Was kann man tun, um im Alter nicht müde zu werden?

Ein Plädoyer.

Pass auf, wo du hintrittst (schrie mich an die sehr große Stadt); bist nicht der Jüngste, doch verleihe ich dir ewige Jugend – und nahm mich in die Arme, das unfertige Miststück Berlin. Wusste gleich, dass ich eine Stimulanz entdeckt hatte, eine Medizin wider die Trägheit der späten Jahre, der müden Knochen, eine begehbare Kitzelmaschine, welche den schläfrig gewordenen Geist stimulierte. Ja, auch die alte Neugier erwachte, räkelte sich und verscheuchte Sentimentalitäten, Anwandlungen von Selbstmitleid. Und nirgendwo gibt’s schönere und, jawohl: derart aufregende Friedhöfe.

Es hat ja ein wirkliches, ein begehbares »Berlin« nicht gegeben, nicht nach dem Krieg. Dafür lauter Sonntagsreden-Sonderversatzstückchen. Geteilte Stadt/Frontstadt/Hauptstadt der DDR. Daneben das hoch subventionierte, hoch gefährdete Extra-Gebilde »Westberlin«, eine Metropole allenfalls in den Fantasien westdeutscher Provinzspießer aus Nürtingen. Ku’damm, »Chez Nous«, »die Herren Damen«! Rot leuchtend das Plüschetablissement »Club Sophia« am Savignyplatz. Echte Nutten. Irgendwo Mauer und, bis zu deren »Fall«, drum herum ein weitgehend zeitgeschichtsfreies Niemandsland. Schaudernd ging’s zurück in den heilen Westen – nach »Deutschland«, wie die Leute sagten. Der Verfasser? Gezeugt an der Mittelelbe. Aufgewachsen im Ruhrgebiet, einer »multikulturellen« Vielstädte-Agglomeration von fünf Millionen Westfalen, Rheinländern, Masuren… Reifte heran in Bonn, jener »kleine Residenz« genannten, sedierenden, provisorischen, um ein Haar endgültigen Hauptstadt der BRD, als Parlamentskorrespondent. Meine Lust an Verzweigtheit und Unübersichtlichkeit stillte einerseits der dicke Rheinstrom, diese unliebliche Verbindung zu den Weltmeeren; anderseits das unheilige Köln nebenan. Danach München. Seinerzeit seltsame Metamorphose von einer Lieblings-»Hauptstadt der Bewegung« des Hitler zur selbststilisierten »heimlichen Hauptstadt« der jungen Freizeitrepublik. M. erschien (mir) von Anfang an »klein«, nicht großstädtisch, ausdauernd selbstbefriedigt.

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Es hätte das Erdendasein so bequem sich neigen können: Abendsonne und gemeinsames Abendgebet mit allen bedeutenden Feinstäubchen des westlichen Schwabing. Ein zusammengefügtes Berlin war ja nicht zu haben, weltpolitisch nicht vorgesehen. Dann aber Neunundachtzig folgende. Mindestens war zu erahnen, dass in der Wüstenei Berlin aufblühen könnten Selbstprovokationen und schriftstellerische Unruhestiftung.

Entfaltet hat sich ein Überfluss grundverschiedener Unter- und Vorstädte – Suburbs –, deren Feinheiten und Grobheiten in einem ganzen Leben nicht zu erkunden wären. »Pankoff« (so immer Adenauer) zum Beispiel. Steglitz. Wedding. Charlottenburg (ach ja, irgendwann demnächst das Mausoleum der Königinnenschönheit Luise). Welche Spielfläche für ausschwingende nächtliche Taxifahrten! Ein gewöhnliches Roadmovie geht so: Moabit–Prenzlauer Berg und retour, Kanzleramt umkurvend (in Bonn machte man das zu Fuß), Viadukte unterfahrend, entlang einer Kette von Denkwürdigkeiten, mit sichtbaren und unsichtbaren Spuren einer nicht abzuschüttelnden, oftmals peinigenden deutschen Nationalgeschichte, genannt »die Vergangenheit«. Während dieser Fahrt aber verwandeln sie sich in eine Revue strahlender Nachtschönheiten. Nicht ein Gedanke an die eigene Befindlichkeit.

Ungemütlicher verläuft der »Praxistest« tagsüber, an historisch kontaminierten »Stellen«. Die ehemalige Prinz-Albrecht-Straße führt als wahrer dreifacher Kreuzweg geradewegs in den Höllenschlund deutscher Geschichte der letzten einhundert Jahre. Wilhelminismus. Nazismus (Terrorzentrale der SS). Realer Sozialismus. Als Zugabe ein Mauer-Rest. Bisschen viel »Schnittpunkt«. Und viel zu tun für Zeitgenossen jener Epochen.

Anderntags Heilandskirche Sacrow und Schloss Glienicke. Das preußische Arkadien injiziert einen Traum – den Traum von einem Berlin, das Weltstadt hätte bleiben dürfen, wären nicht Nazi- und Volks-genossen in rassistische, antizivilisatorische Raserei verfallen…

Auf schönen Tafeln, weit verstreut, manifestieren sich Spuren früher Dichter-Lieblinge, halten den Suchenden auf Trab. Robert Musil schrieb noch 1932 am Mann ohne Eigenschaften (Ku’damm), Kurt Tuchols- kys Elternhaus war nebenan (Moabit). Beide priesen sie das zarte Prosageflecht Robert Walsers – und fleißigster Flaneur überhaupt war Joseph Roth. Der Verf., halbwüchsig noch, war verliebt in die Verse des expressionistischen Dichters Alfred Lichtenstein, dessen Hymnus an die große Stadt am Klavier untermalend: Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern. / Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern. / Wer hat wie ich von euerm Schmerz gewusst. / Kaschemmen ihr, ich drück euch an die Brust… Der Berliner Jude Lichtenstein fiel, fünfundzwanzigjährig, im September 1914 in der Somme-Schlacht – für Führer, Volk und – nein: für Kaiser, Volk und Vaterland. Seine wunderbaren frechen Verse liegen immer noch in der Luft; man muss sie nur einfangen.

Hier weitere Fragen über das Alter:
Frage 1:
Fühlt man sich im Ruhestand nutzlos?
Frage 2:
Wie wichtig ist im Alter das Aussehen?
Frage 3:
Entwickelt man sich mit den Jahren zum Reaktionär?
Frage 4:
Macht das Alter maßlos?
Frage 5:
Wie wird es sich anfühlen, an früher zu denken?
Frage 7:
Was tun, wenn man nicht ins Altersheim will?
Frage 8:
Wie geht man mit Krankheit um?
Frage 9:
Was verändert sich im Alter überhaupt nicht?
Frage 10:
Macht es melancholisch, plötzlich Opa zu sein?