Juni 2007
Als sie mit dem gemeinsamen Rechtsanwalt zusammensitzen, im Straßencafé am Bach, da wo die Traumwohnungen sind, für die sie sich auch mal interessiert haben, holt Beate die Zigarettenschachtel aus der Handtasche. Sie lässt sich vom Anwalt Feuer geben. Sie zieht. Bläst den Rauch über den Tisch. Guckt zum Wasser. Sie überlegt: »Meine Güte, wie scheißegal es mir heute ist, vor Franz zu rauchen!« Ein herrliches Gefühl breitet sich in ihr aus. Freiheit. Franz sieht ihr zu, er macht, aus alter Gewohnheit, ein vorwurfsvolles Gesicht. Er denkt: »Soll sie sich doch kaputt rauchen. Ich hab ja geahnt, dass sie sofort raucht wie blöd, wenn ich sie nicht mehr daran hindere.«
Der Scheidungstermin liegt eine halbe Stunde zurück. Der Tag, als Franz auszog, ein Jahr und 47 Tage. Vor einer halben Stunde saßen Franz, 42, und Beate, 37, auf der Bank dem Richter gegenüber. Ein väterlicher Typ. Heile Familie im Rücken, denkt Beate, vielleicht ist er schon Großvater. Sie kennt das inzwischen: Menschen, die diese Heile-Familie-Ausstrahlung haben, wirken auf sie wie K.-o.-Tropfen. Sie fühlt sich niedergestreckt. Der Richter fragt, ob sie wirklich sicher seien. Sie sähen doch »ganz einträchtig« aus. So, als würde »ganz einträchtig« reichen, um eine Ehe zu führen. Der Richter versucht einen kleinen Witz: »So einträchtig sehen andere Paare vor dem Standesbeamten aus!« Franz sagt: »Ja, wir sind sicher.« Beate sagte: »Ja, wir sind sicher.« Sie fügt noch hinzu, als müsse sie sich rechtfertigen: »Wir haben sogar sechs Stunden Mediation gemacht.«
April 2006
Gefühlschaos: Erleichterung. Schock. Angst. Nach 15 Jahren, fünf guten, fünf mittelmäßigen und fünf schlechten, nach der immer schneller zirkulierenden Entmutigungsspirale. Sie liegen im Bett in der Ferienwohnung auf Lanzarote, Jona, der zehnjährige Sohn, im Nebenzimmer, es ist die letzte Urlaubsnacht. Kein »Gute Nacht«. Kein Gutenachtkuss. Früher hat Beate nicht geraucht, weil Franz sie zur Strafe nicht küsste, wenn sie nach Rauch schmeckte. Auf Lanzarote war es längst so: Sie rauchte, weil sie sich sowieso längst nicht mehr küssten. Natürlich war das Rauchen nur eins von vielleicht hundert Ärgerthemen, Knebelungskapiteln. Wie sehr er – zum Beispiel – ihren genervten Blick hasste, wenn er aus der Klinik kam, sich vor dem Fernseher ins Sofa fallen ließ, die Aktienkurse studierte. Oder die Preise in den Zeitungsbeilagen verglich. Beide können nicht schlafen. Er fängt an: »Lassen wir’s endlich. Wir gehen ein so.« Sie: »Ja. Ich jedenfalls gehe ein, so.« Es ist aus. Sie haben sich geliebt, gestritten, eisern geschwiegen, entliebt. Es ist, daran halten sich beide fest, wie in Tausenden anderen Ehen auch, also eigentlich kein Drama. Man kann eine vernünftige Lösung finden. Als sie aus dem Urlaub zurückkommen, zieht Franz aus, in die Ferienwohnung seiner Eltern, Miete: 200 Euro. Er reicht die Scheidung ein, aber die Scheidung auf dem Papier nach dem offiziellen Trennungsjahr betrachten beide nur noch als eine Formalie.
Juli 2006
Aus zwei Welten mit ungefähr 80-prozentiger Schnittmenge müssen zwei Welten fast ohne Schnittmenge werden; die einzige Schnittmenge, die bleiben soll, ist Jona, sind Jonas Gefühle, ist Jonas Leben. Die eine Schnittmenge zu verlieren, die andere zu behalten, das ist viel schwerer, als sie denken, manchmal so schwer, dass Franz es morgens kaum schafft, aufzustehen und in die Klinik zu gehen, und Beate sich nachts im Bett wälzt und tagsüber immer unruhig herumrennt und herumtelefoniert, als könnte sie durch ständige Betriebsamkeit die Last abschütteln wie Blutegel, die sich festgesaugt haben. Das Leben hatte seine Ordnung, 15 Jahre lang. Jetzt zerfällt alles. In wessen Welt zum Beispiel gehören gemeinsame Freunde? Iris und Peter, Anna und Mario. Sie waren drei Paare, die sich seit dem Studium kannten. Iris und Mario waren die Trauzeugen. Was für eine schöne Liebe: Beate und Franz hatten sich in einem Stocherkahn in Tübingen kennengelernt. Sie war mit einem anderen liiert, damals, Franz kämpfte mit Rosen und einer viel zu teuren Romreise – und ge-wann. Sie: schneewittchenhaft schwarze Locken, er: hellblond; als die beiden zwei Jahre später, im September 1991, heirateten, natürlich mit Stocherkahnfahrt am Nachmittag, sie im sahnefarbenen Seidenkleid, er im goldschimmernden Anzug, gab es viele, die gewettet hätten: Das hat Märchencharakter. Das bleibt.
Mit den Freunden sind sie zuerst gemeinsam mit dem Rucksack durch Tibet gewandert oder für ein Wochenende nach Venedig gerast, nur um in Venedig zu frühstücken. Später, als alle Kinder hatten, haben sie sich in den Ferien alte Gebäude gemietet, das letzte in Irland, ein Schloss. Beate und Franz waren sich immer einig gewesen: Eine Handvoll richtig guter Freunde reicht. Der Rest: Bekannte. Mit richtig guten Freunden entstehen über die Jahre enge Beziehungen, man kann fast sagen: Liebesbeziehungen. Jeden Geburtstag haben sie zu sechst gefeiert. Wer soll sich da trennen müssen? Beate und Franz wohnen in zwei Wohnungen und tun anfangs so, als könnte die Freundschaft mit den anderen Paaren, die in der Nähe leben, weitergehen wie früher. Beate und Franz feiern zusammen den 40. Geburtstag von Mario. Aber es ist anders. Der Abend ein Krampf. Beate spürt Neid. Auf die Gemütlichkeit der anderen, auf deren gemeinsame Zukunft, deren gesicherte finanzielle Situation. Bei ihr: eine Flickschusterei aus Unterhalt, Kindergeld, dem bisschen, was sie mit ihrem 20-Prozent-Deputat als Lehrerin verdient. Sie mustert Franz. Wie unsympathisch er aussieht. Wie gut sie ihn kennt. Die Art, wie er mit einem Schlürfton Luft einsaugt, weil er so schnell spricht, dass ihn möglichst niemand unterbrechen kann.
Erst ist sie in der Runde ein Fremdkörper, der nur griesgrämig beobachtet. Später manövriert sich Franz ins Aus. Er fängt Streit an. Er hat zu viel getrunken. Er seziert, wie die anderen miteinander umgehen. Als Anna, Marios Frau, sagt, sie wolle, wenn die Kinder groß sind, Psychologie studieren, haut Mario ihr hin: »Dein Psycho-Geschwätz reicht mir eigentlich jetzt schon.« So etwas spießt Franz auf und brüllt schließlich, er und Beate seien die einzigen Mutigen am Tisch, die eine kaputte Ehe beendeten. Die es auch mal wagten, ins Nichts zu fallen. Er könne diese Verlogenheit nicht mehr aushalten. Er steht auf, wirft die Türen hinter sich zu. Beate hat gewonnen. Die anderen solidarisieren sich mit ihr. Aber sie fühlt sich nicht wohl. Sie will nicht mit in den Urlaub in ein Herrenhaus in der Bretagne, wozu die anderen sie drängen. Sie meldet sich stattdessen am nächsten Morgen für einen Kurs »Tantra für Frauen – entdecke Deine Lust an Dir und an Deinem Leben« auf Kreta an.
Manchmal hat Beate das Gefühl, sie ist eine Pionierin. Ein solches Auseinandergehen zu schaffen, wenn man keinen anderen Mann hat, der sofort in die Lücke springt, das ist mutig. Man ist so erbarmungslos aus dem Rahmen geworfen, den die Normalität bietet, und die Normalität ist: Vater, Mutter, Kinder, alle unter einem Dach. Gut, sie lebt nicht in der Großstadt Berlin, vielleicht ist es da anders. Sie lebt in Nördlingen, einem bayerischen Städtchen mit Fachwerkhäusern und knapp 20 000 Einwohnern, wo alleinerziehende Mütter eine Ausnahme sind und, das ist zumindest ihr Eindruck, Scheidungskinder eine Macke haben müssen. Jona war immer ein schlauer Schüler, Übertritt aufs Gymnasium mit dem Schnitt 1,1. Beate ist mit hoch erhobenem Kopf, mit einer gewissen Überheblichkeit sogar zu den Elternabenden gegangen. Sie hatten schließlich alles: Geld, hervorragende Ausbildung, kluges Kind. Diesmal ist sie unsicher. Jona hat aufgehört, Lateinvokabeln zu lernen, und in Mathe steht er auf einer Drei. Der Lehrer bringt das in Zusammenhang mit der Trennung.
Er schaut sie an, findet sie, als seien sie und Jona in der Gosse gelandet. Sogar ihre Stimme ist klein, plötzlich. Der Lehrer unterrichtet Mathe und Latein, von Psychologie hat er keine Ahnung. Er sagt: »Wissen Sie, ich habe schon mehrere Kinder aus kaputten Familien erlebt, die bis in die Hauptschule zurückfallen.« Beate ist entsetzt. Sie findet ihre Normalstimme wieder und sagt, ein klarer Schnitt sei für ein Kind immer besser als ständig Spannung im Elternhaus. Sie zitiert dem Lehrer aus einer amerikanischen Studie, dass Scheidungskinder, deren Eltern nicht im Dauerclinch lägen, gegenüber Nicht-Scheidungskindern keine Nachteile hätten. Im Gegenteil, manche Kinder würden durch den mutigen Schritt ihrer Eltern für ihr Leben gestärkt. Am liebsten würde sie noch etwas Gemeines zu dem Lehrer persönlich sagen, aber es fällt ihr nichts ein. Sie verspricht, Jona zum Lernen zu animieren. Innerlich zittert sie. Diese Verantwortung, allen beweisen zu müssen, dass eine Trennung keine Folgen hat – das erinnert sie an einen, der nackt ist, aber sich verhält, als trage er einen Königsmantel.
August 2006
Es ist merkwürdig, wie schnell sich herumspricht, dass Franz und Beate sich scheiden lassen werden. Franz trägt sogar noch den Ehering. Plötzlich rufen ihn Frauen an, die er flüchtig kennt. Er weiß, dass ihre Gründe nur vorgeschoben sind, es geht immer und überall um Beziehung. Er trifft sich mit einer Krankenschwester, geht mit ihr ins Bett. Für einen Moment denkt er, dass alles doch viel einfacher ist, als er befürchtete. Die Krankenschwester ist hellblond wie eine Schwedin, sie raucht nicht, im Krankenhausflur hört man von Weitem ihr Lachen. Beate war vergleichsweise immer mürrisch, zumindest die letzten zehn Jahre, so kommt es Franz vor. Das Leben liegt jetzt prickelnd vor ihm, denkt er. Doch als er das Wochenende mit der Krankenschwester verbringt, fühlt er sich nach ein paar Stunden schwer wie ein nasser Kartoffelsack. Er ist mürrisch. Er! Er spürt, ein Neuanfang ist ihm zu anstrengend. Eigentlich will er sein altes Leben zurück, im Grunde das mit Beate, nur eben alles nicht mehr so starr, so tot. Er fängt an, an Beate E-Mails zu schreiben, einfach so, wie es ihr geht, obwohl er seine Frau nicht mehr anziehend findet. Sie schlägt ihm eine Trennungstherapie vor. Sechsmal gehen sie zu einer Mediatorin. Kosten: 900 Euro. Zusammen geht nichts mehr, kommt dabei heraus. Und dass sie eigentlich alles richtig machen so, wie sie sich trennen: Franz drückt sich nicht um den Unterhalt – im Gegenteil: Beate und er haben sofort eine wirklich faire Lösung gefunden. Beate und Jona haben 2500 Euro zur Verfügung, ihm bleiben 2000 Euro. Franz sieht seinen Sohn regelmäßig, Beate und er bekriegen sich nicht. Sie beschließen, dass Beate zum nächsten Schuljahr ihr Deputat um 30 Prozent aufstockt, dann zahlt Franz ihr etwas weniger und er kann sich eine neue Wohnung suchen.
September 2006
Von vornherein ist klar, dass im Zweifelsfall Franz im Tennisverein bleiben, Beate austreten würde. Schließlich spielt er auf Platz zwei in der Herrenmannschaft, sie weit hinten auf einem Ersatzplatz auf der Damenliste. Es geht nicht, dass sie sich ständig sehen. Beide fühlen sich schlecht dabei. Lieber verzichtet Beate auf Tennis. Mit einer der Frauen spielt sie vormittags. Anschließend sitzen sie zusammen, wie früher, und trinken Kaffee. Sie plaudern über den Verein. Beate will mit all dem nichts mehr zu tun haben. Nicht mehr hören, dass Franz wie immer gewonnen hat. Sie will ein neues Leben. Das Ärgerliche ist nur, dass es da, wo sie lebt, kein neues Leben gibt, sondern alles ein bisschen angestaubt ist, alles mit Franz verknüpft, sogar der Mann, der ihr bald den Hof macht: Er war ihr Tennistrainer, sie trifft ihn nach Jahren abends zufällig in einer Kneipe wieder. Sie gehen zusammen zum Tanzen, doch Beate merkt, dass sie noch keine Kraft hat für eine Affäre, schon gar nicht mit einem, der sie als Ehefrau von Franz kennt, der sie vielleicht sogar als eine betrachtet, die von Franz’ Lichtkegel mitbeleuchtet wurde. Schließlich gab es bei ihnen immer dieses Ungleichgewicht der Kräfte: Franz, der Große, sie die Stille an seiner Seite.
Dezember 2006
Könnten sie Jona nur das Hin und Her ersparen. Es sind zwar nur zwei Kilometer Entfernung. Aber das Kind hat zwei Zuhause jetzt. Beate und Franz haben ihn angelogen, anfangs, um ihn zu schonen. Die Mediatorin fand, das sei nicht unbedingt falsch. Sie haben Jona gesagt, sie würden nur vorläufig in zwei Wohnungen ziehen, um einfach etwas Abstand zu bekommen. Obwohl beide wussten, es ist endgültig. Eher werde einer von ihnen Papst oder Päpstin, als dass sie noch mal zusammenkommen, wenn sie es endlich geschafft haben, sich zu trennen, hat Franz vor Kurzem zu einem Kollegen gesagt, der selbst nach einem halben Jahr zu seiner Frau zurückgekehrt war. Jona ist sehr ruhig geblieben, so als würde er die Chancen, dass alles wieder gut wird, mit Lärm und Geschrei unwiederbringlich in die Flucht jagen. Nach einem halben Jahr fängt er an, das Hin und Her abgrundtief zu hassen. Jona, der immer ein freundliches und auffallend intelligentes Kind war, wird renitent. Er lernt nicht mehr. Er will nicht mehr zum Fußball. Er sitzt am liebsten am Computer und spielt Spiele, in denen er herumballern kann. Er vergisst immer etwas. Bei seinem Vater die Sportschuhe. Bei Beate die Jodtabletten. Die Vokabeln.
Fast alles haben sie schließlich doppelt: Sportschuhe, Jodtabletten, Zahnbürste, Kuscheltiere, Ritterburg, Spielkarten. Die Schulsachen gibt es nur einmal, deshalb vergisst er regelmäßig die Schulsachen, wenn er an jedem zweiten Freitagabend zu Franz kommt oder dann, am Sonntagabend, zurück zu Beate. Weihnachten feiern sie zusammen in der alten, gemeinsamen Wohnung, in der jetzt Beate, Jona und eine Studentin zur Untermiete wohnen. Franz kocht. Ente in Rotweinsoße, Blaukraut, Spätzle. Sie schenken sich gegenseitig Bücher, sie Franz Wie Kinder mit dem abwesenden Vater in Kontakt bleiben, er ihr eine Dalai-Lama-Biografie. Früher hätten sie hinter den Titeln etwas Boshaftes vermutet, jetzt vermuten sie dahinter nur gute Absichten. Jona bekommt eine Skiausrüstung von Franz. Eine Lego-Raketenstation von Beate und viel mehr als an jedem Weihnachten zuvor von den Großeltern, die mit dem Jungen Mitleid haben.
Beide Großelternpaare sind seit fast 40 Jahren verheiratet. Als sie von der Trennung erfuhren, haben sie zu ihren Kindern, Beate und Franz, jeweils dasselbe gesagt: Ob sie nicht durchhalten könnten? Ob sie nur an sich dächten? Es gebe schließlich in jeder Ehe »was«.
Februar 2007
Manchmal fühlen sie sich einsam, einsam und aus der Gesellschaft herausgeschleudert, Beate empfindet das stärker so als Franz. Noch nie hatte sie das Gefühl, von Paaren umgeben zu sein, die auf sie wirken wie unangreifbare Bastionen. Und von so vielen auffallend attraktiven, alleinstehenden Frauen, die keine Partner mehr finden, nicht mal mittelmäßige. Geschiedene Paare gab es in ihrer Umgebung früher zwar auch, sogar Beates Schwester lebt mit ihren Kindern allein. Aber Beate hatte diese Seite der Welt ausgeblendet wie das Risiko, Krebs zu kriegen: Man weiß, dass es so etwas gibt, aber einen selbst, denkt man, wird es schon nicht treffen. Sie trifft sich mit Iris aus dem alten Freundeskreis. Iris schimpft. Peter hat schon wieder eine Nebenbeziehung. Er behandelt sie abfällig. Er kontrolliert die Kassenzettel in ihrer Handtasche. Beate rät ihr, sich zu trennen. Sie spürt, dass ihr Rat an Iris abprallt wie an einem Panzer. Iris harrt lieber aus. Beate fühlt sich glücklich in diesem Moment. Sie fühlt sich dem Rest der Welt überlegen, wie eine, die stark genug ist, sich auf keinen einzigen faulen Kompromiss in ihrem Leben mehr einzulassen. Sie ist stolz.
März 2007
Beim Tantra-Wochenende auf Kreta begegnet Beate sechs Frauen, die Singles sind. Wunderbare Frauen, findet sie, die sich neu definieren wollen, Lebensfreude entdecken, fürs Erste ohne Männer. Die Frauen raten ihr, genau hinzusehen. Alles, aber auch wirklich alles neu zu gestalten. Was mit ihrem Namen sei? Pietsch. Das sei doch der Name ihres Ehemannes. Beate hieß früher Rimmele. Sie war froh über Pietsch. Jetzt ist sie froh, Jona vorschieben zu können. Jona und sie mit unterschiedlichen Nachnamen? Ausgeschlossen, denkt sie. Aber ihr graut bei der Vorstellung, Franz könnte noch mal heiraten. Ihre Nachfolgerin könnte dann ebenfalls Pietsch heißen. Das käme ihr vor, als würde sie geklont. Eine Pietsch weg, schon kommt die nächste.
April 2007
Franz trifft bei einem Kongress in München eine Ärztin. Sie verlieben sich. Er hat das Gefühl, das ist etwas ganz Ernstes. Er macht dem Anwalt Druck, mit der Scheidung keinen Tag länger als nötig zu warten. Gabi, die Neue, hat zwei Töchter, zwölf und neun Jahre alt. Sie ist ein ähnlicher Typ wie Beate, das denken alle, die sie kennenlernen: klein, sportlicher Körper, dunkle Locken, klug, aber immer still neben Franz. Er stellt sich das Leben wunderbar vor mit dieser Frau. Am liebsten will er noch ein Kind. Am liebsten bald zusammenziehen. Jona soll wieder Familie haben. Franz und Gabi besuchen die alte Freundesrunde. Sie planen, mit allen Kindern zusammen in die Bretagne zu reisen. Als Beate das hört, ist das ein Messerstich, schlimmer als alle anderen Verletzungen vorher. Es ist, als hätte Franz sie plötzlich überholt, als würde er an ihr vorbeirasen. Er gründet eine neue heile Familie. Er klinkt sich wieder bei den alten Freunden ein. Sie bleibt zurück. Sie ist froh, dass sie Gesangsstunden nimmt. Das Singen tut ihr gut. Danach fühlt sie sich kurz voller Kraft und zuversichtlich. Als Franz’ Neue zum ersten Mal am Jona-Wochenende bei ihm übernachtet, ist mit dem Jungen die ganze Woche nichts anzufangen. Er fällt in sich zusammen, es ist, als wäre sein Rückgrat aus Gummi. Jona leidet. Beate ruft Franz an und speit Feuer. Sie beschimpft ihn mit wüsten Worten. Sie heult, bis er sie daran erinnert: Es war doch unsere gemeinsame Entscheidung, uns scheiden zu lassen. Es war doch nicht meine Schuld. Franz fühlt sich souverän, jetzt. Alles kommt wieder ins Lot, da ist er sicher. Er verspricht, er werde für Jona einen Psychologen suchen.
Juni 2007
Ein Tag vor der Scheidung. Wie zieht man sich für eine Scheidung an?, überlegt Beate. Feierlich? Schwarz wie zu einer Beerdigung? Oder Jeans? Sie entscheidet sich für Jeans. Franz’ Neue nimmt sich extra einen Tag frei. Sie will warten, bis er alles hinter sich hat, obwohl er ihr doch gesagt hat, dass die ganze Sache für ihn nur noch eine Formalie ist. Er hat einen winzigen Moment lang das Gefühl, dass sich Gabi in etwas hineindrängt, was sie nichts angeht, was nur Beate und ihn und Jona betrifft, aber er misst diesem Gefühl keine Bedeutung zu. Auf dem Weg zum Gericht bringt Beate Jona zur Schule. Am Abend vorher saß sie lange an seinem Bett, sie erzählte ihm von dem Scheidungstermin, der eigentlich gar keine Bedeutung habe. Jona weinte trotzdem. Als sie der kleinen Gestalt nachsieht, die in der Turnhalle verschwindet, steigen auch Beate Tränen in die Augen. Wie einfach es ist, auseinanderzugehen, denkt sie. Wie einfach und wie grausam.