Er ist überall. Er ist der Gilb auf dem Weißkragen, das Grau auf der Raufasertapete, das Schwarze unter den Fingernägeln. Er ist die Schliere auf dem Brillenglas, die Schmiere auf der Haut nach einer langen Eisenbahnfahrt, der Schimmel auf dem Brot, die Wollmaus unterm Bett. Der Dreck ist immer da, man kann sich nicht umdrehen, ohne dass er sich vermehrt, kaum ist man mit dem Putzen fertig, muss man wieder von vorn beginnen. Ein völlig aussichtsloses Unterfangen, schon weil wir selbst alle viel verdreckter sind, als wir wahrhaben wollen, man muss nur genau hinschauen. Gut ein Zehntel unseres Körpergewichts wird nicht von unseren Körpern auf die Waage gebracht, sondern von Mikroben, die uns bewohnen, ohne dass wir sie eingeladen hätten. Das Einzige, was uns gelingt, ist, den Dreck halbwegs aus dem Sichtfeld zu räumen. Wir stellen eigens Leute dafür an, Wirtschaftsimmigranten aus den Billiglohnländern, in denen die Kanalisation zweifelhaft, die Brunnen brackig und die Straßen nicht versiegelt sind, es ist ein Scheißjob, aber irgendwer muss ihn ja machen.
Immer panischer wollen sich die Menschen vom Schmutz befreien, den sie sich einfangen, bloß indem sie existieren. Kosmetik ist schon lange nicht mehr nur dazu da, die Haut feucht zu halten oder ein wenig aufzuhübschen, sondern sie verspricht, uns von abgestorbenen Schuppen und Zellen zu befreien, die angeblich die Poren verkleben und verkleistern, fast so, als würden wir mitten im Leben schon einen unsichtbaren Leichenpyjama tragen. Und die Körperbehaarung, die uns noch bis vor ein paar Jahrzehnten als völlig natürlich und zu uns gehörig galt, hat sich für unsere Wahrnehmung längst in eine Art Schmutz verwandelt, der uns zu überwuchern droht, wenn wir nicht ständig Acht geben. Die New York Times berichtete vor einigen Wochen über den sagenhaften Erfolg finaler Schamhaarentfernungen durch Laserstrahlen. Ironischer Nebeneffekt: Die Pheromone, die Sexualduftstoffe, finden dadurch weniger Platz, an dem sie ihre lockende Wirkung entfalten können – so werden die Begierden nach dreckigem Sex gleich miterledigt. Ohnehin ist es der weibliche Körper, an dem sich immerzu noch eine Schmutzzulage entdecken lässt: Am panischsten zeigen das die Fernsehwerbungen für Slipeinlagen, in denen vor den Leckagen gewarnt wird, die beim Hin- und Herwälzen während des Schlafens eintreten. Die Botschaft: Ohne lebenslängliches Gewickelt-Werden bleibt die Frau eine beständige Umweltverschmutzung.
Auch unser Habitat soll immer sauberer werden. Die Putzmittelindustrie profitiert von den Erkenntnissen der Nano-Forschung (der wasserabweisende Lotus-Effekt!), Legionen von Wissenschaftlern versuchen sich an selbstreinigenden Fenstern und selbstreinigenden Textilien. Und eine der rührendsten Unternehmerlegenden der letzten Jahre handelt von Mr. Dyson, der sein ganzes Leben der Erfindung des besten Staubsaugers der Welt geweiht hat – als ob es die alten nicht auch getan hätten. Vielleicht werden es ja die Gecko-Füße sein, an denen die Menschheit endlich lernt, wie sie sich sauber halten kann. Im Unterschied zu uns beherrscht es das Tier nämlich, ohne irgendeine Anhaftung durch höllisch klebriges Quarzmehl zu stapfen. Wie faszinierend.
Währenddessen schlägt mancher besonnene Mediziner bereits Alarm. Denn unser Reinlichkeitsfuror führt möglicherweise dazu, dass das Immunsystem nicht mehr mit den zartesten Attacken fertig wird, die die Umwelt gegen uns führt. Kinder, die nicht barfuß im Matsch herumlaufen dürfen, weil überbesorgte Eltern sie vor den Gefahren der Unsauberkeit bewahren wollen, haben gute Aussichten, Asthmatiker oder Allergiker zu werden. Es ist ein Teufelskreis: Je gründlicher sich die Menschheit schrubbt, duscht und wäscht, umso anfälliger wird sie für den Restschmutz, der sich doch nie vermeiden lässt. Und wenn sie gerade keinen erspäht, erfindet sie sich einfach einen. Den Handy-Smog zum Beispiel.
Warum wir den Dreck so erbittert bekämpfen, versteht sich von selbst: Er erinnert uns daran, dass wir möglicherweise doch nicht ganz so zivilisiert sind, wie wir es uns gern einreden. Seit es das Bürgertum (und schon gleich das Kleinbürgertum) gibt, sind Schmutz und Schorf, Grind und Geruch das Allerschlimmste, was sich dem Fortschritt und dem Aufstieg in den Weg klebt. Der Adelige darf ruhig noch speckige Westen mit Lederflicken an den Ellenbogen tragen, von Bauern und Arbeitern erwartet man ohnehin, dass sie sich beim Malochen dreckig machen – aber der Normalmensch aus dem Mittelstand ginge auf der Stelle unter, ließe er sich gehen. Wer es zu etwas bringen will, muss saubere Unterwäsche tragen und darf keine Körperfunktionen haben. Unvergessen die Sex and the City-Episode, in der Carrie aus ihrer eigenen Wohnung zu einer Freundin flieht, um nicht vor dem neuen Lover aufs Klo zu müssen; sonst fiele ihm eventuell ja auf, dass es sich auch bei den neuesten Heldinnen doch nur um Menschen wie alle anderen handelt.
Schmutzig – das sind immer die anderen. Die Leute draußen in den Vorstädten, die ihre Anliegen, falls sie denn überhaupt welche haben, nicht ordentlich ausdrücken können, sondern stattdessen die Straßen mit abgefackelten Autos vermüllen und deswegen am besten weggekärchert werden sollten. Die Langzeitarbeitslosen, die immer noch nicht gelernt haben, saubere Bewerbungen zu schreiben und sich adrett zu präsentieren. Die Ghettokinder, die dreckige Musik mit noch dreckigeren Lyrics hören und deren Jeans tatsächlich vor Straßenschmutz starren und nicht nur so aussehen, weil eine Straßenschmutz-Imitations-Maschine in einer chinesischen Sonderwirtschaftszonen-Fabrik sie so aussehen lässt. Und die Alten, bei denen es nicht mehr darauf ankommt, ob sie säuerlich riechen oder nach Zitrus-Kopfnote.
Das Ironische dabei: Das Abstandhalten nützt nichts. Je besenreiner die Existenz ausgefegt wird, desto weniger Widerstandskraft hat sie, und so kommt all der Dreck, mit dem man nichts zu tun haben will, wieder zurück. Irgendwann landet die zweifelhafte cucina povera der Habenichtse (rohes Fleisch, Streetfood) in den Restaurants der Spesenritter, reißt der Premium-Satiriker im Öffentlich-Rechtlichen dieselben abgestandenen Polen-Witze wie der Rassist aus den sozialen Brennpunkten, schleudert die Zeitschrift für die höheren Stände dieselbe Schmutzwäsche wie die Klatschblätter für den Mob, irgendwann landet der schmutzige Sexfilm (mit Geschlechtsorganen statt Abblenden) auf Arte, der Schlamm im Wellness-Spa, die Schlampenwäsche im bourgeoisen Boudoir und der Mann aus dem mittleren Management in irgendeiner dekorativ versifften Bar, die ihm als Geheimtipp zugeflüstert wurde. Mindestens seit es Rock’n’ Roll gibt, führt jede Sehnsucht und jeder Notausgang aus der Ödnis des gepflegten Lebens in den Untergrund. Dorthin, wo es noch dreckig zugeht.
Biologen würden sich darüber nicht wundern. Für sie ist Dreck nicht Dreck, sondern der Dung, aus dem sich das Leben permanent erneuert, von einer Maschine angetrieben, die ebenso zwecklos wie faszinierend ist. Wo wir nur Staub, Schmutz, Lehm, Brackwasser sehen, sieht der Biologe monumentalen Schauspielen zu, Mikroben, Bakterien, Maden, Würmer, die Sauerstoff produzieren, Gifte abbauen, Nahrung herstellen. Es ist zwar jedem von uns im Naturkunde-Unterricht erzählt worden, aber die wenigsten haben wirklich begriffen, wie grandios das alles ist: Aus Tierscheiße, Menschenpisse, Insektenleichen, Pflanzenkadavern, Sternenstaub, aus all dem Mist, der unablässig von oben nach unten sickert, werden tatsächlich ständig neue Existenzen, Mistkäfer oder Menschen, die Unterschiede sind eher graduell als prinzipiell. Die ekstatische Haut der Erde hat der amerikanische Essayist William Bryant Logan deswegen den Boden genannt, auf dem wir stehen. Gleich unter den Schuhsohlen spielt es sich ab wie in einer Großküche.
In der Kultur geht es nicht viel anders zu, obwohl wir das nur selten wahrhaben wollen. Auch sie ist dringend auf Trash und Pulp angewiesen, um sich immer wieder erneuern zu können. Ohne die Houellebecqs ginge es in der Literatur, ohne die Tarantinos im Kino, ohne die kleinen grindigen Garagen-Bands in der Musik nicht weiter. Es sind die Leute, die sich mit Schmutz und Schund beschäftigen, die die Zivilisation vorantreiben und uns etwas über uns beibringen können, die Freuds (anale Phase), die Schieles (klaffende Vaginen), die Damien Hirsts (Kuhkadaver), nicht die Genre-Künstler und Tunnelblick-Denker. Und es sind die Schweinepriester, nicht die Priester, die uns dabei helfen, Liebespaare zu bleiben, anstatt uns vor lauter Langeweile zu trennen.
Vielleicht wäre es ja die schlauere Idee, sich auf das einzulassen, was einem verdächtig schmutzig vorkommt, anstatt es verächtlich auf Distanz zu halten: Die Furz-Klingeltöne fürs Handy werden Mozart schon nicht kaputtmachen, sondern die Musikindustrie retten, damit sie dann Mozart unters Volk bringt. Die Weblogs, vor denen der professionelle Journalismus gerade so viel Angst hat, schmutzige, hakenschlagende Internet-Tagebücher von Amateuren, werden möglicherweise den Nachwuchs hervorbringen, den der Journalismus braucht. Und die undesodorierten Habenichtse, die trotz unserer Unhöflichkeit zu uns kommen wollen, werden der Wirtschaft eventuell den Ruck geben, für den wir längst viel zu deprimiert sind. Schon seltsam, wie feige die Kultur der Reinlichkeit oft ist: Als ob die hohen Ideale gleich einbrächen, sobald sie sich ein wenig mit der schmutzigen Wirklichkeit kontaminieren.
Am Ende gehen wir ohnehin alle denselben Weg. Kaum, dass wir gestorben sind, beginnen die Mikroben und Bakterien, die bisher in friedlicher Koexistenz mit uns gelebt haben, uns zu zerlegen und zu zersetzen. Dann machen sich die Maden und Würmer über uns her, fräsen sich durch unseren Körper, fressen uns auf, um uns gleich wieder auszuscheiden, Dreck von unserem Dreck, der sich mit der Erde vermengen wird, in der wir gemeinsam mit Abermilliarden anderer Kadaver aller möglichen Lebewesen liegen. Falls es ganz wild hergehen sollte (aber das kommt selten vor), könnte in unseren Überresten ein Baum Wurzeln schlagen und unsere Knochen aussaugen, bis von uns tatsächlich nichts mehr übrig bleibt – außer vielleicht ein paar Molekülen im Apfel, der auf diesem Baum wächst und den ein anderer pflückt. So prosaisch ist das nämlich mit uns: Schmutz zu Schmutz, Staub zu Staub. Kann sein, dass der Wind ihn in eine Ferne davonweht, in der wir zu Lebzeiten nie gewesen sind. Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal fegen.