(Foto: Das Titelbild des Holocaust-Comics "Maus")
SZ-Magazin: Adorno sagte, es sei barbarisch, nach dem Holocaust weiterhin Gedichte zu schreiben. Wenn es keine Worte mehr geben darf über den Holocaust, kann es dann Bilder geben, in diesem Fall Comics?
Die Architektur hat mit dem Stehlen-Mahnmal in Berlin einen Annäherungsversuch gewagt. In der Musik versuchte unter anderem der Jazz, gegen die Ohnmacht anzuspielen. Elfriede Jelinek bearbeitete diese Thematik im Theater, und in der Filmgeschichte brach der italienische Neorealismus bereits direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Schweigen.
Wo ist der Comic einzuordnen?
Der Comic ist eine Kombination aus Text und Bild. Er kann Leerstellen füllen, die aus zwei Gründen entstehen: Zum einen existieren von vielen Gräueltaten keine Aufnahmen. Zum anderen ist die Erinnerung bei vielen Trauma-Opfern nur noch bruchstückhaft vorhanden. Diese Bruchstücke dann in Aussagen zu verwandeln, ist noch viel schwerer. Deshalb muss man neue Ausdruckswege finden. Dem Comic gelingt das, indem er Bruchstücke aus zwei Bereichen neu zusammensetzt. Aber auch hier taucht immer das gleiche Problem auf: Wie findet ein Mensch, der traumatisiert ist, eine Stimme, wenn diese doch durch das Trauma in tausend Teile zersplittert ist? In diesem Paradoxon liegt die Herausforderung.
Sehe ich diese Schwierigkeiten als Betrachter überhaupt?
Ja, durchaus.Ein Kunstwerk kann und soll auf genau diese Hürden aufmerksam machen. Dadurch gewinnt es an Überzeugungskraft. Der Betrachter soll am Ergebnis nachvollziehen können, welche Schwierigkeiten das Werk bei der Entstehung überwinden musste. Durch dieses Nachdenken über sich selbst zeichnet sich die moderne Kunst aus, die durch die Tragödien des 20. Jahrhunderts an ihre eigenen Grenzen geführt wurde.
Können Sie uns dieses „Nachdenken über sich selbst" an einem Beispiel erklären?
Nehmen Sie den Comiczeichner Art Spiegelman. Er kommt selbst oft als Figur in seinen Comics vor. Man sieht ihn zusammengesunken am Zeichentisch sitzen. Er ist verzweifelt, weil er nicht weiß, wie man das ausdrücken soll, was sich kaum ausdrücken lässt. Der italienische Auschwitzüberlebende Primo Levi forderte in seinem Buch „Ist das ein Mensch?" die Erfindung einer neuen Sprache. Er war der Meinung, dass man die abgenutzten Worte der Alltagssprache nicht für unsagbare Verbrechen wie den Holocaust benutzen darf.
Stimmt es, dass viele Comics Inhalte nicht realistisch darstellen, sondern sie verfremden?
Ja, das berühmteste Beispiel dafür sind die Charaktere in Art Spiegelmans Comic Maus. Er zeigt Menschen mit Tiergesichtern. Die Juden als Mäuse, die Nationalsozialisten als Katzen, die Polen als Schweine und die Amerikaner als Hunde. Juden, die sich als polnische Nichtjuden tarnten, zeichnet Spiegelman als Mäuse mit Schweinemasken.
Funktioniert der Trickfilm Persepolis, der auf einem Comic beruht, ähnlich?
Die Verfremdung ist auch hier wichtig, aber der Kontext ist anders. Die Zeichnerin Marjane Satrapi lässt eine Trennlinie quer durch das Gesicht der Hauptfigur verlaufen, um den Konflikt zwischen Ost und West während der Revolution im Iran zu zeigen. Hier kommt es nicht auf die authentische Darstellung an. Satrapi verwendet absichtlich Symbole und Metaphern, weil sie weiß, dass man die komplexe Wirklichkeit gar nicht authentisch darstellen kann. Genau diese Ehrlichkeit überzeugt den Zuschauer.
Das kann die Fotografie nicht. Trotzdem berühren uns authentische Bilder mehr, oder?
Genau das meinte auch Susan Sontag. Sie glaubte, dass Fotografie Gewalt am eindrücklichsten vermittelt. Trotzdem darf man nicht automatisch das Foto für authentischer als eine Zeichnung halten. Der Comic denkt auch über dieses Problem nach und hinterfragt sich damit wieder selbst. Ein Beispiel findet sich in Art Spiegelmans Comics: Er setzt das Foto seines Vaters, eines Auschwitzüberlebenden, in KZ-Kleidung ein. Dieses Foto ist jedoch nicht in Auschwitz selbst, sondern erst nach der Befreiung des Konzentrationslagers entstanden. Eine reale Situation ist hier also nachgestellt worden.
Ist Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah authentisch?
Auch bei Augenzeugenberichten haben wir es nicht mit der unmittelbaren Wirklichkeit zu tun, sondern mit schriftlichen oder mündlichen Texten, Erinnerungen aus Wörtern und Bildern. Nicht nur in der Kunst, sondern selbst dort, wo es scheinbar um Fakten geht, haben wir das Problem, sie darzustellen. Damit will ich nicht den Wahrheitsgehalt der Berichte anzweifeln und schon gar nicht die Bedeutung solcher historischer Zeugnisse. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass auch Geschichte nur durch Sprache und Bilder zugänglich ist. Sie ist nicht automatisch vorhanden, sondern muss erst geschaffen werden. Dabei sind wir auf das Weitergeben von Fakten angewiesen. Wenn allerdings die Augenzeugen nicht mehr sprechen können, ist es gerade eine Aufgabe der Kunst, nach anderen Ausdrucksformen zu suchen. Das Geschehene darf unter keinen Umständen in Vergessenheit geraten.
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Christiane Solte-Gresser ist seit 2009 Lehrstuhlinhaberin der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Ästhetik und Poetik des Alltäglichen, Text- und Bildrelationen, der Neorealismus und das Siècle Classique.
Foto: Pantheon, Random House