Zwei Spatzendamen sitzen auf einer Alu-Traverse und beobachten den Trubel zu ihren Füßen: Auf dem Marienhof, der Freifläche hinter dem Münchner Rathaus, sind Essensstände, Leinwände, Lautsprecher, zwei Festzelte und ein Infopavillon mit Dachterrasse aufgereiht. Es ist der 5. April 2017, zum ersten Spatenstich für den Bau der zweiten Münchner S-Bahn-Stammstrecke sind der Bahn-Chef Richard Lutz und der Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt nach München gekommen, auch Horst Seehofer, bayerischer Ministerpräsident, und Dieter Reiter, Münchens Oberbürgermeister, feiern den Beginn des gigantischen Baus – hier, wo einer der neuen Tiefbahnhöfe entstehen wird. »Auf geht’s«, steht auf den Plakaten, und die Redner loben Münchens Lebensqualität, die es zu erhalten gelte. Auf ihrer Stange am Rand hüpfen die Spatzen aufgeregt hin und her. Ruckartig bewegen sie ihre Köpfe, als könnten sie so besser erfassen, was dort unten, in ihrem Vorgarten, los ist.
Die beiden gehören zur letzten Spatzenkolonie in der Münchner Altstadt, rund zehn Vögel sind es dort noch. Nun verwandelt sich ihr Lebensraum vor ihren Augen in eine Riesenbaustelle, an deren Rand sie in den kommenden Jahren überleben müssen – unterstützt nur von zwei Münchnerinnen.
Ein Freund der Autorin hatte Anfang des Jahres vom Schicksal der Marienhof-Spatzen erzählt. Seitdem gingen ihr die Tiere nicht mehr aus dem Kopf. Über Monate hinweg fuhr sie mehrmals die Woche zur Baustelle und suchte die Spatzen. Jedes Mal mit der Frage im Kopf: Würden sie dieses Mal noch da sein? Sie kannte ihre bevorzugten Aussichtspunkte an Weinstraße und Schrammerstraße, ihr bevorzugtes Ausflugsziel, den Garten des Café Guglhupf, und erspähte Nest-Standorte. Sie erfuhr, wie unermüdlich ein paar Menschen sich um das Wohl der paar Tiere sorgen. Und wie wenig die große Mehrheit davon mitbekommt.
Weil Spatzen im kollektiven Bewusstsein als »sowieso vorhanden« abgespeichert sind und schon zwei Tiere Lärm für zehn machen können, fällt selten auf, dass sie mancherorts stark dezimiert oder längst ganz verschwunden sind. Sie sind nur eine gefährdete Vogelart von vielen; Dutzende sind vom Aussterben bedroht, alleine 2016 dreizehn ganz verschwunden. Der Überlebenskampf der letzten Marienhof-Spatzen steht aber nicht nur für den Zustand der Vogelwelt, sondern auch für das Dilemma zwischen Fortschritt und Naturschutz, zwischen Entwicklung und Verdrängung.
Foto: Janek Stroisch