Erwischt. Ausgerechnet in Geschichte. Keine drei Tage hat es gedauert, bis ein Schüler den neuen Aushilfslehrer als Hochstapler entlarvt: »Die Epoche der Aufklärung begann doch später. Mit Verlaub, glauben Sie nicht, dass es zu Ihren Aufgaben gehört hätte, sich auch umfassend auf den Stoff vorzubereiten?«, wirft mir der Schlauberger aus der letzten Reihe an den Kopf. Jeder Lehrer wünscht sich solch aufgeweckte kritische Schüler, ein Aushilfslehrer nicht unbedingt.
Durch den Ethikunterricht in der fünften und achten Klasse konnte ich mich noch durchlavieren: mit der aktuellen Kolumne der Gewissensfrage aus dem SZ-Magazin, allerdings nur mit mäßigem Anklang. Deutsch in der siebten Klasse ging auch noch: Merkmale des Berichts; Englisch in der Neunten nach einigen Minuten Blättern im Lehrbuch ebenfalls: ein paar Übungen zu Simple und Progressive Form. Sogar durch Latein konnte ich mich mogeln: Übersetzung der ersten Sätze des Gallischen Kriegs in einer siebten Klasse. Wann immer ich nicht weiterwusste, rief ich den Klassenprimus auf: »Was heißt wohl: propterea quod a cultu atque humanitate provinciae?« Erst bei Geschichte in der 11b komme ich mit lückenhafter Allgemeinbildung nicht mehr weiter. Dabei hatte der Geschichtslehrer, der zu einer Seminarprüfung musste, mich so gut gebrieft: mitsamt Kopie, auf der alle einzelnen »Stein-Hardenbergschen Reformen« aufgeführt wurden – »die kennen Sie ja noch aus Ihrer Schulzeit«, sagte Herbert Rogger. Von wegen. Aber ich gehe am nächsten Tag sogar halbwegs vorbereitet in die 11b. Nur eben nicht auf die entscheidende Frage, mit der der Schlauberger mich auch prompt vorführt: »Warum kam es denn überhaupt zu den Reformen in Preußen?« – »Ihr Geschichtslehrer hat mir erzählt, Sie hätten die Gründe in der letzten Stunde bereits durchgenommen.« – »Da war ich krank«, sagt der Schlauberger. – »Auf diese Frage weiß ich jetzt leider keine Antwort«, gebe ich zu. Dann reime ich mir dennoch etwas von der Aufklärung in Europa zusammen, die ich allerdings ein Jahrhundert zu früh ansetze. Wie peinlich.
Seit knapp zwei Jahren dürfen bayerische Schuldirektoren jedermann zum Aushilfslehrer berufen, den sie für geeignet erachten. Ohne Staatsexamen oder gar Referendariat, einfacher Magister in einem verwandten Fach reicht oft schon. Die sogenannte G8-Reform zur Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium hat den Lehrer-mangel in Bayern verschärft; mit der Erlaubnis, im Notfall Eltern oder andere Personen übergangsweise zu beschäftigen, will das Kultusministerium die Personalnot lindern.
In meinem Fall ließ der Direktor das gesamte Lehrerkollegium abstimmen: Ich erhielt nur vier Gegenstimmen, vielleicht weil ich selbst vor 25 Jahren an diesem Münchner Gymnasium Abitur gemacht hatte. Einige kritische Kollegen meinten: Drei Wochen Vertretungsstunden ergäben noch kein stimmiges Bild vom Lehreralltag – »Woher wollen Sie wissen, wie deprimierend die Korrektur von dreißig schlechten Schulaufsätzen werden kann?« Sie befürchteten auch, ein Journalist habe es bei den Schülern leichter als jeder Lehrer. Zumindest die letzte Sorge war unbegründet.
Das Oskar-von-Miller-Gymnasium in München-Schwabing, kurz Oskar genannt: fast einhundertfünfzig Jahre alt, ein schönes Gebäude, das schon vielen Fernsehproduktionen als Kulisse diente. Christian Ude war hier mal Schülersprecher. Erste Fremdsprache: Latein, deswegen stammen überproportional viele Kinder aus dem Bildungsbürgertum: Rechtsanwälte, Ärzte, auch Schauspieler. Latein ist heute wieder so populär, dass erstmals dreißig Schüler bei der Anmeldung für das nächste Schuljahr aus Platzgründen abgelehnt werden mussten.
Der Direktor Peter Schwartze, selbst Lateinlehrer, stellt mich in den Klassen vor. Die Schule hat ein freundlicheres, lebendigeres Gesicht als früher: Im Gang erklärt ein buntes, selbst gemaltes Plakat den Unterschied zwischen spanischen und südamerikanischen Wörtern, am schwarzen Brett Infos zum Schüleraustausch mit Italien, Frankreich, England, der heute die Regel ist, zu meiner Zeit die absolute Ausnahme; eine Abiturientin geht mit Schülern der Unterstufe in die Oper; der Hausmeister wünscht Glück bei den schriftlichen Abiturprüfungen; viel mehr Kinder als früher tragen asiatische, südländische oder osteuropäische Züge; viel mehr Lehrer sind Quereinsteiger aus der Wirtschaft oder von der Universität; eine Kantine wurde gerade fertig; es gibt einen Aufenthaltsraum mit Espressoautomat, im Hof stehen Tischtennisplatten.
Auf den Fluren bückt sich der Direktor nach weggeworfenen Papierschnipseln oder Wurstresten. Er geht stets links von seiner Begleitung durchs Schulhaus, ganz alte Schule. Was alle von ihm wissen: »Der Direktor kennt jeden von insgesamt 866 Schülern mit Namen. Auch die Eltern, sofern sie bei ihm schon einmal in der Sprechstunde saßen.« Einige Schüler verfluchen Schwartzes Elefantengedächtnis: Wen der Direktor zum dritten Mal morgens nach dem Gong am Haupteingang erwischt, der bekommt eine schriftliche Ermahnung.
Das Oskar-von-Miller-Gymnasium gilt als anspruchsvolle und beliebte Schule in München. Sicherlich keine Problemschule, aber mehr oder weniger mit allen typischen Problemen des deutschen Schulwesens konfrontiert: überfüllte Klassen, überanstrengte Lehrer, überreizte Eltern, überforderte Schüler. Ein paar Fälle von Magersucht und Flatrate-Saufen, alles im Rahmen des in der Gesellschaft Üblichen.
Geografieunterricht in einer achten Klasse: Afrika südlich der Sahelzone interessiert niemanden. Mädchen schminken sich, Jungs rangeln miteinander oder machen Hausaufgaben. »In Vertretungsstunden sind die Schüler es gewohnt, statt regulärem Unterricht ZFU zu bekommen – Zeit für uns«, hatte Schwartze gewarnt. »Da könnten Sie Schwierigkeiten erleben, regulären Unterricht abzuhalten.« Wie recht er hat.
»Du musst entweder streng oder witzig sein. Sonst machen sie dich fertig«, riet mir meine 16 Jahre alte Tochter. Der Direktor empfiehlt die Mischung: »strengwitzig«. Mein alter Deutschlehrer Rainer Glas warnt: »Es gibt kein Patentrezept.« »Authentisch zu sein« raten meine Kollegen ihren Referendaren. Wie reagiert man authentisch auf ein 14-jähriges Mädchen, das sich beim Schminken gestört fühlt und fragt: »Wollen Sie nicht lieber ein netter Vertretungslehrer sein, der uns tun lässt, wozu wir Lust haben?«
Im Lehrerzimmer vertrauen mir die neuen Kollegen in den nächsten Wochen an, was Lehrer so stört: Nicht mal hier ein fester Sitzplatz in der Schule – »und das Arbeitszimmer zu Hause dürfen wir nicht mehr von der Steuer absetzen«. Der Arbeitgeber nervt ohnehin – »Wir unterrichten heute drei Stunden länger als vor zehn Jahren für weniger Geld, Elternabende oder Schulausflüge nicht mal mitgerechnet.« Ständig Vorbild sein müssen, heimlich rauchen. Mitunter ärgert auch der Perfektionismus des Direktors – »Zuerst kommen bei ihm immer die Schüler, uns Lehrern gibt er schon mal ein Protokoll mit drei Tippfehlern zurück.« Zu guter Letzt: die Eltern. Die Geografie-Lehrerin Birgit Giesen-Graf erzählt: »Die Klagewut nimmt überhand. Eine Mutter drohte mit einem Prozess, weil ich ihrem Sohn nur eine Drei gab. Im Grunde müsste ich mir bei jeder mündlichen Note Fragen und Antworten notieren, um im Zweifel vor Gericht gewappnet zu sein. Und nach Verweisen für ihre Kinder reagieren immer mehr Eltern gleichgültig. Der pädagogische Schulterschluss zwischen Eltern und Lehrern geht verloren.« Der Tenor des Lehrerbefindens: Viele lieben ihre Schulkinder und das Oskar. »Auch der Job ist ja in Ordnung, ein bisschen mehr Anerkennung täte gut.«
Die Kollegen helfen mir beim Erlernen des überlebenswichtigen Lehrer-Lateins: Wo finde ich welches Buch für welches Fach? Nicht morgens fotokopieren, da steht man im Kopierraum Schlange. Keine Ahnung, warum, aber eine DIN-A-3 Kopie kostet die Schule seltsamerweise so viel wie eine DIN-A-4 Kopie, obwohl die ja nur halb so groß ist, deshalb nur große Kopien machen und sie dann auseinanderschneiden; dem Espressoautomaten geht schon dienstags das Pulver aus; im Stehen sieht man in der Klasse mehr als im Sitzen; ein Referendar braucht bis zu acht Stunden für die Vorbereitung einer Stunde Unterricht. Für jeden Aushilfslehrer mit bis zu fünf Unterrichtsstunden am Vormittag kann das nur heißen: viel Mut zu riesigen Lücken.
Was die Schüler mir beibringen: Bei der Essensausgabe tunlichst vor dem Mittagsgong erscheinen, sonst steht man ewig. Das Essen ist gut, auch das vom Pausenkiosk, der neue Hausmeister nett. Rauchen auf dem Pausenhof verboten, aber wer das Schulgelände vormittags verlässt, riskiert auch einen Verweis. Strenge Lehrer sind nicht automatisch die unbeliebteren. Das wichtigste Kriterium: »Ahnung muss er haben.« Schüler der Mittelstufe verfluchen Latein, die aus der Oberstufe wollen es nicht missen, »man lernt wirklich logisch denken«. Eine aktuell favorisierte Spickmethode: auf die Wade schreiben. Die beste aber darf ich nicht verraten.
Englisch in der 8e, die unter Kollegen als eine der schwierigsten Klassen der Schule gilt: Wie gehabt, die Mädchen quasseln, die Jungs werfen Papierkügelchen. Irgendwann erbarmt sich ein Schüler aus der ersten Bank und hilft mir, die Sprach-CD an der richtigen Stelle zu starten. In der 8e sind sieben Schüler von 30 versetzungsgefährdet. Einem Jungen droht gar die Realschule. »Das Leben ist wie eine Rolltreppe. Man fällt immer nur nach oben«, sagt er lachend und zeigt Galgenhumor. Sein Banknachbar trägt auch im Unterricht Sonnenbrille, zumindest bei mir. Er steht in drei Fächern auf Fünf, aber wenigstens wehrt er sich: mit sechs Stunden Nachhilfe jede Woche. In einer siebten Klasse schicke ich später zwei Schüler hintereinander auf den Gang. Ich weiß nicht, dass Lehrer das seit Jahren nicht mehr dürfen, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Der Lärmpegel bleibt ohnehin so hoch wie in einem Café und ich werde langsam heiser. Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir in meiner Schulzeit genauso laut waren. Am vierten Tag bin ich jedenfalls schon zur Kapitulation bereit und kurz davor, den Selbstversuch abzubrechen. Ich beschließe, fortan nicht mehr als zwei, drei Stunden am Tag zu übernehmen.
Eine Kollegin empfiehlt Hustenbonbons, ein Kollege erzählt von anderen typischen Lehrerkrankheiten: Bandscheibenvorfall und Bluthochdruck durch den ständigen Lärmpegel in der Klasse, jeden Tag, ein Lehrerleben lang. Auch das Burnout-Syndrom kommt bei Lehrern deutlich häufiger vor als in anderen Berufen, meint die Schulpsychologin Michaela Huber.
Die Meinungen im Lehrerzimmer zur 8e: »Die Klasse wurde aus zweien zusammengelegt, jetzt steht da High Society gegen Mittelklasse.« Ein Schüler hat eine ärztlich attestierte Verhaltensstörung. Fünf, sechs Unruhenester beanspruchen zu viel Aufmerksamkeit, für den Rest bleibt keine Zeit übrig. »Die auffälligen Schüler bestimmen das Tempo, und ab 24, 25 Schülern wird jede Klasse schwierig.« Hinzu kommt: Nach dem Skilager in der sechsten Klasse gelangen die Kinder nach und nach in die Pubertät. Vor allem die siebten, achten und neunten Klassen gelten deswegen als anstrengend. Die Schulpsychologin sagt: »Koedukation kann den Unterricht in diesen Altersklassen erschweren.« Ihre Tochter geht auf eine Mädchenschule.
Außerdem werden die Fünftklässler von Jahr zu Jahr wilder, frecher, unkonzentrierter, selbstbewusster. Das bestätigen sogar die Schlauberger aus der 11b: »Wir hätten uns als Kurze nie getraut, einen aus der Oberstufe von hinten zu schubsen, sondern wären schön mit gesenktem Blick vorbeigeschlichen.«
Herbert Rogger, der Geschichtslehrer der 11b, wird oft als Lieblingslehrer genannt. Selbst Rogger sagt, ihm fehlten inzwischen die Nerven für die unteren Klassen. Er freut sich, dass seine Abiturienten gerade so gut abgeschnitten haben. Er freut sich, wenn er von ehemaligen Schülern hört oder wenn er nach Jahren auch bei schwierigen Schülern einen gewissen Erziehungserfolg feststellen kann. Er freut sich auf seinen nächsten Leistungskurs Geschichte, mit den Schlaubergern aus der 11b. Aber durch die G8-Reform werden die Leistungskurse bald abgeschafft, Rogger will dann möglichst schnell in Pension. Selbst ein alter Hase wie er ist manchmal noch schweißgebadet. Wenn Herbert Rogger in die 8e geht, dann haut er bei Bedarf sogar mit der flachen Hand auf den Tisch und brüllt: »Ruhe!«
Die Meinung der 8e zu ihren Lehrern: »Die wollen uns nicht mal zur Wanderwoche lassen.« – »Bei den guten Lehrern sind wir doch ruhig.«
Deutschunterricht in einer siebten Klasse. Die Klassleiterin Sabine Behrendt empfahl: »Ernennen Sie einen Sekretär, der eine Strichliste führt. Wer zweimal schwätzt, bekommt eine kleine Zusatzhausaufgabe.« Zur Methode Behrendt gehört auch Kuchenbacken: Wenn ihre Schüler große Angst vor einer Schulaufgabe haben, bringt die Lehrerin ihnen ihre legendären Schokomuffins mit.
Als ich das Klassenzimmer betrete, steht Behrendts Klasse geschlossen auf und begrüßt mich mit Namen. Ein Mädchen stellt unaufgefordert ein Namensschild vor sich auf. Zehn Schüler wollen die Strichliste führen. Unterrichtsstoff: Schilderung. Sie schreiben den Anfang einer ausgedachten Geschichte. Alle machen mit. Am Ende des Unterrichts kommt ein Schüler zum Pult und fragt, ob ich noch mal komme, er fand den Unterricht so gut. In einer fünften Klasse bekomme ich Applaus. Auf der Straße werde ich plötzlich von Kindern gegrüßt, die ich selbst nicht erkenne. Kollegen laden mich zum Mittagessen ein. Neugierige Schüler erkundigen sich nach meinem normalen Job. Schön kann der Beruf eines Lehrers also auch sein. Wäre nur nicht der Espressoautomat ständig leer.
In einer neunten Klasse gebe ich meine erste Note: eine Eins für ein Referat über die Weltwirtschaftskrise 1929. Keine Ahnung, ob die Referendarin, die ich vertrete, meine Note letztlich anerkennen darf.
In einer siebten Klasse erzählt mir ein Schüler, dass er gerade im Krankenhaus war. Ein Mitschüler schubste ihn nach einem Streit im Sportumkleidezimmer an die Wand, er wurde ohnmächtig. »Hat der sich wenigstens bei dir entschuldigt?« – »Nein, er glaubt, er sei im Recht, weil ich ihn zuvor mit einem schlimmen Wort beschimpft habe. Jetzt muss er vor den Disziplinarausschuss.«
Im letzten Schuljahr ist vom Oskar-von-Miller-Gymnasium gerade mal ein Schüler geflogen: weil er jemanden mit einem Messer bedroht hatte. Im Lehrerzimmer hängt zwei Tage später das Urteil des jüngsten Disziplinarausschusses: keine Entlassung, der Schubser muss jeden Tag den Pausenhof aufräumen und darf sich den Rest des Jahres nur getrennt von seinen Mitschülern für den Sportunterricht umziehen.
Der Vater des Täters habe seinen Sohn gedrängt, seine Schuld zuzugeben, höre ich später, das Opfer seine Mitschuld eingestanden und auch das schlimme Wort verraten: Hurensohn. Der Vertreter des Elternbeirats habe auf Schulausschluss des Täters plädiert, der Direktor sich um Milde bemüht, ebenso die Mutter des Opfers. Anscheinend eine umsichtige Entscheidung und keine Demonstration von Härte.
Geografie, mal wieder in der 8e: Die Ladys giggeln wieder, der Junge aus der letzten Reihe ist abermals nicht ansprechbar, doch der Schüler mit der Sonnenbrille schwätzt nicht mehr: Sein Kumpel hat Unterrichtsausschluss bekommen: eine Woche, wegen diverser vergessener Hausaufgaben, mehrmaligen unentschuldigten Zuspätkommens sowie Störens des Unterrichts. Nach der Stunde treffe ich vor dem Lehrerzimmer den Direktor. »Ich bin vorhin zufällig bei der 8e vorbeigegangen, als Sie Stunde hielten. War ja völlig ruhig«, sagt Schwartze anerkennend.
Deutsch in einer neunten Klasse. Die Lehrerin hat in der Stunde zuvor die Schulaufgabe zurückgegeben. Thema: Texterschließung, eine Sechs musste sie geben. 14 von 21 Schülern der 9d sind versetzungsgefährdet, sieben bereits einmal durchgefallen. Nette, aufgeweckte, schlau wirkende Schüler, die sich als Lost Generation des Gymnasiums begreifen: der letzte Jahrgang mit neun Jahren bis zum Abitur; wer durchfällt, muss sogar für die nachfolgende Klasse Stoff nachholen oder runter auf die Realschule. »Die G8-Reform prügeln die auf Kosten der neunten Klassen durch.«
Ist die Schule heute schwieriger geworden? Im Lateinunterricht wird in höheren Klassen inzwischen darauf verzichtet, aus dem Deutschen zu übersetzen. In Lateinschulaufgaben werden auch Fragen zum historischen Zusammenhang gestellt. Mein alter Physiklehrer Hermann Demmer meint: »Weil die Abiturientenquote erhöht werden sollte, wurden sukzessive in einigen Fächern Anforderungen zurückgenommen. Auch in der Mathematik. Trotzdem haben es die Schüler heute schwerer: Kinder werden heute mit mehr Problemen aus der Erwachsenenwelt geradezu belästigt. Die Schule wird heute von der Gesellschaft nicht mehr in Ruhe gelassen. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und plärrt herein. Man sollte Biologen, Mediziner, Kinderpsychologen, Lernforscher hören, wie in der heutigen Zeit Wissenserwerb organisiert werden muss.«
Betriebssport am Oskar: Volleyball jeden Mittwochabend, eineinhalb Stunden, um den Kontakt zwischen ständig wechselnden Referendaren und Lehrern zu erleichtern. Danach trinkt man gemütlich Pils im Lehrerumkleidezimmer beim Warten vor der Dusche. Ein Lehrer sagt zur Klasse 9d: »Wer sich nicht durchbeißen und auch mal stupide Vokabeln pauken kann, hat auf dem Gymnasium nichts verloren.« Ein Referendar erzählt, dass Nachhilfe nur in den seltensten Fällen Erfolg verspricht: »Aber viele Eltern zahlen lieber 60 Euro die Stunde, anstatt die Hausaufgaben zu kontrollieren und ihre Kinder so zu selbstständigem Arbeiten zu erziehen.« Ein Vater erzählte einem Lehrer in der Sprechstunde: »Wie soll ich die Hausaufgaben meiner Tochter kontrollieren, wenn ich ihr Zimmer nicht mehr betreten darf?« Eine Mutter bedankte sich beim Lehrer dafür, dass er den Sohn endlich durchfallen ließ: »Das hat er gebraucht.« Viele Eltern bürden den Lehrern die Erziehung ihrer Kinder auf.
In der Stadt erreicht man Übertrittsquoten von der Volksschule auf das Gymnasium von teilweise 80 Prozent. Der Druck auf die Lehrer steigt. Der auf die Schüler auch. Das Niveau ist zwangsläufig schwer zu halten. Auch wegen Aushilfslehrern wie mir.
Niemand in der Runde weiß einen Ausweg. Dennoch denkt keiner ans Aufhören.