erwachsene noch mit Kuscheltieren – zumindest mit denen ihrer Kinder.

Ich stehe dazu. Aber warum spiele ich ­Johanna vor einer Sieben- und einem Zwölfjährigen (meine Älteren springen nicht mehr so sehr darauf an) als ein angeberisches, verkommenes, übelmeinendes, kriminelles Ekelpaket? Bin ich im Grunde meiner Seele etwa selbst so ein Widerling wie sie? Ich schließe aus, dass ich den Kindern durch Johannas Gestalt Dinge an den Kopf werfen würde, die ich eigentlich über sie dächte. Ich liebe die Kinder und lasse sie das auch wissen, und ich sehe zu, dass sie ein ­positives Bild von sich haben.

Meistgelesen diese Woche:

»Manchmal braucht man so etwas«, sagt Claus-Christian Carbon, Psychologie-Professor an der Universität Bamberg. Er hat sich über meine Interview-Anfrage gefreut, mal was anderes als all die Einschätzungen zum Thema Gesichtsmasken, die er in letzter Zeit abgibt, weil er auch zu Ästhetik und Gesichtsverarbeitung forscht. »So wie ein ruhiger Familienvater ein ganz anderer sein kann, wenn er mit alten Freunden auf Zechtour geht.« Also: Ich bin viele, meine Persönlichkeit ist mannigfaltig, und der Mistkerl in mir darf dank Johanna auch mal raus. Aber ist das denn gut?

»Schauen Sie sich das Kasperletheater an«, sagt Carbon: »Sie brauchen da auch den Räuber Hotzenplotz! Dagegen können die Kinder sich zusammenrotten, sich Gegenstrategien überlegen … Überall im Leben gibt es Störpunkte: den bösen Chef, die doofe Nachbarin. Und nur mit Nettigkeit um sich herum lernt ein Kind nicht, mit Störpunkten umzugehen.«

Das höre ich gern, es beruhigt mich auch, aber um gute Pädagogik ist es mir mit Johanna ja nie gegangen. Ich spiele diese Eisbärin intuitiv, ich kann gar nicht anders. Einmal hat Johanna mit meiner Piepsstimme verkündet, dass sie ab sofort nur noch lieb sei. Hat sie keine zwei Stunden durchgehalten.

Von allen Familienmitgliedern hänge ich wohl am meisten an Johanna, mehr noch als die Kinder, obwohl ich aus Johannas Sicht nur der »Großvater« bin (und die Siebenjährige die Mutter, der Zwölfjährige der Vater). Wahrscheinlich, weil die Eisbärin vieles hat, was auch mich ausmacht: den Hang zur Ironie, die Doppelbödigkeit, das Trotzige. Aber dieser flauschige Fellhaufen mit eingenähtem Lächeln ist eben auch zehnmal lustiger, als ich es sein kann, wenn sie flucht und ­wütet und beleidigt, vor allem mich: »He, du siehst gar nicht aus wie ein Großvater.« – »Danke, Johanna, das ist lieb.« – »Du siehst aus wie ein Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur …« – »Verstehe, Johanna. Gute Nacht.« – »Wieso gute Nacht? Wo bleibt mein Bier, du Nichtsnutz?«

Jeder Witz braucht einen Bruch, eine Überraschung. Die knuddelsüße, hunds­gemeine Johanna ist so ein Bruch.

Der Zwölfjährige hat jetzt eine interessante Methode entwickelt, mit diesem Griesgram umzugehen: Er stürzt sich bei jeder Gelegenheit auf Johanna und drückt ihr ­Küsse ins Gesicht. »Paradoxe Intervention«, sagt Claus-Christian Carbon anerkennend. Der Junge hat genau verstanden, wie Johanna eigentlich tickt, sage ich. Wie ich eigentlich ticke.