Bei Anne Will sitzt ein junger Mann zwischen fünf Damen und Herren, die allesamt seine Eltern sein könnten. Alle außer ihm sind Polit- und Talkprofis. Er ist jung und unverbraucht und der Mittelpunkt der Runde. Es geht um Netzpolitik. Bärbel Höhn von den Grünen: »Ich guck jetzt mal Internet und verstehe …« Sofort unterbricht sie der junge Mann. »Genau das ist das Problem«, lacht er, »Sie gucken Internet, Sie benutzen es nicht.« Bärbel Höhn beginnt sich zu rechtfertigen, auch bei den Grünen werde getwittert, bis Peter Altmaier von der CDU sie unterbricht: »Frau Höhn, ich fürchte, je länger Sie reden, desto mehr Prozente werden Sie an die Piraten verlieren.«
Spiel, Satz und Sieg für Christopher Lauer. Er gehört zu jenen 15 Abgeordneten, die im September für die Piratenpartei in den Berliner Senat eingezogen sind. Seitdem arbeiten sich die herkömmlichen Medien an dem Phänomen ab, als sei ein zweiter Mond auf einer Umlaufbahn um die Erde aufgetaucht. Der Tenor schwankt zwischen Unglauben und Ablehnung.
Eine »Spaßpartei« (Handelsblatt) sei das doch, eine chaotische Truppe (Tageszeitung) ohne echtes Programm (Zeit- Magazin), deren Anhänger vor allem kostenfrei Musik im Internet downloaden wollten (Frankfurter Rundschau). Überhaupt lasse sich der Erfolg der Piraten nur als Protestwahl (Die Welt) erklären.
Was hier waltet, ist nicht allein das Bemühen, etablierte Besitzstände gegen Neuankömmlinge zu verteidigen. Es handelt sich um echtes, gewissermaßen naturgesetzliches Unverständnis. Man trifft es bei Generationenkonflikten an, wenn die eine Seite nicht in der Lage ist zu erkennen, worauf es der anderen Seite ankommt.
Die Taz etwa geht davon aus, der aktuelle Erfolg der Piraten habe nichts mit einem »grundsätzlichen Wertekonflikt« zu tun – ganz anders als damals Gründung und Aufstieg der Grünen. In den Achtzigerjahren habe das Aufkommen des Ökologiethemas nämlich noch einen echten Umbruch im Denken markiert.
Diese Annahme spiegelt sich in vielen medialen Reaktionen: Den Grünen sei es immerhin noch um »etwas« gegangen, nämlich um die Umweltpolitik, während es den Piraten letztlich um nichts oder jedenfalls um nichts Substanzielles gehe. Bloß irgendwas mit diesem Internet.
Gerade ans Stichwort Internet knüpft sich das Missverständnis, welches der älteren Generation den Blick auf die wahre Stoßrichtung der Piratenpartei verstellt. Menschen, die sich schon vor zwanzig Jahren von ihren Kindern den Videorekorder programmieren ließen, reagieren heute gereizt, wenn viel Gewese um »dieses Internet« gemacht wird, in dem sie nicht mehr erkennen können als eine verbesserte Post- und Telefonanlage. Für etablierte Politiker galt es bis vor Kurzem noch als schick, öffentlich zu betonen, man drucke sich seine E-Mails aus. Seit dem Erfolg der Piraten in Berlin wird plötzlich eifrig darauf verwiesen, dass auch die eigene Partei nicht nur eine Homepage, sondern sogar echte »Netzpolitiker« besitze. Erst Ablehnung, dann Assimilation – beides Ausdruck einer allumfassenden Hilflosigkeit.
In Wahrheit eignet sich das Internet als solches überhaupt nicht zum Gegenstand von Politik. Es sind nicht die Piraten, die das nicht verstanden haben, sondern ihre Kritiker. Was genau soll »Netzpolitik« denn sein? Ein bisschen Streit um Urheberrechtsreform und Klarnamenpflicht? Das wäre in etwa so, als würden sich die Grünen ausschließlich für Mülltrennung und Dosenpfand interessieren. Birgit Rydlewski, Landesvorsitzende der Piraten in Nordrhein-Westfalen, formuliert es folgendermaßen: »Netzpolitik ist vor allem ein Schlagwort, von dem die alten Parteien neuerdings glauben, dass es Wähler bringt.«
Wer das Potenzial der Piratenpartei verstehen will, muss zunächst einsehen, dass »Internet« mehr bedeutet als ein technisches Hilfsmittel, für das man vielleicht ein paar geänderte Gesetze braucht. Es ist Geburtsort und Lebensraum der Kommunikationsgesellschaft und somit Chiffre für einen Epochenwandel, der eines Tages im Rückblick als ebenso einschneidend gelten wird wie die Erfindung von Zügen, Autos und Flugzeugen. Ein weiterer Schritt im Bemühen der Menschheit, Zeit und Raum zu überwinden.
Beim Überwinden von Grenzen geht es um Freiheit. Hier haben wir den Punkt, der offensichtlich so schwer zu vermitteln ist: Die Piraten sind keine Internet-, sondern eine Freiheitspartei. Ihr grundlegendes Anliegen besteht in einer Rückkehr zu humanistischen Prinzipien. Das Internet kann in diesem Zusammenhang als angewandte Metapher für ein zeitgenössisches Verständnis von Freiheit begriffen werden. Freiheit durch Gleichberechtigung, Freiheit durch Meinungsäußerung, Freiheit durch allgemeinen Zugang zu Bildung und Wissen. Freiheit durch die Erosion von Hierarchien und Autoritäten. Freiheit durch Teilhabe und Pluralismus. Durch den Abschied vom linearen Denken zugunsten eines kontextuellen Verständnisses von Wirklichkeit. Das meint Christopher Lauer, wenn er sagt: »Wir machen keine Politik für das Internet, sondern für eine durch das Internet veränderte Gesellschaft.«
Das Thema »Freiheit« wird derzeit von keiner anderen Partei des Spektrums bedient. Die FDP, deren Niedergang mit dem Aufstieg der Piraten zusammenfällt, ist in der öffentlichen Wahrnehmung längst zu einer reinen Wirtschaftspartei mutiert, weshalb der bürgerliche Liberalismus schon lange kein politisches Zuhause mehr besitzt. Die Piraten füllen diese Lücke. Sie sind die einzige deutsche Partei, die »Freiheit« nicht nur als idealistische Utopie oder ökonomisches Programm, sondern als ganz reales Organisationsprinzip behandelt.
Hier liegt die wahre Parallele zur Entstehungsgeschichte der Grünen: »Freiheit im Kommunikationszeitalter« ist genau wie »Umweltschutz im Industriezeitalter« ein Querschnittsthema. Es taucht in allen politischen Bereichen auf, weil es die grundlegende Verfasstheit einer Gesellschaft betrifft. Wie wollen wir leben? Was sind unsere Werte? Welches Menschenbild vertreten wir?
Wer Antworten auf solche Fragen sucht, zielt nicht auf eine politische Nische, sondern auf Veränderungen der Wirtschafts-, Arbeits-, Bildungs-, Familien-, Sozial- und Sicherheitspolitik. Seine Forderungen werden sich nicht an Sachzwängen, Kostengründen und anderen Alternativlosigkeiten orientieren, sondern zunächst einmal an der Grundüberzeugung.
Auch Sozialdemokratie, Konservatismus, Liberalismus waren oder sind Querschnittsthemen, die einst zur Gründung von Parteien führten. Nur haben diese Konzepte an Anschlussfähigkeit verloren. Dies muss gar nicht Schuld der jeweiligen Gruppierung sein, kein Zeichen von Profillosigkeit der viel gescholtenen Spitzenpolitiker. Es kann schlicht daher rühren, dass eine einst kämpferische Idee zum Allgemeingut avancierte. Heute gibt es keine ernst zu nehmende Partei mehr, die sich nicht zu Sozialdemokratie, freier Marktwirtschaft und Umweltschutz bekennt. Für die dahinterstehenden Parteien heißt es im Grunde: Mission completed. Aber Institutionen lösen sich bekanntlich nicht auf, nur weil sie ihre Ziele realisiert haben. Sie existieren weiter, teilen sich die Verwaltung des Konsenses und sind nur noch in Einzelheiten unterschiedlicher Meinung. Der Sex-Appeal des Überzeugungskampfes ist ihnen verloren gegangen.
Ein neues Thema aber gebiert neue Überzeugungstäter. Die Piraten brauchen nichts weiter zu tun, als sich auf ihr Thema »Freiheit im 21. Jahrhundert« zu konzentrieren – es lässt sich auf ein politisches Programm herunterbrechen, das ihnen gute Chancen bei der nächsten Bundestagswahl eintragen dürfte.
Flatrates für den öffentlichen Nahverkehr, bedingungsloses Grundeinkommen, Legalisierung von Drogen, eine echte Trennung von Kirche und Staat, die Rückkehr zum Prinzip kostenfreier Bildung, das Respektieren von Freiheitsrechten auch in Zeiten des Anti-Terror-Kampfes, mehr Teilhabe am demokratischen Prozess – das alles sind Forderungen, die sich direkt aus einem humanistisch geprägten Freiheitsverständnis ergeben und die sich jetzt schon teilweise in Bundes- und Landesprogrammen der Piratenpartei finden.
Richtig spannend jedoch wird es werden, wenn die Piraten tatsächlich ihre politisch obdachlose Klientel entdecken. Wenn sie erkennen, worin der viel beschworene gesellschaftliche Wandel in Wahrheit besteht.
In Deutschland leben mittlerweile rund 2,5 Millionen sogenannter Solo-Selbstständiger, also Freiberufler und Kleinunternehmer, die nicht über eigene Angestellte verfügen. Dazu gehören Künstler genauso wie freiberufliche Programmierer, Fliesenleger oder Friseure. Darüber hinaus arbeiten inzwischen 40 Prozent der Berufstätigen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, befinden sich also in Lebenssituationen, die mit dem klassischen, unbefristeten Nine-to-Five-Job nichts mehr zu tun haben.
Parallel dazu haben sich die Familienstrukturen flexibilisiert. Jenseits der Vater-Mutter-Kind-Familie existieren Modelle in allen Schattierungen, von der berufstätigen Alleinerziehenden über die Mehrväterfamilie bis zum homosexuellen Paar mit Kind.
Aus dem Zusammentreffen von individueller Berufsplanung und individueller Familiengestaltung ergibt sich für wachsende Teile der Gesellschaft eine Situation, auf welche die etablierten Parteien keine Antworten mehr finden. Solo-Selbstständige fallen durch die Maschen von Kranken- und Rentenversicherung und kämpfen Jahr für Jahr mit einem Steuersystem, das entweder auf Festangestellte mit geregeltem Einkommen oder auf Großunternehmer mit eigener Buchführungsabteilung zugeschnitten ist. Während das Problem fehlender Kinderbetreuung ebenso hinlänglich bekannt wie ungelöst ist, befindet sich eine echte Flexibilisierung der Arbeitswelt mit Job-Sharing, Vier-Tage-Woche oder dem lockeren Wechsel zwischen Büro und Home Office nach wie vor in nebliger Ferne.
An dieser Stelle entzündet sich der Generationenkonflikt, von dem meist angenommen wird, er existiere nicht mehr, nur weil Eltern und Kinder heutzutage die gleichen Turnschuhe tragen. Während jüngere Menschen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, Beruf und Familie, Büro und Wohnzimmer völlig neu definieren, vermögen gerade ältere Politiker im Wunsch nach freiheitlicher Lebensführung nur selbst verschuldetes Chaotentum (CDU) oder Ausdruck einer Notlage (SPD) zu sehen. Es scheint ihnen undenkbar, dass sich ein Solo-Selbstständiger vernünftig und freiwillig für diese Lebensform entschieden haben soll. Dass er also seine Freiheit schätzt, obwohl sie das Leben komplizierter und unsicherer macht. Entsprechend lautet die arrogante wie utopische Antwort: Alle Mann zurück ins sozialversicherungspflichtige Standardbeschäftigungsverhältnis.
Welche der etablierten Parteien hat schon Lust, über eine echte Reform des Steuerrechts oder der desolaten Sozialversicherungssysteme nachzudenken? Lieber tut man so, als habe sich in den letzten Jahrzehnten nichts geändert. Und überlässt den Piraten auf diese Weise eine ungeheure Spielwiese.
Vielleicht haben die Piraten ihren Erfolg bei der Berlinwahl tatsächlich in erster Linie ihrem frischen Auftreten, ihrer Ehrlichkeit und Authentizität zu verdanken. Wer aus dem offen zur Schau getragenen Dilettantismus allerdings folgert, die neue Partei sei nicht ernst zu nehmen, unterschätzt den substanziellen Gehalt der schnoddrigen Haltung. Professioneller Dilettantismus ist ein Schutzwall gegen eine politische Welt, die unter Experten aufgeteilt wurde und den »normalen Bürger« im Namen von Effizienz und Alternativlosigkeit vom Geschehen ausschließt. Auch hier geht es um Freiheit, nämlich von den althergebrachten rhetorischen und prozeduralen Zwängen des politischen Tagesgeschäfts.
Ohne Zweifel: Die Piraten haben das Zeug dazu, die neue sozialliberale Partei Deutschlands zu werden. Ob das klappt, wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es ihnen gelingt, ihrem Kernthema überzeugende politische Forderungen zu entnehmen. Für den Anfang verfügen sie durch ihre besondere Kompetenz über ein brauchbares Startkapital. Wer weiß, wie Skype funktioniert, hat weniger Probleme, sich einen Heimarbeitsplatz vorzustellen. Wer Liquid Feedback versteht, wird nicht lang darüber grübeln, wie sich neue Wege der politischen Bürgerbeteiligung eröffnen lassen. Und so fort.
Christopher Lauer und Birgit Rydlewski sehen der Zukunft ihrer Partei jedenfalls gelassen entgegen. Die Piraten seien keine Karrieristen, sie wollten nicht um jeden Preis gewählt werden, also gebe es auch keinen Grund, sich zu verbiegen: »Wir haben nichts zu verlieren, und das ist unser Trumpf.«
Also: Freedoms just another word for nothing left to lose. Auch wenn Janis Joplin das etwas anders gemeint haben dürfte.
Illustrationen: Damentennis