Der Kreml, 230 Millionen Dollar und der Unbestechliche

Wie ein russischer Anwalt einen gewaltigen Steuerbetrug aufdeckte - und dann unter seltsamen Umständen starb.

Bill Browder in seinem Londoner Büro. Browder war ein Kunde von Sergej Magnitski - und will nun dessen Ruf retten.

Sergej Magnitski, der Moskauer Steueranwalt, der im Herbst 2007 den größten bekannten Steuerbetrug der russischen Geschichte aufdeckte und zwei Jahre später im Gefängnis ums Leben kam, liebte geräucherten Käse.

Seine Mutter Natalia, die in Naltschik lebte, einer Stadt am Nordkaukasus mit atemberaubenden Bergkulissen, brachte ihm an Silvester immer eine dicke, zwei Kilo schwere Scheibe Käse mit. Sie fuhr mit dem Zug durch ein großes Stück Russland, vom Süden in den Norden, anderthalb Tage. Sergej holte sie in Moskau am Bahnhof ab. Er wohnte mit seiner Frau (die wie seine Mutter heißt: Natalia) und zwei Söhnen in einer Vierzimmerwohnung mit einer breiten, ums Eck laufenden Terrasse am Pokrowka im Herzen der Hauptstadt. Magnitski verdiente gut für Moskauer Verhältnisse und sehr gut für die Verhältnisse von Naltschik, wo er aufgewachsen war: 10 000 US-Dollar im Monat. Er arbeitete für Firestone Duncan, eine amerikanische Kanzlei mit gutem Ruf.

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Silvester 2008 verbrachte Magnitski in Untersuchungshaft. Seine Mutter kam wie immer mit dem Zug aus Naltschik, mit dem Käse, aber sie durfte ihren Sohn nicht sehen. Erst zehn Monate später sprach sie ihn wieder – durch zwei vergitterte, verkratzte, milchige Glasscheiben. Sie kamen zu zweit, Mutter und Ehefrau, seine beiden Natalias, drängten sich auf einem Quadratmeter in der Besucherkabine, bekamen eine Stunde Zeit und eine Telefonmuschel, die sie sich gegenseitig reichten.

Magnitski fragte, wie es seinen Söhnen ging, ob der Ältere mit dem Studium klarkam, in seinem ersten Semester, und ob der Jüngere, sieben Jahre alt, immer noch den Kater mit Hausschuhen bewarf. Zwei Wochen später sahen sie Sergej im Gericht.

Er saß in einem Käfig rechts von ihnen, sie durften einander nichts sagen. Pscht, sagten die Wachmänner. Er sah erschöpft aus, bleich. Es wurde immer noch keine Anklage erhoben, es ging darum, ob seine Untersuchungshaft verlängert wird. Sie wurde verlängert. Vier Tage später sahen sie ihn das letzte Mal. Er lag im Leichenhaus, mit geschundenen, zu Fäusten geballten Händen, mit Blutergüssen an den Beinen. Er wurde 37 Jahre alt.

»Ich kann keinen geräucherten Käse mehr essen«, sagt heute Natalia Magnitskaja, die Mutter. »Ich kann diesen Käse nicht mehr sehen.«

Sie lädt zum Gespräch in die Wohnung, aus der ihr Sohn abgeholt wurde. Im schwach beleuchteten Wohnzimmer hängt immer noch sein Porträt. Sergej mit seinem Lieblingskater. Im Regal stehen seine Bücher. Russische Volksmärchen, Hemingway, Hesse, eine mehrbändige Geschichte Russlands, eine Büste des Hippokrates.

Der Fall Magnitski ist nicht abgeschlossen. Nicht für seine Familie. Nicht für Sergejs Arbeitgeber. Nicht für Wladimir Putin. Nicht für Barack Obama. Nicht einmal für Magnitski selbst, denn er ist nun – posthum – angeklagt und wird ausgerechnet jenes Steuerbetrugs bezichtigt, den er einst aufdeckte.

Der letzte Mensch weltweit, der nach seinem Tode angeklagt wurde, war Papst Formosus im neunten Jahrhundert; sein Leichnam wurde für das Prozedere exhumiert. Magnitskis Leichnam bleibt zwar im Grab, aber das russische Fernsehen hat einen leeren Käfig im Gerichtssaal gezeigt, als Sinnbild für den toten Angeklagten.

Präsident Putin sagte bereits 2012, er sei genau informiert, dass Magnitski nicht gefoltert worden sei, sondern an Herzversagen gestorben. Er sei »nicht irgendein Menschenrechtler« gewesen, sondern ein Firmenanwalt. Außerdem, merkte Putin an: Sterben in amerikanischen Gefängnissen etwa keine Menschen?

Wäre im vergangenen Jahr der Ukraine-Krieg nicht ausgebrochen, stünde der Name Magnitski heute für den tiefsten diplomatischen Riss zwischen Moskau und dem Westen seit dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan. US-Präsident Obama unterzeichnete 2012 den »Sergei Magnitsky Rule of Law Accountability Act«. Dieses Gesetz verbietet Russen, die nach Einschätzung des US-Senats in Magnitskis Tod verwickelt waren, die Einreise in die USA und friert ihre amerikanischen Konten ein; mittlerweile geht es um 34 Beamte, von der Gefängnisärztin bis zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt. Russland reagierte mit einem Einreiseverbot für 18 US-Beamte, die für Folter in Guantanamo verantwortlich sein sollen. Außerdem – eins drauf: Moskau untersagte amerikanischen Familien, russische Waisenkinder zu adoptieren.

Anders als die Folterverhöre amerikanischer Geheimdienste und anders als die Annexion der Krim oder die Tragödie der MH17 lässt sich der astronomische Steuerschwindel, den Magnitski aufdeckte, lückenlos rekonstruieren.

Ende Februar erscheint in Deutschland die Autobiografie von William Felix »Bill« Browder, dem ehemals größten ausländischen Finanzinvestor in Russland, sie heißt Red Notice. Wie ich Putins Staatsfeind Nr. 1 wurde (Hanser Verlag). In Sachen Steuern wurde Browders Fonds Hermitage Capital von der Firma Firestone Duncan beraten, vor allem von Sergej Magnitski.

Das Buch erzählt anhand von Hunderten Unterlagen – internationaler Zahlungsverkehr, Steuerbescheide, interne Anweisungen der Gefängnisleitung –, wie eine Gruppe krimineller Beamter umgerechnet 230 Millionen Dollar aus der russischen Staatskasse stahl und die Schuld daran Browder zuschieben wollte. Browder war damals bereits Freiwild. Einst hatte er Putin gegen Kritik aus dem Westen verteidigt, vor allem dessen Vorgehen gegen Oligarchen, aber 2005 war Browder selbst aus der Gunst des Kremls gefallen.

Magnitskis Schicksal zeigt daher nicht nur, welche Willkür in Russland oft herrscht – sondern auch, wie sich die Hoffnungen vieler Russen und Ausländer zerschlugen, dass unter Putin alles besser würde.

Magnitski sollte in Haft gegen seinen ehemaligen Kunden Browder aussagen, aber das lehnte er ab. Er hatte nie an Märschen teilgenommen oder Korruption angeprangert, wie es heute etwa der charismatische, mit Klagen überzogene Oppositionelle Alexej Nawalni tut. Magnitski war Teil einer dünnen, aber wachsenden Mittelschicht, die in Putins Russland Geld verdienen durfte, solange sie die politischen Verhältnisse nicht infrage stellte.

Magnitski stellte das System nie öffentlich infrage. Er glaubte einfach an das Gesetz: daran, dass Beamte, die sich aus der Staatskasse bedienen, auf die Anklagebank gehören. Er beschuldigte diese Beamten auch dann, als er in eine Zelle verlegt wurde, deren Boden mit Fäkalien überschwemmt war. Auch dann, als er sich in Haft eine akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse zuzog und von Gefängnisärzten verhöhnt wurde (»Man wird Sie schon behandeln, wenn Sie hier rauskommen.«) Auch dann, als er Brei mit Insektenlarven essen musste und mit Gummiknüppeln verprügelt wurde.

Browders Buch ist eine detaillierte Hommage an Magnitskis Berufsethik und Mut. Und es ist eine Abrechnung mit Putin. Mit jenem System, das Magnitski nie bekämpfte und das ihn trotzdem tötete. Browders Buch trägt im englischen Original einen noch persönlicheren Titel: How I Became Putin’s No. 1 Enemy. Also einfach: »enemy«, Putins Feind, nicht Staatsfeind.

Es war Browder, der die US-Senatoren dazu brachte, den Magnitsky Act zu verabschieden. Im Buch beschreibt er seine Bemühungen, ähnliche Gesetze auch in Europa durchzusetzen. Von England aus betreibt er die Internetseite russian-untouchables.com, die den sagenhaften Reichtum einiger Moskauer Ermittler und Steuerbeamter dokumentiert: Luxuswohnungen in Dubai, Luxushäuser in Moskau.

Browder, gebürtiger Amerikaner mit britischem Pass, ist fünfzig Jahre alt. Er hat Mandelaugen, sein krauses, stellenweise graues Haar wächst ihm nur noch an den Seiten. Aus dem Fenster seines Büros in London, in dem er die Besucher empfängt, sieht er auf einen ruhigen Platz. Im Großraum nebenan arbeitet ein Dutzend seiner ehemaligen Angestellten aus Moskau. Sie sind in Kontakt mit Ermittlern in der Schweiz, auf Zypern, in Moldawien, Österreich, im Baltikum, in Hongkong. Sie spüren den geklauten 230 Millionen Dollar hinterher.

»Es ist so viel sinnvoller, für Gerechtigkeit zu kämpfen als für Geld«, sagt Browder. Sein Fonds verwaltete einst Investitionen von 6000 Anlegern aus dreißig Ländern, Volumen: 4,5 Milliarden Dollar. Heute verwaltet Browder nur noch sein eigenes Vermögen. Er sagt, er widme 95 Prozent seiner Zeit der Magnitski-Kampagne.

»Im Idealfall müssten diese Leute in Russland wegen Folter und Mord vors Gericht«, sagt Browder, »aber wir wissen, dass das unter Putin undenkbar ist.« Er hat Ermittlungen in mehreren Ländern angestoßen, die nun, ohne seine Beteiligung, weitere Ermittlungen auslösen. Er rechnet weltweit mit zwanzig Strafverfahren wegen Geldwäsche. »Das ist wie Krebs für die fiesen Kerle.«

An der Wand in Browders Büro hängt ein vergrößertes Cover des Time Magazine vom 30. Mai 1938. Es zeigt seinen Großvater, Earl Browder, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der USA, nach seiner ersten gescheiterten Präsidentschaftskandidatur. Earl Browder verbrachte einige Jahre in Moskau, war mit einer Russin verheiratet und lieferte, wie später herauskam, Informationen an sowjetische Geheimdienste. Als er mit seinem beispiellos erfolgreichen Anlagefonds berühmt wurde, scherzte Browder, er sei Kapitalist in Moskau geworden, um gegen seine kommunistische Familie zu rebellieren.

Nun macht er keine Scherze mehr, wenn er über Russland spricht. »Ich denke, Putin gab den Befehl, mich aus dem Rennen zu nehmen«, sagt Browder. »Er hat nicht die Zeit, solche Situationen im Detail zu managen. Aber seine Leute können dann alle Mittel einsetzen, um aus seinem Befehl Kapital zu schlagen. Die russische Regierung ist wie die Sopranos. Es gibt die New-Jersey-Mafia, die Philadelphia-Mafia, die Brooklyn-Mafia. Die Staatskasse ist deren Sparschwein.«

2013 verurteilte ein Moskauer Gericht Browder in Abwesenheit zu neun Jahren Haft, wegen Steuerhinterziehung. Der Kreml versuchte bereits dreimal, bei Interpol einen internationalen Haftbefehl gegen ihn zu erwirken, die sogenannte Red Notice – ohne Erfolg.

Der Oligarch Boris Beresowski, ein anderer Putin-Feind, der sich erfolgreich gegen eine Auslieferung aus dem britischen Exil gewehrt hatte, wurde 2013 im Bad seines Hauses in Ascot nahe London tot gefunden. Browder nennt sein Buch deswegen auch eine »Schutzmaßnahme«. Im letzten Kapitel mit der Überschrift »Gefühle« schreibt er: »Wenn ich umgebracht werde, dann werden Sie wissen, wer es getan hat. Wenn meine Feinde dieses Buch lesen, werden sie wissen, dass Sie es auch wissen.«

Die gemeinsame Geschichte von Browder, Magnitski und Putin beginnt 1996 in Moskau. Es ist ein heißer Sommer, bis zu dreißig Grad im Schatten. Sergej Magnitski: 24 Jahre alt, ein heller Kopf und frisch verheiratet, arbeitet seit einem Jahr bei Firestone Duncan. Die Firma gehört einem jungen Amerikaner, der sich im wilden russischen Kapitalismus gut geschlagen hat. Für Firestone Duncan verlässt Magnitski sogar Ernst & Young, eine viel größere Firma, die ihn aber nur mit Routineaufgaben betraut hat. Natalia, Sergejs Jugendliebe aus Naltschik, ist zu ihm nach Moskau gezogen. Sie war kurz mit einem anderen verheiratet und bringt ihren vierjährigen Sohn mit in die Ehe. Das Paar mietet eine Einzimmerwohnung in Sokolniki, in der Nähe eines beschaulichen Parks. Sergej besorgt ein Abonnement für die Philharmonie. Er liest viel und schläft dabei oft auf dem Bodenteppich ein. Er sieht älter aus, als er ist, und trägt den Ernst von Menschen im Gesicht, die früh reif geworden sind.

Bill Browder: 32 Jahre alt, pendelt zwischen London und Moskau. In London lebt seine schwangere Freundin, sie wollen heiraten, aber sie will nicht nach Russland ziehen. In Moskau ist Browder dabei, den profitabelsten Anlagefonds der russischen Geschichte aufzuziehen. Dafür hat er Salomon Brothers verlassen, eigentlich ein Traumjob an der Wall Street, aber Browder will richtig Geld machen, in Russland, wohin sich sonst kein ausländischer Investor traut. Russland schlittert gerade in eine Präsidentschaftswahl, bei der alle Umfragen den Sieg der Kommunisten vorhersagen. Für den Amtsinhaber Boris Jelzin, der das Land aus der Sowjet-Vergangenheit führen wollte, liegen die Zustimmungswerte im Frühjahr 1996 bei fünf Prozent.

Unter Jelzin haben zwei Dutzend Oligarchen vierzig Prozent der russischen Wirtschaft untereinander aufgeteilt. Bei seiner Ankunft in Moskau hebt Browder auf der Suche nach einem Taxi die Hand, und es hält ein Krankenwagen. »Jedes Fahrzeug war ein potenzielles Taxi. Privatautos, Müllautos, Polizeiautos – jeder brauchte so dringend Geld, dass jeder Fahrgäste mitnahm«, schreibt er in seiner Autobiografie.

Browder entdeckt, dass die Aktien russischer Unternehmen im Vergleich zu den Anteilen vergleichbarer Firmen im Westen drastisch unterbewertet sind, um bis zu 99 Prozent. Er überzeugt den libanesischen Milliardär Edmond Safra, den Gründer der Republic National Bank of New York, ins Russlandgeschäft einzusteigen, und mietet ein kleines Büro mit Blick auf heruntergekommene sowjetische Wohnblöcke. Browder nennt seinen Fonds Hermitage, nach dem berühmten Museum in Sankt Petersburg.

Wladimir Putin: 44 Jahre alt, zieht im August 1996 von Sankt Petersburg nach Moskau. Er verlässt seine Heimatstadt ungern, jedenfalls sagt er das in die Kamera. Eine Aufnahme dieses letzten Interviews am schummerigen Flughafen Pulkowo steht auf Youtube. Putin, kurz zuvor stellvertretender Oberbürgermeister von Petersburg, trägt da einen unglücklich geschnittenen grauen Anzug und eine golden schimmernde Uhr, noch am linken Handgelenk (als Präsident wird Putin seine Uhren am rechten Handgelenk tragen, weil ihn links das Aufziehknöpfchen stört). Er wechselt als Haushalter in die Präsidialverwaltung. Bei seiner Abreise wird er gefragt, ob er vom »Petersburger Clan« nach Moskau geholt werde. Putin sagt, er habe nie irgendwelchen Clans angehört. »Ich bin ein Mensch von Mama und Papa.«

Putin arbeitet nun für Jelzin. Oligarchen, die wichtige Banken und Medien kontrollieren, haben für Jelzins Wiederwahl gesorgt und sich im Gegenzug Zugriff auf weitere Staatsunternehmen gesichert. In einem seiner ersten Moskauer Interviews skizziert Putin seine Vision für Russland. »Uns allen scheint es manchmal, und ich muss zugeben, auch mir scheint es manchmal: Sobald man hier mit harter Hand eine solide Ordnung schafft, werden wir schon alle besser, behaglicher und sicherer leben. In Wirklichkeit aber wird dieses Wohlgefühl sehr schnell verschwinden, denn diese harte Hand wird sehr schnell anfangen, uns zu
würgen.«

1996 war für Magnitski, Browder und Putin jeweils ein Wendejahr. Ihre Karrieren bekamen das, was Karrieren von Lebensläufen unterscheidet – die Männer fingen an zu gestalten.

Dezember 2014, ein Vorort von London, nördliches Ufer der Themse. Magnitskis Witwe Natalia lädt in ein kleines Café an der Hauptstraße. Zischende Kaffeemaschine, Weihnachtsbeleuchtung. Zu Hause liegt Magnitskis jüngster Sohn Nikita mit Fieber im Bett. Das ist das Kind, das den Lieblingskater seines Vaters einst mit Hausschuhen bewarf. Er ist jetzt 13 und geht in London zur Schule. Sie leben hier seit mehr als zwei Jahren. Natalias Sohn aus der ersten Ehe blieb in Moskau. Er heiratete im vergangenen Jahr.

Was hat Sergej Magnitski gestaltet?

Am Vormittag des 24. November 2008 gegen elf Uhr kam Natalia von einem Arzttermin nach Hause und sah fünf fremde Männer in ihrem Schlafzimmer, in Zivil, nur einer in Uniform. Sie nahmen stapelweise Papiere mit, Sergejs Laptop, Nikitas Zeichnungen.

»Macht euch keine Sorgen, ich bin morgen wieder da«, habe er gesagt.

Magnitskis Witwe (links) besucht gelegentlich seine Mutter in der Moskauer Wohnung der Familie. Beide Frauen heißen Natalia. (Foto: Max Sher)

Magnitski hatte zu Hause nie über Arbeit gesprochen. Natalia sagt, sie habe bis zu seiner Verhaftung nichts über Hermitage Capital gewusst. Sie kochte, machte mit den Söhnen Hausaufgaben, spielte mit ihnen Computerspiele. Nur einmal, 2005, nachdem Browders Visum annulliert worden war, habe Sergej gesagt: »Ein Kunde von uns darf nach Russland nicht einreisen, obwohl er hier Steuern zahlt. Verrückt.«

Als es draußen schon dämmerte, waren alle Zimmer durchsucht, und sie nahmen Sergej mit. Er verabschiedete sich nicht. »Macht euch keine Sorgen, ich bin morgen wieder da«, habe er gesagt.

Natalia kannte Sergej seit der neunten Klasse. Er war Mitglied im Komsomol gewesen, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, war stark in Mathe wie in Literatur und konnte gut Kartoffeln braten. »Er verstand sich gut mit den meisten Menschen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich je geprügelt hätte.«

Er gab nie Schmiergeld. Nachdem sie 1998 eine Schiffsreise nach Odessa unternommen und unterwegs in Kiew gestrandet waren, weil die Reederei verschuldet war und das Schiff beschlagnahmt wurde, schrieb Magnitski Beschwerden, bis sie ihr Geld zurückbekamen. »Nicht weil wir das Geld bitter nötig gehabt hätten, aber aus Prinzip«, sagt Natalia. Aus Prinzip verteidigte er vor Gericht eine Schule, von der verlangt wurde, dass sie Steuern auf eine Spende zahlt, obwohl der Schulleiter sich bereits mit dem Geld aus dem Staub gemacht hatte.

Magnitski war nicht getauft, aber er las in der Bibel und fastete, wobei er rigoros die Regeln einhielt. »Er ließ sich nie von dem abbringen, was er richtig fand«, sagt Natalia.

Aber dass ihr Mann für das, was er für richtig hielt, auch zu sterben bereit war, das erfüllt Natalia nicht nur mit Stolz. »In meinen schwachen Minuten denke ich: Musste das wirklich sein?« Zwei Kinder ohne Vater.

Im Gefängnis schrieb Magnitski Tagebuch. »Am 24. August 2009 verschärften sich meine Schmerzen derart, dass ich nicht einmal liegen konnte. Mein Zellengenosse begann, gegen die Tür zu schlagen, und verlangte, dass ich zum Arzt geführt werde. Das war gegen 16 Uhr. Der Wärter versprach, den Arzt zu holen, aber der kam nicht, obwohl mein Zellengenosse weiter gegen die Tür schlug.«

Das notierte Magnitski in der Butyrka, Moskaus größtem, ältesten, berüchtigtsten Gefängnis. Zu Stalins Zeiten war es mit einem Erschießungskeller ausgestattet. Es liegt im Zentrum, ganz in der Nähe von Magnitskis ehemaligem Büro.

Während seiner Haft wurde Magnitski fünfmal zwischen vier unterschiedlichen Anstalten und innerhalb dieser Anstalten in zwanzig unterschiedliche Zellen verlegt, sobald er sich in der jeweiligen Zellenhierarchie zurechtgefunden hatte. In einem Gefängnis hatte man bei ihm Gallensteine und eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert. Der Arzt plante eine OP ein, aber wenige Tage vor der OP wurde Magnitski in die Butyrka verlegt. In der Butyrka gibt es keinen OP-Saal. Magnitski notierte: »Die Krankenschwester war sehr verärgert, sie blätterte in meiner Krankenakte und sagte: Was für eine Untersuchung wollen Sie denn, was für eine Behandlung? Sehen Sie, hier steht, Sie seien bereits behandelt worden. Soll man Sie etwa jeden Monat behandeln?«

Da Magnitski mit seiner Frau lieber über Mozart und Dostojewski sprach als über Politik, ist unklar, was er von Wladimir Putin hielt und ob sich seine Einstellung im Laufe der Zeit änderte. Seine Witwe kann sich nicht erinnern, dass er je zur Wahl gegangen wäre. Sie selbst habe 2004 noch Putin gewählt. »Ich hatte viele Hoffnungen auf eine lichte Zukunft.«

Nur einmal, als der widerspenstig gewordene Oligarch Michail Chodorkowski verhaftet wurde, Chef des Ölkonzerns Jukos und der reichste Mann Russlands, habe Sergej gesagt: Irgendwas stimmt hier nicht. Natalia fand die Verhaftung richtig.

Bill Browder fand sie sehr richtig. Es sei unmöglich gewesen, sagt Browder heute, in den Neunzigern in Russland zu leben und nicht empört zu sein über Präsident Jelzin und seine Oligarchen. »Sogar als Boss eines Hedgefonds war man berührt von der Armut der Menschen. Putin war dieser neue Kerl, der sich nicht betrank, der aufräumte.« Putin senkte den Einkommenssteuersatz, er bemühte sich, Steuerschlupflöcher zu schließen. Browders Fonds ging es unter Putin hervorragend. Hermitage war der profitabelste Aktienfonds der Welt, mit einer durchschnittlichen Jahresrendite von 31 Prozent.

Seine Frau in London trennte sich nach einer kurzen Ehe von Browder. »Ich wollte kein ›normales Leben mit einem normalen Job‹ in London führen, wie sie es sich wünschte«, schreibt Browder in seiner Autobiografie. »Und sie wollte nichts mit meinem verrückten Leben in Moskau zu tun haben.« Er lernte eine russische PR-Agentin kennen.

Browder verdiente nicht nur Geld. Er entlarvte Misswirtschaft in den Unternehmen, an denen er beteiligt war. In weltweiten Medienkampagnen stellte er diebische, unfähige Manager an den Pranger. Manager wurden ausgewechselt, Unternehmen wurden transparenter – und der Wert ihrer Aktien stieg. An der Harvard Business School sprach man von einem »Hermitage-Effekt«. »Ich hatte den besten Job der Welt«, erinnert sich Browder. »Ich verdiente Geld und tat gleichzeitig Gutes.«

Browder legte sich dabei mit Menschen an, mit denen sich sonst keine Ausländer anlegten. Er beschäftigte 15 Bodyguards. »Ich habe nie Putin getroffen« sagt er. »Aber es gab eine Zeit, da hielten mich viele für seinen Handlanger. Wie sonst sollte ein Jungspund aus Chicago den russischen Oligarchen die Stirn bieten?« Seinen wichtigsten Sieg errang Browder über den Energiemonopolisten Gazprom. Als Putin den korrupten Gazprom-Chef feuerte, schoss die Gazprom-Aktie an einem einzigen Tag um 134 Prozent in die Höhe. Bald kostete sie bereits das 100-fache von dem Preis, den Hermitage einst dafür bezahlt hatte.

»Der Vorteil an Putin war«, sagt Browder: »Als ehemaliger KGB-Agent hatte er keine Vergangenheit. Jeder durfte sich seinen Putin zusammenwünschen. Auch ich blendete viel aus, den Krieg in Tschetschenien etwa.« Browder bekam erst Zweifel, als ein anderer Oligarch, den er gern hinter Gittern gesehen hätte, Roman Abramowitsch, von Gazprom 13 Milliarden Dollar für eine Ölfirma kassierte, die er sich unter dubiosen Umständen angeeignet hatte. »Ich sah, dass Putin nicht dabei war, eine korrupte Oligarchie zu beseitigen. Er baute seine eigene auf.«

Browder twittert viel über Russland. »Wollt ihr euch mir anschließen? Ich mache gerade Champagner auf«, twitterte er im vergangenen Dezember, als der Rubel drastisch an Wert verlor.

In den nächsten Wochen sollen im US-Senat öffentliche Anhörungen zu einem weltweiten Magnitski-Gesetz stattfinden. Wird das Gesetz verabschiedet, werden die USA korrupte Beamte aus jeglichen Ländern mit Einreiseverboten und Kontosperren belegen können, nicht nur die aus Russland.

Der Hermitage-Effekt jedoch scheint verpufft zu sein. Allein 2012 sollen mehr als 49 Milliarden Dollar illegal außer Landes gebracht worden sein. Das gab in einem überraschenden Interview der Vorsitzende der Russischen Zentralbank zu, bevor er den Posten räumte.

Dagegen erscheinen die 230 Millionen, auf die Sergej Magnitski 2007 stieß, wie ein Tropfen, wenn auch ein großer Tropfen. Dieses Geld floss durch Kanäle, durch die womöglich auch anderes Geld im postsowjetischen Raum gewaschen wird, nach Browders Informationen etwa das Vermögen des gestürzten ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. »Deswegen ist Putin so wütend«, sagt Browder: »Wir haben eins der Rohre freigelegt.«

Es gibt viele Möglichkeiten, Geld zu waschen, und noch mehr, Geld zu klauen. In Russland scheint seit Beginn der Nullerjahre die Masche mit der Steuerrückerstattung besonders verbreitet zu sein. Magnitski entdeckte sie.

Sie funktioniert so: Beamte des Innenministeriums stürmen eine Firma (im Sommer 2007 waren es drei Tochterunternehmen von Hermitage) und beschlagnahmen die Gründungsurkunden (bei Hermitage lautete der Vorwand: Verdacht auf Steuerhinterziehung). Die Firmen werden auf Komplizen der Beamten umgeschrieben. Andere Komplizen bringen diese Firmen vor Gericht mit der Behauptung, sie seien von diesen Firmen betrogen worden. Die gekaperten Firmen geben ihre Schuld umgehend zu.

Hermitage wurde bezichtigt, im Jahr 2006 andere Unternehmen, von denen nie jemand gehört hatte, um eine Milliarde Dollar geprellt zu haben. In dem Jahr hatte Hermitage rund eine Milliarde Dollar Gewinn erzielt. Nun wurde diese Milliarde rückwirkend von der Bilanz getilgt. Die Betrüger gingen dann zum Steueramt und verlangten eine Rückerstattung. 24 Stunden später bekamen sie 230 Millionen Dollar überwiesen.

Sergej Magnitski saß zu dem Zeitpunkt bereits in Haft. Genau jene Beamte des Innenministeriums, denen Magnitski vorwarf, die Köpfe hinter dem Steuerschwindel zu sein, ermittelten nun gegen ihn.

»Es ging Sergej nicht um Hermitage-Geld«, sagt Browder. Hermitage hatte bereits vor den Razzien alle Aktiva verkaufen können, die gekaperten Tochterfirmen waren nur Hüllen. »Sergej machte wütend, dass diese Leute den russischen Steuerzahler bestahlen.«

Kurz vor dem ersten Todestag Magnitskis erhielten fünf Beamte, die für Magnitskis Inhaftierung zuständig waren, staatliche Auszeichnungen: »Bester Ermittler«, »Medaille der besonderen Dankbarkeit«. Drei wurden befördert.

Einige sind nach Hermitage-Informationen sehr reich geworden. Die Familie von Olga Stepanowa, Leiterin des Moskauer Steueramtes Nummer 28 (offizielles Jahresgehalt: 3500 Dollar), erwarb eine zwanzig Millionen Dollar teure Villa in Moskau, gemeldet auf Stepanowas Schwiegermutter, außerdem eine drei Millionen Dollar teure Villa in Dubai. Stepanowas Ehemann zahlte elf Millionen Dollar in bar auf Schweizer Konten ein.

Im vergangenen Dezember sprach Putin bei seiner Jahrespresse-konferenz über den Ex-Oligarchen Chodorkowski. Putin sagte, er habe Chodorkowski freigelassen, weil dessen Mutter krank war. »Mütter sind heilig. Ich sage das ohne jegliche Ironie.«

Sergej Magnitskis Mutter spricht nie über Putin. Als Sergej tot war, nannte man ihr im Gefängnis die Ursachen: Zerfall des Bauchspeicheldrüsengewebes, Riss des Bauchfells, toxischer Schock. Anderthalb Stunden später verkündete eine Sprecherin des Innenministeriums, Magnitski sei an Herzversagen gestorben. Dieselbe Sprecherin sagte später, den Verbleib der 230 Millionen Dollar könne man nicht mehr klären, denn das Auto mit den Bankunterlagen sei bei einem Unfall verbrannt.

Es hat nie eine unabhängige Autopsie gegeben. Überliefert sind Anweisungen der Gefängnisleitung, den Einsatz von Handschellen und Gummiknüppeln gegen Magnitski zu genehmigen. Die Gefängnisärztin sagte aus, Magnitski habe wegen einer akuten Psychose von acht Mitarbeitern ruhiggestellt werden müssen. Der zivile Arzt, der den Tod konstatierte, musste mehr als eine Stunde vor dem Gefängnis warten. Er fand Magnitski auf dem Boden einer Einzelzelle in einer Urinlache liegend, seit mindestens einer Viertelstunde tot.

Das russische Staatsfernsehen hat zwei Dokumentationen über Bill Browder ausgestrahlt. Sie unterstellen ihm, auf eine mysteriöse Art Magnitskis Tod eingefädelt zu haben. Browder sei auch für den russischen Staatsbankrott von 1998 verantwortlich.

Magnitskis Mutter hofft, dass ihr Sohn eines Tages rehabilitiert wird. »Familien der Stalin-Opfer mussten fünfzig Jahre warten, aber am Ende bekamen sie recht.«

Foto: Ronald Dick