Evans Adeny hätte einen Ausbildungsplatz als Verkäufer - wenn er ihn antreten dürfte.
Ich lernte Evans Adeny, zwanzig Jahre alt, an einem graukalten Morgen vor Weihnachten 2014 auf dem Vorplatz der Bayernkaserne kennen, des ständig überlaufenen Flüchtlingserstaufnahme-Lagers in München. Busse mit dem Schriftzug »Sonderfahrt« in ihrer digitalen Frontanzeige spuckten alle paar Minuten Menschen aller Hautschattierungen aus, ausgebeulte Kleidung am Körper, die Augen tief in den Höhlen. Sicherheitsmänner schoben sie durch Gänge aus Rempelgittern, hinein in die Hallen mit den vielen Matratzen. Tausende landen in diesem Lager, monatelange Reisen hinter sich, auf Lastern, Zügen, Booten. Wäre Flucht ein Ausrufezeichen: Das hier wäre der Punkt.
Mit meinem Kollegen Max Fellmann ging ich an diesem Tag einer Frage nach: Was würden sich Flüchtlinge zu Weihnachten wünschen, hätten sie einen Wunsch frei? Wir sprachen mit Syrern, deren verängstigte Kinder wie schwere Bündel an den Eltern hingen, und Somaliern mit Armen dünn wie Äste. Entstanden sind Protokolle und Interviews, die von Krieg und Vertreibung, Hunger und Gewalt erzählten, und auch, warum zum Beispiel eine Gitarre in den überfüllten Sälen die Aggression unter den Flüchtlingen mildern könnte.
Ich sprach Evans auf Englisch an, ob auch er ein Interview geben könnte. Mit leicht bairischem Zungenschlag antwortete er: »Klar, logisch, gern!« »Wieso sprechen Sie so gut Deutsch?«, wollte ich wissen. »Habe ich in nur zwei Monaten gelernt«, sagte er, »vor drei Jahren, als ich aus Uganda gekommen und im SOS-Kinderdorf gelandet bin. Ich habe Tag und Nacht geübt, damit ich das schnell kann.« Dann begann Evans, von seinem Leben zu erzählen, und seitdem geht mir seine Geschichte nicht aus dem Kopf, und mit ihr viele Fragen nicht: über ein überfordertes Europa, ein bürokratisches Deutschland, ein kaputtes Afrika und dieses große Wort Integration.
Als 13-Jähriger, erzählte er, war Evans in der Stadt Gulu auf dem Schulweg von der Rebellenarmee Lords Resistance Army verschleppt worden. Dann lebte er drei Jahre als Sklave und Kindersoldat im Kriegsgebiet zwischen Uganda und dem Kongo. Die Terrormiliz im Norden Ugandas hat mehr als 100 000 Menschen getötet, ihr pseudoreligiöser Anführer Joseph Kony hält sich für unverwundbar.
Evans flüchtete bei einem Gefecht, doch seine Eltern waren zwischenzeitlich getötet worden. Mit dem Verkauf des kleinen Ladens seines Vaters bezahlte Evans einen Schlepper, 2500 Euro, der mit ihm nach Nürnberg flog. Auf dem Flughafen drückte er Evans eine Breze in die Hand, er müsse aufs Klo. Evans sah ihn nie wieder. »Ich habe dann afrikanisch aussehende Frauen gefragt: Wo soll ich hin?« So landete er im SOS-Kinderdorf, später in einer Flüchtlingsunterkunft in Augsburg. In der Bürokratensprache nennt man jemanden wie Evans einen »unbegleiteten minderjährigen Flüchtling«, kurz »umF«.
Am 12. August 2012 um 16 Uhr, Evans weiß es noch genau, saß er am Bahnhof, wo die gleichaltrige Lena auf ihren Zug wartete. Die beiden verliebten sich; heute ist Evans oft bei ihr in ihrer kleinen Wohnung zu Besuch; in das Regal im Flur stellt er seine Schuhe ordentlich neben ihre, die sie nach Farben geordnet hat; auf dem Küchentisch liegt eine Wachstuchdecke, abends backt Lena gern Pizza.
Evans ist fleißig, pünktlich, höflich, wissbegierig. Als seine Schulklasse den bayerischen Landtag besuchte, ging er ans Rednerpult und bat die Landtagsabgeordneten um bessere Bedingungen für Flüchtlinge. Er schaffte seinen Hauptschulabschluss mit 2,2, sein schlechtestes Fach war Deutsch, da hatte er eine Drei. Lena machte Abitur, 2,5, nach einem freiwilligen sozialen Jahr im Kindergarten begann ihr duales Studium, Bank und BWL. Zweimal pro Woche geht Evans ins Fußballtraining beim FC Hochzoll in Augsburg, Kreisklasse A, Stürmer, laufstark, sein Trainer sieht ihn »auf einem höherem Niveau«, irgendwann will Evans zum FC Augsburg ins Probetraining. Ein Augsburger Modegeschäft bot ihm einen Ausbildungsplatz als Verkäufer an. Um die Zustimmung der Ausländerbehörde und der Arbeitsagentur zu bekommen, reichte er den Ausbildungsvertrag ein. Weil er gern fotografiert und modelt, zog er sich an einem Wintertag ein FC-Bayern-Shirt an und bat eine Betreuerin, ein Foto davon zu machen, wie er die Bälle köpft. »Der Schnee war weiß, das Bayern-Logo rot, meine Haut so schwarz, ein super Foto«, sagt er. Evans nahm damit am Fotowettbewerb des Integrationsbeauftragten des bayerischen Landtags teil. Der Wettbewerb sollte zeigen, »wie Bayern von seinen Migranten geprägt wird, woran man diese Bereicherung sieht und wie sich Migranten in ihrer neuen Heimat eingerichtet haben«.
Im März 2013 gewann Evans den ersten Preis im Wettbewerb »Die kulturelle Vielfalt Bayerns«. Evans zog sich für die Preisverleihung ein schönes Hemd an, es gab Orangensaft und eine Urkunde. Im Herbst 2014 lag ein grauer Briefumschlag im Postkasten. Es war der Bescheid seiner Abschiebung.
An diesem Abend saßen Evans und Lena schweigend auf der neuen schwarzen Ledercouch, für die sie monatlich fünf Euro abzahlt, Null-Prozent-Finanzierung.
Wäre Evans in diesem Land geboren worden, man würde ihn einen tüchtigen jungen Mann nennen, seine stolzen Eltern würden ihm Apfelkuchen backen und 20-Euro-Scheine zustecken. In meiner Kindheit zwischen Langnese-Eisschirmen und Butterblumen hat man goldene Sterne oder bunte Tiere ins Heft geklebt bekommen, wenn man so fleißig wie Evans war. Es ist aber nicht sein Land.
Wie soll man auf Evans reagieren: Ihn in den Arm nehmen, trösten, seine Bemühungen loben – und ihm dann freundlich, aber mit fester Stimme erklären, man könne nicht jeden in dieses Land lassen, sorry, das müsse er verstehen, der Wohlstand reiche nicht für alle? Er möge doch bitte auf seinem eigenen Kontinent für Ordnung sorgen?
Evans soll nach Kenia abgeschoben werden, denn er kann Suaheli und Luo – Sprachen, die es in Uganda wie auch in Kenia gibt: Als Kind war er auch kurz mit seinen Eltern nach Kenia geflüchtet, als Kämpfe in Uganda ausbrachen. Der graue Brief besagt, dass sein Asylantrag abgelehnt wurde, weil er bei der Befragung ungenau geantwortet habe, weil er zeitliche Zusammenhänge durcheinandergebracht habe, weil er seine Geschichte nicht beweisen kann. Und überhaupt: In Kenia könne er sicher leben. »Aber ich kenne dort niemanden«, sagt Evans. »Und bei der Befragung habe ich vieles nicht verstanden. Außerdem habe ich gedacht, wenn man an eine Tür klopft und um Hilfe bittet, stellt man sich in gutem Licht dar. Ich habe nicht erzählt, dass ich als Kindersoldat furchtbare Dinge tun musste. Das hätte ich besser getan. Ich würde gern noch mal befragt werden.« Seine Anwälte sagen, das könne er vergessen.
Evans war an dem Wintertag, an dem wir uns kennengelernt haben, in der Bayernkaserne, um einen zweiten Asylantrag einzureichen. Seit Jahren versuchen Lena und er auch zu heiraten, aber Evans hat keinen Pass, und ohne Pass ist keine Heirat möglich. Die Arbeitsagentur hat die Einwilligung für die Ausbildung wegen des Abschiebebescheides verweigert. Lena hat ihr Studium abgebrochen und arbeitet nun Vollzeit an der Kasse, um sich und Evans zu finanzieren und die Anwaltskosten zu bezahlen. Sie essen nur noch ganz selten Wurst, sagt Lena, und wenn, dann immer die gleiche, die für 89 Cent.
Natürlich weiß ich, dass ein Land nicht grenzenlos Menschen aufnehmen kann. Aber seit ich Evans kenne, den staatlich beurkundeten Super-Migranten, denke ich: Müsste es nicht eine Möglichkeit für ihn geben? Eine Ausnahme? Ein Schlupfloch?
Als müsste ich mich auf eine Gerichtsverhandlung vorbereiten, suche ich nach Argumenten, und da lande ich schnell auch bei welchen, die etwas Heikles an sich haben, aber da sie im Raum stehen, kann ich sie auch nicht ignorieren, also: Im vergangenen Jahr sind allein in Bayern 30 000 Ausbildungsplätze und Tausende Arbeitsplätze in Handel, Industrie und Handwerk unbesetzt geblieben. Schon suchen Firmen gezielt nach Asylbewerbern. Der Präsident der Handwerkskammer fordert ein Bleiberecht für motivierte Flüchtlinge. Doch nur 1,1 Prozent der Asylanträge in Deutschland werden bewilligt.
Man könnte also sagen: Wer sich so bemüht wie Evans und dem Staat etwas bringt, muss doch bleiben dürfen. Das ist Bildungs- und Eliterassismus, ein Numerus clausus an der Grenze, aber es ist immerhin ein rationales und messbares Kriterium. Andererseits finde ich, dass unsere Demokratie, die auf humanistischen Grundsätzen gebaut ist, auch die Schwachen und nicht so Schlauen schützen soll.
Wir teilen jetzt schon Flüchtlinge ein, in gute und weniger gute: Der Kriegsflüchtling hat unseren Schutz verdient, dagegen ist derjenige, der vor Hunger, Armut oder Aussichtslosigkeit flieht, ein Eindringling, der von den Sozialsystemen profitieren will. Dabei sagen Ökonomen, wenn wir nicht mehr Zuwanderer aufnehmen, haben wir bald ein Problem: In den nächsten zehn Jahren werden wegen schrumpfender Bevölkerungszahlen 6,7 Millionen Arbeitskräfte wegfallen; nur Zuwanderer können diese Lücke schließen. Sie bringen einen volkswirtschaftlichen Nutzen.
Aber zum Teufel mit dem volkswirtschaftlichen Nutzen: Dass Evans abgeschoben wird, fühlt sich für mich einfach falsch an. Ich will schlicht nicht, dass er gehen muss. Warum? Weil ich ihn mag. Und wieso mag ich ihn? Weil er Mathe liebt, gern Hühnchen isst und Playstation spielt, gute Manieren hat, Deutsch spricht, auf strukturierte Tagesabläufe Wert legt, sich an Regeln hält – das wird jetzt unangenehm für mich: weil er mir ähnlich ist. Menschen neigen dazu, das Ähnliche zu bevorzugen. »Evans ist in vielen Bereichen viel deutscher als ich«, sagt Lena. Evans sagt: »Ich liebe die Ordnung in diesem Land, die Organisation – und dass nicht alles so laut ist.« Mir ist klar, dass das, was ich mir für Evans wünsche, auch für Abertausende andere Flüchtlinge gelten müsste, die ich nicht kennengelernt habe, die aber ebenso nett und anständig sind wie Evans, und dass ich vielleicht darüber nachdenken sollte, ob ich ein paar Afrikaner auf unbestimmte Zeit in meinem Wohnzimmer beherbergen und inwieweit ich überhaupt auf Annehmlichkeiten verzichten würde, damit Menschen aus anderen Teilen der Welt und in anderen Teilen der Welt besser leben. Aber noch bin ich an diesem einfachen Punkt: Evans soll bleiben.
Vielleicht will ich mit meinem Mitgefühl für ihn auch nur meine aufgewühlte Seele beruhigen? Wie viele Menschen berühren mich die Bilder der im Meer treibenden Flüchtlinge – aber versuche ich denn, sie zu retten? »Kognitive Dissonanz« nennen Psychologen den Zustand des Unwohlfühlens, der eintritt, wenn man einen inneren Widerspruch auszukämpfen hat. Eine beliebte Strategie, diesem Zustand zu entkommen, ist das Verdrängen. So wie ein Raucher weiß, wie gesundheitsschädlich Zigaretten sind, aber weghört, wenn Ärzte von Teerlungen sprechen, weiß ich, dass es ein Verbrechen ist, kollektive unterlassene Hilfeleistung, wenn all die Flüchtlinge im Meer verrecken – und schaue schnell weg. Diesmal gibt mir meine Sorge um Evans das Gefühl, etwas tun zu müssen.
Ich weiß auch schon lange, dass es diese Lager am Hosenbund der Städte gibt. Man kommt dort aber nicht vorbei, wenn man durch die Innenstadt shoppt. Ich bin erst hingefahren, als ich es beruflich musste. Ich habe vorher auch nicht in den Kleiderkammern geholfen. Ich bin mit schuld an verfehlter Asylpolitik, weil ich ein Teil der schweigenden, desinteressierten Masse bin. Doch nun sind Vertreibung, Gewalt und Armut für mich zur Geschichte eines Menschen geworden, die mich schlecht schlafen lässt. Der US-Psychologe Gordon Allport entwickelte 1954 die »Kontakthypothese«, die mittlerweile mehrfach wissenschaftlich bestätigt wurde: Kontakt zu Fremden reduziert die Vorurteile ihnen gegenüber sofort und nachhaltig. Genauso geht es mir.
Evans hat in der Schule einen Aufsatz geschrieben, von dem der Lehrer sagte: Den müsstest du in einer Zeitung drucken. Er schrieb: »Deutschland ist für mich wie die Liebe, von der ich träumte, die meine Liebe aber nicht erwidert. Ich möchte irgendwann besser Deutsch sprechen als manche Deutsche. Manche haben ihren Traum und ihren Ehrgeiz verloren und leben vor sich hin. Aber ich nicht! Am Ende habe ich nur eine Frage: Warum, lieber Staat, akzeptierst du mich nicht, obwohl all die anderen es können?«
Viele der Fragen, die ich mir stelle, seitdem ich Evans kenne, kann ich nicht beantworten. Ich verzweifle an ihnen. Ich weiß bloß, dass es ungerecht ist, was Evans widerfährt – auch, wenn es nach geltendem Gesetz kein Unrecht ist.
Evans hat sich an dem Tag in der Bayernkaserne, an dem wir ihn interviewt haben, ein paar Fußballschuhe gewünscht. Die Leser des SZ-Magazins haben für ihn Geschenke in die Redaktion geschickt, Fußballkarten, ein Parfum von Puma, ein Bayern-Trikot und zwei Paar Turnschuhe, darunter ein nagelneues, neonrotes, aus leichtem Hightech-Material. Unangetastet steht es im schwarzen Vitrinenschrank in Lenas Wohnzimmer: Die Schuhe will er erst tragen, wenn er irgendwann beim FC Augsburg im Probetraining vorspielt. Wie ein Klassenprimus, der sich vor der großen Prüfung Stifte und Lineal zurechtlegt, betrachtet er sie. Als ob dieses Land gnädig mit ihm wäre, sobald er diese Prüfung schafft.
Foto: Julian Baumann